Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
AM ENDE DES TAGES
(Olivier Garofalo)
Besuch am
28. April 2022
(Uraufführung am 10. März 2022)
Theaterstücke können noch so gut sein, sich noch so fesselnd mit der Gegenwart befassen – wenn sie zum falschen Zeitpunkt auf die Bühne kommen, haben sie keine Chance auf Erfolg. Heute Abend sind zur Uraufführung von Am Ende des Tages im Studio des Rheinischen Landestheaters Neuss zehn Besucher erschienen. Zur gleichen Zeit bespielt der Kabarettist Bernd Stelter den Großen Saal vor 400 Menschen. Zugegeben, bei oberflächlicher Lesart der Inhaltsangabe sinkt die Laune beträchtlich, sich mit dem Werk, das Hausautor Olivier Garofalo verfasst hat, auseinanderzusetzen. Es klingt wie eine Tagesschau-Ausgabe. Dass Besucher sich tiefergehend mit solchen Texten befassen, dürfen die Theater allerdings auch nicht mehr ernsthaft erwarten, wenn sie glauben, sie müssten ihre potenziellen Besucher mit genderideologischen Texten konfrontieren. Da wird halt beim ersten Sternchen die Lektüre abgebrochen. Das ist verständlich.
In diesem Fall aber bedauerlich. Denn Garofalo betreibt eigentlich ein interessantes Gedankenspiel. Eine junge Frau, die für mehr Barmherzigkeit eintritt, erlangt mit ihren Protestaktionen überregionale Bekanntheit. Aber das Gegenteil des Erwünschten tritt ein. Statt sich zur Barmherzigkeit zu bekennen, erheben sich Bürger, um die Schließung der Grenzen zum Schutz des eigenen „Volkskörpers“ zu fordern. Um sich zu erklären, erklärt die junge Frau sich bereit, an einem Fernsehinterview teilzunehmen, bei dem auch eine Bürgermeisterin und ein Schlachthof-Besitzer zugegen sind. Im Vorfeld des Gesprächs erhitzt sich die Situation in der Bevölkerung weiter, weil es große Überschwemmungen gegeben hat, auf die die Regierung weder vorbereitet war noch tatsächlich effizient helfen konnte. Die Moderatorin scheint ganz eigene Pläne mit dieser Runde zu verfolgen, die sie in ein abgelegenes Landhaus einlädt. Merkwürdigerweise gibt es aber hier in völliger Abgeschiedenheit bei strömendem Regen kein Produktionsteam, das für die Übertragung der Sendung sorgen könnte.
Foto © Marco Piecuch
Tatsächlich ist nachvollziehbar, dass potenzielle Besucher hier Reaktanz zeigen. Monatelang sind die Nachrichten voll von einer „jugendlichen Heilsbringerin“, der es scheinbar gelingt, eine weltweite Bewegung gegen den Klimawandel zu formieren. Gegen den Klimawandel? Da ärgert sich jeder vernünftig denkende Mensch jenseits der Schulbank. Das ist ja in etwa so, als ob man gegen den Wechsel der Jahreszeiten protestieren wolle. Absurde Forderungen sorgen für noch mehr Ärger. Hätten die Jugendlichen mehr Deichbauten, die Entwicklung effizienter Kühlungsanlagen oder Ähnliches verlangt, wären ihnen vermutlich die Älteren mit fliegenden Fahnen gefolgt. Stattdessen wird dem Bürger permanent Verzicht gepredigt. Und das soll man sich auch noch im Theater anschauen? Garofalo erklärt hier nolens volens, warum das Wutbarometer von Menschen permanent steigt, die ständig eingeschränkt werden sollen. In diesem Zusammenhang wird dann nämlich auch die Barmherzigkeit ein zweischneidiges Schwert. Die Spaltung der Gesellschaft ist längst so weit fortgeschritten, dass sich jeder bei einem solchen Begriff inzwischen nicht mehr fragt, wie man das verwirklichen kann, sondern wo hier der Nachteil liegt, der sich im nächsten Schritt gegen einen selbst wendet.
