Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
FLORIAN HÖLSCHER
(Diverse Komponisten)
Besuch am
3. Oktober 2021
(Einmalige Aufführung)
Inselfestival, Raketenstation Hombroich, Veranstaltungshalle, Neuss
Das Inselfestival auf der Raketenstation Hombroich hat sich in den vergangenen drei Tagen vom Feinsten präsentiert. Hervorragende Künstler boten ausgefallene Programme in ungewöhnlicher Umgebung. Und das ändert sich auch am letzten Tag nicht. Für den Sonntagnachmittag hat sich Florian Hölscher angekündigt. Der Pianist steht längst außerhalb jeder Kritik. Seit den 1990-er Jahren beschäftigt er sich zunehmend mit der neuen Musik. In diesem Zusammenhang ist er Gründungsmitglied des Stuttgarter Ensembles Ascolta, mit dem er „regelmäßig bei vielen wichtigen Festivals für zeitgenössische Musik auftritt und ein Repertoire von über 300 Ensemblewerken aufgebaut hat“. Und er fördert Komponisten der Gegenwart. Was ihn auch zu seinem Programm für das Inselfestival inspiriert. 2018 spielte er die Erinnerungsspuren von Alberto Posadas ein.
Posadas wurde 1967 im spanischen Valladolid geboren. Dort erhielt er seine erste musikalische Ausbildung, ehe er nach Madrid ging, um Komposition bei Francisco Guerrero zu studieren. Der Komponist konnte mit dem Klavier als „undifferenziertes Instrument“ lange Zeit nichts anfangen. Und so lehnte er es zunächst auch ab, für Hölscher ein Stück zu schreiben. Erst sechs Monate nach der Anfrage Hölschers meldete er sich wieder. Diesmal gleich mit einem ganzen Zyklus für das Klavier, eben den Erinnerungsspuren. Er griff dabei auf Werke von Couperin, Schumann, Stockhausen, Zimmermann, Debussy und Scelsi zurück, ohne die zu zitieren. Vielmehr war sein Wunsch, aus den historischen Werken eine Weiterentwicklung zu exzerpieren, die neue Klangformen bewirkt. Hölschers gute Idee: Eine Auswahl der Werke dem Original gegenüberzustellen. Dazu will er auch noch die Uraufführung eines Werks von Rolf Riehm vorstellen. Ein sehr ambitioniertes Programm, das sich so auch nicht aufrechterhalten lässt.
Florian Hölscher – Foto © O-Ton
Die Aufführung findet in der Veranstaltungshalle statt, ein mit Wellblechen verkleideter Bau, der 1994 von Claudio Silvestrin ausgebaut wurde. Einfach, aber zweckmäßig wie beinahe alle Bauten der Raketenstation Hombroich, und gut genug, um einen Steinway-Flügel auf die Bühne zu schieben. Sogar das Einlasspersonal findet sich an diesem Sonntagnachmittag rechtzeitig ein. Dass es am dritten Tag immer noch nicht wiederkehrende Besucher erkennt und stoisch die Impfnachweise fordert, ist zwar kein Problem, hat aber etwas mit Wertschätzung zu tun.
Hölscher beginnt mit den Anklängen an François Couperin aus den Erinnerungsspuren. In dem 20-minütigen Stück gibt es Läufe, Staccati und zahlreiche Brüche. Nahezu zwanghaft werden hier am präparierten Klavier neue Klänge erzeugt, Effekte, die vielfach wiederholt werden. Laut und heftig tobt sich Hölscher an dem Flügel aus. Eine Liebe zum Instrument ist nicht zu spüren, vielmehr klingt das Stück danach, als wolle Posadas ihm den Krieg erklären. Als der Pianist das Originalstück von Couperin zum Vortrag bringt, überträgt sich das dröhnende, laute Spiel. In den Erinnerungsspuren an La Cathédrale Engloutie von Claude Debussy kommt die Klaviatur nur noch selten zum Einsatz. Hölscher wütet im Bauch des Flügels herum. Das verlangt höchste Präzision, ohne eine wirkliche Einheit zu erreichen. Disharmonien werden versatzweise gegeneinandergestellt. Da muss man schon ein echter Fan neuer Musik sein, um dem noch etwas abgewinnen zu können.
Foto © O-Ton
An vierter Stelle schiebt Hölscher die Uraufführung des Stücks von Rolf Riehm ein. Gestern aber heute 532 – Klangclips und tweets zur brüchigen Gegenwart dauert gerade mal sieben Minuten und klingt so wie sein Titel. Bereits 2018 fertiggestellt, aufgezeichnet und im Radio gesendet, findet das Werk heute zum ersten Mal auf die Bühne. Schrille Explosionen mischen sich mit abgehackten Disharmonien und kakofonischen Tonfolgen. Dass der inzwischen 84-jährige Komponist nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreist, um sich die sieben Minuten anzuhören und sich dafür feiern zu lassen, ist verständlich.
Nach einer kurzen Pause gesteht Hölscher ein, dass das Programm zu umfangreich gewählt wurde. Um es mit anderthalb Stunden zu begrenzen, kürzt er es um zwei Préludes von Claude Debussy. Nach dem auswendig vorgetragenen La Cathédrale Engloutie von Debussy spielt er noch die Erinnerungsspuren von Posadas dazu. Das Publikum ist zu diesem Zeitpunkt erschöpft, aber der Flügel hat wider Erwarten überlebt. Herzlicher Applaus ist dem Pianisten dennoch gewiss. „Hombroich ist ein Experiment, ich sag es Ihnen“, schließt der Vereinsvorsitzende Peter Gloystein den Vortrag mit einem Dank an den Pianisten. Insgesamt hat es in den vergangenen Tagen die Mischung gemacht. Und was Rainer Wiertz in den nächsten Jahren daraus entwickelt, darf das Publikum mit Spannung erwarten.
Michael S. Zerban