O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Lerche im amerikanischen Frühling

MAGIE DES TANZES
(Diverse Komponisten)

Besuch am
3. Juli 2021
(Premiere)

 

Deutsche Kammerakademie Neuss, Stadthalle Neuss

Wer schlau ist, bleibt auch in diesen Sommerferien einfach noch mal zu Hause. Nein, nicht weil die Medien schon wieder neue Ängste vor einer Virusvariante schüren, sondern weil ein Virus sich nur dann ausbreiten kann, wenn es Menschen gibt, die es mitreisen lassen. Derzeit zu reisen, ist ein Va-banque-Spiel, wenn man nicht zwei Mal geimpft ist oder nach seiner Reise schon mal zwei Wochen Heimaufenthalt eingeplant hat. Wer in Neuss oder Umgebung wohnt, verpasst ohnehin vermutlich die beste Zeit des Jahres in der Heimatstadt. Das Shakespeare-Festival ist gerade zu Ende gegangen, der Kulturgarten hat schon begonnen, im nahe gelegenen Düsseldorf pulsiert derzeit das Asphalt-Festival – und ganz nebenbei lockt auch die Deutsche Kammerakademie Neuss mit neuen Konzerten. Hier kann man also Kultur in allen Facetten erleben. Ganz zu schweigen davon, dass man so den lokalen Handel und die Gastronomie unterstützen kann.

Und das Konzert, das die Kammerakademie an diesem Samstag anbietet, hat wirklich das Zeug, auch von jungen Menschen angenommen zu werden. Denn Isabelle van Keulen hat als Künstlerische Leiterin ein Programm zusammengestellt, das fernab des üblichen Repertoires liegt. Zudem ist das Wetter gerade mal überhaupt nicht geeignet, an einen Grillabend zu denken. Immer wieder verderben kurze Regenschauer den ungetrübten Aufenthalt im Freien.

In der Stadthalle Neuss ist inzwischen längst so etwas wie Routine eingekehrt. Die Besucher werden am Eingang überaus freundlich empfangen, zeigen ihre Tests vor, füllen geduldig ihre Herkunftsnachweise aus, also ob es kein Luca gäbe, ehe sie sich mit Masken im Gesicht auf ihre Plätze im Saal begeben. Die bundesweite Inzidenz liegt bei fünf, der Virus ist in der Sommerpause. Trotzdem: Ein bisschen Panik ist besser als hinterher erklären zu müssen, warum aus einem Konzert eine Karnevalsveranstaltung wurde. Also bleiben die Masken während des Konzerts auf Mund und Nase. Bei vielen zumindest. Tatsächlich schafft es der Mensch nicht, in etwas mehr als einer Stunde einen solch großen Raum mit Aerosolen zu füllen. Aber als Kultur-Veranstalter hinterfragt man in diesen Zeiten nicht die Anordnungen der Ordnungsbehörden, sondern ist froh, wenn man die Auftrittsgenehmigung bekommt.

Der Raum ist standardisiert. Bestuhlung auf Abstand: gleich. Beleuchtung: gleich. Für Fantasie fehlen einfach die Kräfte. Also müssen die Inhalte es richten. In der Neusser Stadthalle gelingt das ohne Schwierigkeiten. Schließlich haben die 34 Musiker sich intensiv vorbereitet. Derart intensiv, dass sie gar die ursprünglich geplante Programmfolge geändert haben. Und so rutscht die Pulcinella-Suite nach Giovanni Battista Pergolesi von Igor Strawinsky in der revidierten Version von 1949 auf den ersten Platz. Ein wunderbares Stück in prächtigen Klangfarben, dass die Bläser sich zu Recht gewünscht haben. Strawinsky komponierte seine Ballettmusik direkt in die Partitur Pergolesis hinein, gerade so, als korrigiere er ein eigenes älteres Stück. Eine gelungene Idee, die das Orchester fabelhaft umsetzt. Aus acht Sätzen besteht die Suite. Damit gibt es genügend Gelegenheit, tänzerische Vielfalt in ungezählten Facetten umzusetzen.

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Nach dieser belebenden Erfrischung in einer Mischung unter anderem aus Tarantella, Toccata, Gavotte und Menuett geht es in die Naturbetrachtung. Ralph Vaughan Williams gehört zu den bedeutendsten spätromantischen Komponisten Großbritanniens – und zu den selten gespielten Komponisten im deutschen Konzert-Repertoire; wir haben schließlich Bach, Beethoven, Schumann und Mendelssohn Bartholdy. Van Keulen interessiert das nicht. Sie vertieft sich ganz wunderbar in die Feinheiten der aufsteigenden Lerche – The Lark Ascending heißt das Stück im Original. Da kann der Hörer zur Ruhe kommen, der Vogelstimme lauschen und die feinen Pianissimi genießen, die serviert werden.

Vom Vereinigten Königreich geht es nach Amerika, wo Aaron Copland zu Ruhm und Ehren gelangte. Auch er blieb der tonalen Musik fest verhaftet und prägte einen Musikstil aus Jazz-Elementen, Folklore und Kirchenliedern, der ihm den Ruf einbrachte, echte „amerikanische Musik“ zu komponieren. „Ich fühlte, dass sich der Versuch lohnen würde, das, was ich zu sagen hatte, in möglichst einfachen Begriffen zu sagen“, hat Copland über seinen Erfolg geäußert. Mit seiner Ballettmusik Appalachian Spring bringt die Kammerakademie einen amerikanischen Klassiker auf die Bühne. Die Besonderheit: Es kommt nicht die sinfonische Fassung zu Gehör, die Copland für die Konzertsäle schrieb, sondern die Originalbesetzung des Balletts für Kammerorchester. „Diese Fassung ist viel feiner im Klang und demonstriert Coplands Liebe zum Detail“, befindet Matthias Corvin, der einmal mehr für das hochinformative Programmheft zuständig ist. „Wie ein Gebet“ soll das Stück enden, worauf sich die Musiker der Kammerakademie glücklicherweise nicht einlassen, sondern die Virtuosität in den Vordergrund stellen.

Ein grandioser Abend geht in einer vernünftigen Zeit zu Ende. Der Mut, endlich einmal aus dem gewohnten Repertoire auszubrechen, wird belohnt. Konzertmanager Martin Jakubeit steht am Auslass Spalier und empfängt die Gratulationen des Publikums, das sich über „ungewöhnliche Klangbilder“ und eine „frische Musik“ freut. Und wenn man ihn das so stehen sieht, fragt man sich einen Augenblick, warum eigentlich Isabelle van Keulen nicht hier ist. Wer sich was traut, braucht am Ende nicht zu kneifen.

In der kommenden Woche tritt die Kammerakademie dann auch mit einem weiteren ungewöhnlichen Programm im Kulturgarten auf. Dann ohne Test, aber mit Maskenpflicht vom Eingang bis zum Platz – Entfernung zirka zehn bis vierzehn Meter. Einverstanden, bei so viel Gängelei schadet vielleicht doch ein Urlaub im liberalen Ausland nicht. Mündige Bürger bleiben vermutlich gerade trotzdem zu Hause und freuen sich über das kulturelle Engagement ihrer Heimatstadt, das sich der Bürokratie der Ordnungsbehörden entgegenstellt.

Michael S. Zerban