Boris C. Motzki versucht, das Stück so zu inszenieren, dass es der „Tagesschau-Anmutung“ entkommt. Er steckt es in die Klammer eines Chorgesangs, der a cappella zu Beginn und zum Ende der Aufführung von den Akteuren vorgetragen wird. Domani è un altro giorno – Morgen ist ein anderer Tag – hat Giorgio Calabrese für Ornella Vanoni verfasst, die es 1972 zum ersten Mal sang und daraus neben L’apuntamento einen ihrer größten Erfolge machte. In der choralen Fassung entwickelt das Lied noch einmal eine völlig neue Wirkung und fügt sich gut in die Unwissenheit des Stücks ein, was am Ende des Tages gültig ist. Stehen die Darsteller dazu in einer Reihe „an der Rampe“, hat ihnen Miriam Busch dahinter mit Vintage eine schöne Spielfläche gebaut. Teppiche bedecken den Boden, auf dem im Mittelpunkt ein antiker Esstisch aufgebaut ist. Rechts steht ein alter Ohrensessel mit einer Stehlampe. Später wird der zunächst verhängte Hintergrund geöffnet und bietet zusätzliche Sitzgelegenheiten. Zusätzlich gibt es Leuchtelemente, die quer durch den Raum hängen. Dass die Bühne im Laufe der Ereignisse fast vollständig geräumt wird, ist womöglich der plakative Ausdruck dessen, dass das Alte Platz machen für Neues, von dem niemand weiß, was es ein wird. Für die Darsteller hat Busch ziemlich schräge Kostüme gefunden, frei nach dem Motto: Hauptsache Muster. Das Licht setzt Motzki hauptsächlich für Ebenenwechsel ein, wenn er in Einspielungen Musik oder Sprechchöre laut werden lässt.
Foto © Marco Piecuch
Anna Sonnenschein spielt die leicht alternativ angehauchte Aktivistin Andrea Julius, die eigentlich mit Bürgermeisterin und Schlachthof-Besitzer ins Gespräch kommen will, aber im Verlauf zunehmend an der Sinnhaftigkeit ihres Vorhabens zweifelt, so wie ihr die „Führerfigur“ immer suspekter wird, je mehr die Moderatorin sie zu dem Auftritt drängt. Sonnenschein spielt das sehr überzeugend, vor allem, weil sie unprätentiös bleibt. Warum sie sich von Moderatorin Lilith Rosen in einen Teppich einwickeln lässt, bleibt im Dunkel. Katrin Hauptmann muss keine überdrehten Slapstick-Klischees produzieren, sondern darf sich in einer fabelhaften, künstlerischen Exaltiertheit ausleben, die sie auch im Moment der Entlarvung glaubwürdig bleiben lässt. Dass Bürgermeisterin und Schlachthof-Besitzer gemeinsam Dreck am Stecken haben, ist keine wirkliche Überraschung, aber weit vom Boulevard gespielt. Juliane Pempelfort gefällt in der Schärfe der Bürgermeisterin auf der Suche nach dem Machterhalt ebenso wie in der Rolle der verunsicherten Mutter. Als krebskranker Unternehmer, der aus seiner Sicht fürsorglich für seine Mitarbeiter handelt, sich aber schließlich doch in den Strukturen der Macht verheddert, glänzt Benjamin Schardt. Am Ende des Tages sind alle Optionen offen, aber nichts hat sich gebessert. Die Angst der Bürger nimmt zu. Das steht ebenso fest wie die offenbar zunehmende Unmöglichkeit, barmherzig miteinander umzugehen. Und nur einer bleibt am Ende dieses Abends wortlos: Veronika Schepping hat als Souffleuse keinen Einsatz zu verzeichnen. Bravo.
Wenn zehn Menschen am Schluss applaudieren, brauchen die Schauspieler viel Optimismus, um zu glauben, dass der Abend ein Erfolg war. Da hilft es, wenn die Besucher sich anschließend persönlich bei Eva Veiders, der Dramaturgin, für eine wunderbare Aufführung und die großartige Leistung der Darsteller bedanken. „Egal, wie anstrengend diese Zeiten sein mögen, wir müssen versuchen, wieder zu einer Gemeinschaft zu werden, in der auch sich zunächst fremde Menschen miteinander ins Gespräch kommen können“, sagt Garofalo. Recht hat er.
Michael S. Zerban