O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Marco Piecuch

Aktuelle Aufführungen

Gegen alle Schwierigkeiten

LICHTER DER GROßSTADT
(Charlie Chaplin)

Besuch am
27. April 2022
(Premiere)

 

Rheinisches Landestheater Neuss, Großer Saal

Es war vermutlich der größte Umbruch seit der Erfindung des Films, als 1927 mit Alan Croslands Musicalfilm The Jazz Singer der erste Tonfilm in die Kinos kam. So richtig ernst wollten die Produktionsfirmen die „Sprechfilme“ nicht nehmen, und so arbeitet Charlie Chaplin von 1928 bis 1931 an seinem Stummfilm City Lights, als sei nichts geschehen. Na ja, nicht so ganz. Es wird sein erster Film, zu dem er auch eine Tonspur produziert – für die Musik. Und es wird der größte Erfolg seiner Karriere. Auch hier steht seine Erfolgsfigur, der Tramp, wieder im Mittelpunkt.

Intendantin Caroline Stolz und Antonia Schirrmeister haben gemeinsam den Film Lichter der Großstadt, wie der deutsche Titel lautet, für die Bühne adaptiert und inszeniert. Der Tramp verliebt sich in ein Blumenmädchen, das aus ärmlichen Verhältnissen stammt. Kurz darauf bewahrt er einen Millionär vor dem Suizid. Dann beschäftigt sich der Tramp damit, Geld aufzutreiben, um dem Blumenmädchen eine Operation zu ermöglichen. „Natürlich“ geht alles schief. Schließlich springt der Millionär ein und schenkt dem Tramp das Geld. Das Blumenmädchen erlangt sein Augenlicht und eröffnet einen Blumenladen. Es gibt ein Happy End. Das darf hier verraten werden, weil der Schluss eher unwichtig ist. Und das ist eigentlich schon das schönste Kompliment, was man diesem Abend machen kann. Im Rheinischen Landestheater Neuss gibt es Theater vom Feinsten. Fantasievoll, lustig und höchst musikalisch.

Engelbert Rieksmeier und Jonas Henke haben eine eindrucksvolle Bühne entwickelt. Die Spielfläche in der Mitte ist verschneit, eine einzelne, altertümliche Laterne dient als Anspielstation. Im Hintergrund gibt es einen Graben, hinter dem eine Projektionsfläche für Zitate eingerichtet ist, die im Stil der Stummfilme gelegentlich, aber äußerst sparsam eingeblendet werden. Rechts von der Spielfläche sind geheimnisvolle Hebel angebracht, die von Bühnenarbeitern bedient werden, ohne dass immer so recht klar wird, was eigentlich damit bewirkt wird. Deutlich wird aber die Wirkung der ebenfalls dort aufgestellten Windmaschine. Weiter rechts ist die Bühnenmaschinerie sichtbar, an der ein Bühnenarbeiter dafür sorgt, dass es während der Aufführung immer wieder ordentlich schneit. Links ist in der äußersten vorderen Ecke ein Flügel aufgestellt. Der Spielraum wird nach vorn erweitert, indem der Graben vor der Bühne als gedachte Wasserfläche dient.

Großartige Kostüme hat Alide Büld entworfen. Da fühlt man sich tatsächlich in den Film versetzt. Blickfang des Abends aber sind die überlebensgroßen Pappmaché-Masken, die gleich eine ganze Abteilung unter Anleitung von Sarah Wissner angefertigt hat. Zementköpfe als sozialkritischer Blick auf die Gesellschaft, die hier ausschließlich aus Männerköpfen besteht. Na ja. Aber immerhin schinden sie mächtig Eindruck und sorgen für eindrucksvolle Bühnenbilder.

Chaplin hatte bei der Entstehung des Films mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Tod seiner Mutter sorgte für eine Unterbrechung der Dreharbeiten für mehrere Wochen. Er überwarf sich zwischenzeitlich mit Virginia Cherrill, die ihm als Blumenmädchen nicht so recht gefiel. Henry Clive weigerte sich, als Millionär in das eiskalte Wasser zu springen. Aber der Regisseur sorgte gegen alle Widerstände, die tatsächlich zumeist in seiner Person begründet waren, für die Fertigstellung des Films. Das Rheinische Landestheater Neuss hat jetzt mit ganz anderen Dingen zu kämpfen, die derzeit allerdings eher zum Theateralltag gehören. Bereits mehrfach musste die Premiere aus Krankheitsgründen verschoben werden. Schirrmeister ist Vollblutschauspielerin, und so springt sie in letzter Minute für den erkrankten Niklas Maienschein ein und übernimmt die Rolle des Millionärs. Dass sie als Regisseurin die Rolle kennt, ist klar, aber das kann die großartige Leistung an diesem Abend nicht schmälern. Auch im Team der Fightolics Amarit, einem Kampfsportverein aus Neuss, das als Maskenträger, Chor und für die Kampfchoreografie ihres Leiters Erol Lukovic dient, gibt es noch einen überraschenden Ausfall, der durch den Einsatz des Regieassistenten Markus Wegner kompensiert werden kann. Hier ist also wirklich alles mit heißester Nadel gestrickt, aber es funktioniert wunderbar. Gratulation an ein unschlagbares Team!

Sicher nicht mehr funktioniert hätte es, wenn Johannes Bauer ausgefallen wäre. Denn der spielt den Tramp. Sein Kostüm ist ein Traum. Die Schuhe in gefühlter Größe 54, herrlich, sehen zwar aus wie frisch gekauft, aber das macht nichts. Die Maske hat hervorragende Arbeit geleistet. Bauer ist kein Imitat von Chaplin, sondern stellt seinen eigenen Tramp dar, und das gelingt ihm ganz köstlich. Anna Lisa Grebe gibt mit dem Blumenmädchen eine weitere Paraderolle und setzt mit dem einzigen farbigen Kostüm als Blumenladenbesitzerin dem Abend noch einmal einen ganz besonderen Glanz auf.

Hajo Wiesemann und Christoph König haben nicht einfach die Filmmusik übernommen, sondern den Abend mit mitreißender Musik durchkomponiert. Bedauerlich, dass auch Wiesemann nicht an der Premiere teilnehmen kann, sondern von der Pianistin Laia Genc vertreten werden muss, was für das Publikum allerdings nicht die geringste Einbuße bedeutet. König beweist überdies genügend Souveränität, seinen Part an der Geige nicht nur auswendig zu spielen, sondern auch noch ins Bühnengeschehen einzugreifen.

Mit diesem Abend hat das Rheinische Landestheater Neuss bewiesen, dass es nicht nur kleinere Katastrophen im Griff hat, sondern auch ganz wunderbares Theater zeigen kann. Eine glanzvolle Produktion, die hoffentlich noch deutlich mehr Zuschauer anziehen kann als an diesem Abend. Das Publikum jedenfalls feiert alle Beteiligten mit großem Applaus im Stehen.

Michael S. Zerban