Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
ALINDE-QUARTETT
(Diverse Komponisten)
Besuch am
1. Oktober 2021
(Einmalige Aufführung)
Inselfestival, Raketenstation Hombroich, Haus für Musiker, Neuss
Stefan Johannes Hanke steht ziemlich verloren und ratlos auf einem Parkplatz herum. Irgendwo hier soll sein neues Werk uraufgeführt werden. Er ist Komponist, stammt aus Regensburg, hat bei Heinz Winbeck in Würzburg und Manfred Trojahn in Düsseldorf studiert. Das Alinde-Quartett hat Fever Sketches bei ihm in Auftrag gegeben. Die vier Streicher wollen sein Werk heute auf der Raketenstation Hombroich im Haus für Musiker in Neuss zum ersten Mal präsentieren. Aber bislang sieht es eher so aus, als finde hier überhaupt nichts statt. Dabei soll das Konzert in weniger als einer halben Stunde beginnen.
Das Haus für Musiker liegt scheinbar gottverlassen und abweisend in einem mehr als 60 Hektar umfassenden Gelände, das den Kulturraum Hombroich beschreibt. Hier finden sich das Museum Insel Hombroich, das Kirkeby-Feld und die Raketenstation mit dem Haus der Langen-Stiftung. 1987 wurde der Traum des Sammlers Karl-Heinrich Müller mit der Eröffnung des Museums Insel Hombroich wahr, der für seine bedeutende Sammlung von Kunstobjekten aus 2000 Jahren das Motto Kunst parallel zur Natur wählte. Damit begann die Entwicklung eines einzigartigen Kulturraums von internationaler Bedeutung. Hombroich ist Museum, Künstlerstätte und Landschaft, ein Ort für Architektur sowie für Ereignisse der Kunst, Literatur, Philosophie und Musik.
Stefan Johannes Hanke – Foto © O-Ton
Seit 1986 findet hier das Inselfestival alle zwei Jahre zu Pfingsten statt. 2020 änderte sich das. Geplante Aufführungen mussten ausfallen. Deshalb ist die Veranstaltung nun in den Frühherbst dieses Jahres gerutscht, um überhaupt stattfinden zu können. Überdies wurde das Inselfestival auf die Raketenstation Hombroich beschränkt und auf vier Tage verkürzt. Weil sich vor dem Haus für Musiker niemand sonst findet, spaziert Hanke zur Veranstaltungshalle hoch, wo er auf zwei Menschen trifft, die offensichtlich auf denselben Gedanken kamen. Die Veranstaltungshalle liegt verlassen da. Er spricht sie an, aber auch die beiden haben keine anderen Informationen. Zusammen gehen die drei zurück zum Parkplatz, wo sich inzwischen eine Gruppe versammelt hat, die ebenfalls überlegt, was nun zu tun ist. Eine Viertelstunde vor Konzertbeginn öffnen sich dann doch die Tore zum Haus für Musiker. Alles gut.
Das Haus für Musiker ist ein Bau aus Sichtbeton und Stahltoren, in dessen Kern sich ein Kammermusiksaal mit einer ausgezeichneten Akustik befindet. Trotz aller vorherigen Ungewissheiten beginnt Rainer Wiertz um Punkt 17 Uhr mit einer kurzen Begrüßungsansprache. Genau, das ist der Mann, der bis zum vergangenen Jahr für die künstlerische Planung von Shakespeare-Festival, Zeughaus-Konzerten und Tanzwochen der Stadt Neuss zuständig war. Seit 2002 kuratiert er das Inselfestival, so auch beim 18. Mal. Heute kündigt er das Alinde-Quartett an.
Eugenia Ottaviano – Foto © O-Ton
An den Geigen Eugenia Ottaviano und Guglielmo Dandolo Marchesi, an der Bratsche Erin Kirby und Bartolomeo Dandolo Marchesi spielt das Cello. Ein junges Quartett, das allerdings schon eine beachtliche Karriere hinter sich und einen großen Plan vor sich hat. Bis 2008 wollen die vier sämtliche Streichquartette Franz Schuberts eingespielt haben. Die 15 Quartette bilden das Herzstück der Kammermusik Schuberts und prägen seinen kompositorischen Übergang von den klassischen Anfängen zu den späteren romantischen Werken. Und damit erklärt sich auch der Name des Quartetts, der nämlich auf das Lied Alinde des Komponisten zurückführt. Heute ist allerdings kein Tag, diesen Plan voranzutreiben, denn für das Inselfestival haben sie ein ganz eigenes Programm zusammengestellt, das gut 350 Jahre Musikgeschichte umfasst.
Vier Fantasien von Henry Purcell eröffnen die gut einstündige Aufführung. Da kann das sehr überschaubare Publikum gelassen zur Ruhe kommen und sich schon mal einen Eindruck von der Virtuosität der vier Musiker verschaffen, die allerdings bei diesen Stücken noch eher zu erahnen ist. Dann stellt sich Stefan Johannes Hanke den Besuchern vor. Denn das Quartett hat ihn mit einem neuen Stück beauftragt. Fever Sketches hat Hanke das knapp zehnminütige Werk benannt, das er auf die Musiker zugeschnitten hat, erzählt er. Es beginnt eine Berg- und Talfahrt, die es in sich hat und mit einer bombastischen Eröffnung und Anklängen an jazzige Momente punktet. Der Schwierigkeitsgrad ist ansehnlich, wird aber von den Streichern durchweg beherrscht und mit viel Freude und Engagement vorgetragen. Das Publikum ist beeindruckt. Der Gedanke ist flüchtig, wie wohl Felix Mendelssohn Bartholdy auf die Arbeit seines Kollegen reagiert hätte. Vielleicht hätte er ihn erstaunt angesehen und gefragt „Und jetzt?“, weil doch da mindestens noch drei Sätze fehlten. Stattdessen erklingt im Anschluss an das kurze Intermezzo sein Streichquartett Nr. 6 f-moll opus 80. Ein düsteres Werk, das als sein letztes nicht etwa eine Todesahnung vorwegnahm, sondern versuchte, den Tod seiner Schwester Fanny zu verarbeiten. Zwei Monate vor dem eigenen Ableben beendete er das viersätzige Stück, das in den Schweizer Bergen entstand. Mit dem Quartett in „schwarzer Grundfarbe“, wie Mendelssohn Bartholdy es selbst beschrieb, wollen die vier Musiker ihr bis dahin zu Recht begeistertes Publikum aber dann doch nicht entlassen. Und so gibt es als Zugabe einen der Deutschen Tänze Franz Schuberts. Lange und intensiv währt der Applaus im nicht einmal zur Hälfte gefüllten Saal für einen wahrhaft eindrucksvollen, farbenreichen Auftritt.
Michael S. Zerban