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VESPRO DELLA BEATE VIRGINE
(Claudio Monteverdi)
Besuch am
31. Dezember 2023
(Einmalige Aufführung)
Es ist wohl niemandem zu verdenken, wenn ihm in diesem Jahr nicht nach einer rauschenden Silvesterparty oder einer lustigen Operette am Silvesterabend zumute ist. Das Quirinusmünster in Neuss bietet eine Alternative, wenn auch eine 413 Jahre alte. Die Rede ist von Claudio Monteverdis Vespro della beata vergine, also der Marienvesper. Warum eigentlich nicht mal den gepolsterten Theaterstuhl gegen die harte, unbequeme Kirchenbank tauschen und auf die Alkoholversorgung in der Pause im überheizten Foyer verzichten, um in der unterkühlten Kirche lieber eine Jacke zusätzlich anzuziehen? Musikalisch hat so ein Abendgebet mindestens ebenso viel zu bieten, Tiefgang gibt es noch dazu. Und der Empfang ist allemal freundlicher. Denn der Platz vor dem Quirinusmünster ist an diesem Abend den Konzertbesuchern vorbehalten, die mit dem Auto anreisen. Kostenfrei. In der Kirche wartet eine ganze Gruppe von Menschen darauf, die Besucher zu empfangen, mit dem Programmheft zu versorgen und darauf zu achten, dass jeder auf den richtigen Platz findet. Ja, hier fühlt man sich willkommen.
Elisa Rabanus – Foto © O-Ton
Während noch Zeit ist, die Anmerkungen von Wilhelm Schepping im Programmheft zumindest zu überfliegen, herrscht im Altarraum schon emsiges Treiben, das mindestens so spannend ist wie die musikwissenschaftlichen Ausführungen. Das Werk Monteverdis ist in zweierlei Hinsicht auch für den Laien interessant. Es fällt kompositorisch in den Wechsel oder die Weiterentwicklung von der kontrapunktischen Vokalpolyphonie zu einem konzertierenden Stil. Und dann gibt es da noch die Anekdote, dass es Monteverdi weniger um die Liturgie ging als darum, Papst Paul V mit einer „klingenden Bewerbungsmappe“ dazu zu bewegen, ihm ein Kirchenamt aufzutragen. So interpretierte der Komponist das Abendgebet auch mehr als Rahmenprogramm, in das er seine musikalischen Künste einbauen konnte. Es steht also nicht zu befürchten, dass es beim monotonen Singsang von Psalmen bleiben wird.
Geleitet wird das Konzert von Joachim Neugart. Er ist seit 1988 Münsterkantor und damit nicht nur für die Leitung der Chöre sowie die Orgelmusik in Liturgie und Konzert zuständig, sondern kennt vor allem die akustischen Möglichkeiten des Sakralbaus in- und auswendig. Pünktlich versammelt sich der rund 40-köpfige Kammerchor Capella Quirina Neuss am Aufgang zum Altarraum. Vor dem Chor nimmt das 12-köpfige Johann-Rosenmüller-Ensemble mit seinen historischen Instrumenten Platz. Und schon jetzt ungewöhnlich: Hinter dem Chor stellen sich die Solisten auf. Dass hier kein Stein auf dem anderen bleiben wird, ahnen unter den Besuchern wohl nur die, die die Arbeit Neugarts kennen. Mit der Einleitung, dem Responsorium, und dem Psalm 109 geht es in gewohnter Weise in einen Chorabend alter Musik. Der Wechselgesang, währenddessen die Besucher auch die Solisten kennenlernen, sofern sie nicht schon längst bekannt sind. Der personelle Aufwand ist eindrucksvoll. Die Soprane Elisa Rabanus und Dorothea Jakobs, Altistin Angela Froemer, gleich drei Tenöre in Gestalt von Leonhard Reso, Gustavo Martin Sánchez und Bruno Michalke haben neben den Bässen Achim Hoffmann und Sebastian Klein kaum Gelegenheit, ruhig auf dem Bänkchen zu sitzen, bis ihr Auftritt an der Reihe ist. Reso hat es da mit seinem Solo noch vergleichsweise einfach, weil er vor Chor und Orchester tritt, um wahre Poesie zu verkünden. „Schon ist der Winter vergangen, der Regen hat sich ganz verzogen, Blumen sind in unserem Land erschienen. Die Zeit ist da, die Reben zu beschneiden“, erfahren die Hörer in lateinischer Sprache und verfolgen aufmerksam die deutsche Übersetzung in ihren Programmheften. Ständige Stellungswechsel folgen, die oft nur unbewusst wahrnehmbare akustische Wirkungen hervorrufen.
Joachim Neugart – Foto © O-Ton
Deutlicher wird es schon, wenn drei Sänger auf die Empore über dem Altarraum steigen, sicher nicht nur einer der akustischen Höhepunkte des Abends. Ähnlich erhaben die Wirkung, wenn Yamato Hasumi sich mit seiner Chitarrone und Rabanus am hinteren Ende des Altarraums zu einem musikalischen Stelldichein trifft. Großartig auch die Begleitung von Harfenistin Johanna Seitz, die mit zarten Klängen die Solo-Gesänge mitunter kaum hörbar unterstreicht. Das hat schon eine durchaus suggestive Wirkung. Wenn Monteverdi seine ganze Stilvielfalt in seiner Bewerbung unterbringen will, gelingt ihm das auch im Chor, der durchaus höheren Ansprüchen genügen muss, um die Psalmen abwechslungsreich zu gestalten. Ein weiterer wunderbarer Effekt entsteht, wenn Sánchez sein Concerto vorträgt, während ihm Reso als Echo unsichtbar folgt. Schon bekannt ist, dass auch der Chor keine Statik kennt, Neugart ihn schon mal auf die Seitenschiffe verteilt, um auch hier noch einmal wunderbare Effekte zu erzielen.
Zur Sonate braucht es Gelassenheit, die die Akteure bewundernswert aufbringen, um nicht nur Umbau, sondern auch das große Umstimmen der Instrumente aufzuwenden, damit anschließend geradezu jahrmärktliche Ausgelassenheit im Kirchenraum erklingt, die übergangslos in den Hymnus wechselt.
Wie es sich gehört, gerät das Magnificat zum großen Finale, auf das nach dem Amen das so notwendige Innehalten erfolgt, ehe das Publikum in brausenden Applaus ausbricht. Neugart lässt es sich nicht nehmen, Solisten und Musiker an Zinken, Violinen, Posaunen, Harfe und Orgel mit Handschlag zu bedanken. Ob es das wirklich braucht, sei dahingestellt, an diesem Abend wirkt es als dankbare Geste allemal.
Fast schon ein Musiktheater kann diese Vesper das Publikum mindestens so fesseln, wie in anderen Häusern aufwändige Kostüme und Bühnenbilder notwendig sind. Nur das Gefühl auf dem Heimweg geht tiefer. Um zu erfahren, welche akustischen Reize Neugart „seiner“ Kirche noch entlocken kann, sollte man sich unbedingt den 17. März vormerken, denn dann steht nicht weniger als die Matthäus-Passion auf dem Programm. Und dann interessieren sich vielleicht auch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten dafür, die am heutigen Abend eine wunderbare Aufnahme verpasst haben.
Michael S. Zerban