O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Respektvolles Publikum

KLASSIK-LOUNGE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
11. Dezember 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Bazzar-Kaffeerösterei Neuss

Nein, hierher verirrt sich der Konzertbesucher des klassischen Konzerts eher nicht. 2014 entstand im Neusser Hafengebiet nach der Sanierung einer ehemaligen Keramikfabrik die Bazzar-Kaffeerösterei. Eigentlich nur wenige Meter vom Atelierhaus entfernt, in dem die Deutsche Kammerakademie Neuss ihre Probenräume hat, und doch ziemlich versteckt gelegen, entdeckte Martin Jakubeit, Orchestermanager der Kammerakademie, irgendwann das Gebäude mit seinem rauen Industrie-Charme. Seither wusste er, dass hier auch seine jungen Streicher einmal auftreten müssen. Aber es sollte noch viel Zeit vergehen, bis die nötigen Kontakte hergestellt waren und die Idee Formen annahm.

Jetzt endlich laden Kaffeerösterei und das Orchester unter dem Motto dkn/Neuss geht aus zu einer Klassik-Lounge ein – was auch immer das sein mag. Die Halle, die auch als „Event-Location“ genutzt wird, präsentiert sich in einer Mischung aus Betrieb, Bar und gemütlich-rustikalem Aufenthaltsort. Auf der rechten Seite sind Lager, Silos und all die Dinge untergebracht, die man so für die Kaffeerösterei braucht. Links und hinterrücks gibt es einen Balkon mit Sitzgelegenheiten und einer kleinen Bar. Unter dem Balkon ist links eine größere Bar untergebracht. Am Kopfende stehen die beiden Röstmaschinen der Marke Probat in Trommelform mit dem Kühlteller und dem Entsteiner. Eine prachtvolle Kulisse für die gleich folgenden Ereignisse. In der Mitte des Raumes sind zahlreiche Sitzgelegenheiten auf Teppichen aufgestellt. So finden an diesem Abend 130 Menschen Platz in einem Raum, der bis zu 500 Personen fassen darf. Aber die Sicherheit geht vor, haben die Veranstalter entschieden. Die Zahl ist gut gewählt. So wirkt die Halle belebt, ohne dass die Zuschauer sich beengt fühlen müssten.

Javad Javadzade – Foto © O-Ton

Das Programm des Abends wirft eine Menge Fragen auf, die für zukünftige Veranstaltungen zu lösen sein werden. Die hat Jakubeit nämlich schon fest im Blick. Prinzipiell klingt erst mal alles ganz schlüssig. DJ Nek Tarios legt ein bisschen zur Einstimmung auf. Dann spielt das Orchester drei Stücke. Anschließend noch ein bisschen Musik von der Festplatte, ehe zwei Solisten der Kammerakademie aufspielen. Der HipHop-Live-Act von Rapper Fillie Granata, einer lokalen Größe, die vor drei Jahren mit dem Neusser Rock- und Pop-Förderpreis ausgezeichnet wurde, schließt den Abend ab.

Unter der Leitung von Andreas Mehne spielt das Orchester mit dem ersten Satz von Mozarts Divertimento in D-Dur auf. Das Spiel der Musiker, die in üblicher Konzertgarderobe auftreten, steht außerhalb jeder Kritik. Hier gibt es Musik vom Feinsten. Die Akustik der Halle hat sicher ihre Grenzen, auf die man achten muss, aber für das Programm reicht es. Bei Edward Elgars Serenade für Streicher in e-moll zeigt sich, dass das Stammpublikum der Kammerakademie eher die Minderheit stellt. Begeistert wird zwischen den Sätzen geklatscht. In den anschließenden Variationen über ein Thema von Tschaikowsky von Anton Arensky greift Mehne durch, damit ihm über dem Applaus nicht die Zeit verfliegt. Insgesamt bis hierhin ein nettes Programm, das niemanden überfordert. Gemessen am Ambiente der Halle wäre allerdings ein „kräftigerer Schluck aus der Pulle“ nicht schlimm gewesen. Die Kombination mit dem Programm des DJs erweist sich als Flop. Die Musik von der Festplatte wird als Pauseneinspieler wahrgenommen, zumal der Techniker in der Zeit auch noch den ersten Solo-Auftritt der Kammerakademie vorbereitet.

Fillie Granata – Foto © O-Ton

Dann allerdings geht es in die umgekehrte Richtung. Mit den Synchronisms für Kontrabass und Tape von Mario Davidovsky bringt Javad Javadzade das Publikum in arge Verständnisschwierigkeiten, zumal auch die „Tape“-Einspielung zunächst nicht funktioniert. Immerhin aber wird die Virtuosität von Javadzade ansatzweise wahrgenommen. Höflicher und respektvoller Applaus, ehe der zweite Solo-Auftritt erfolgt. Georg Sarkisjan spielt den ersten Satz aus der Sonate für Violine solo von Paul Hindemith und – nach ein paar Worten über die Begeisterung der beiden Komponisten für die Eisenbahn – den ersten Satz aus Arthur Honeggers Sonate für Violine solo. Da kann man jetzt sicher lange darüber diskutieren, ob das für ein ohnehin klassikfernes Publikum das Programm ist, um es zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema zu motivieren. Aber die Zeit bleibt nicht, denn jetzt gibt es den Auftritt von Fillie Granata. Und es zeigt sich, dass sich das Publikum bislang sehr respektvoll gegenüber „den Fremden“ verhalten hat und nun endlich beim „wichtigen“ Teil des Abends angekommen ist. Dabei muss die Frage erlaubt sein, warum eigentlich die Kammerakademie hier wie ein Fremdkörper auftritt und sich nicht in einem gemeinsamen Auftritt mit beispielsweise dem Rapper oder dem DJ zeigt. Ist da so wenig Kreativität möglich?

Nein, der Abend ist kein Fiasko, auch wenn die Kammerakademie hier zum ersten Mal in einem vollkommen fremden Umfeld aufgetreten ist und eher der Eindruck einer Parallelwelt entsteht. Es ist ein großartiger Abend, weil die Streicher das Experiment wagen. Weil der Ort gut gewählt ist. Weil sich möglicherweise von hier aus noch eine ganze Menge entwickeln kann. Gibt es eigentlich schon einen Rap mit Streicherbegleitung?

Michael S. Zerban