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Das Münstersche Konzertpublikum, anspruchsvoll und zuverlässig, sollte nicht länger warten: Trotz der Corona-Einschränkungen bietet das Sinfonieorchester Münster mehrere Konzerte an, die als Streaming gleich ins Wohnzimmer geliefert werden. GMD Golo Berg hat hierzu Programmpunkte ausgewählt, die nicht häufig auf heutigen Konzertprogrammen zu finden sind: Max Bruch mit seiner Schottischen Fantasie op. 46. Bruch hat sich gerne von volkstümlichen Melodien – ob schottischen, hebräischen, schwedischen oder deutschen – inspirieren lassen und damit seine romantische Kunstauffassung dokumentiert. Die eingängige, bunte Klangpalette seiner Schottischen Fantasie hat schon nach ihrer Entstehung die Aufmerksamkeit der Zuhörer geweckt. Doch ist Bruch die öffentliche Wahrnehmung seiner Person und die fachlich-musikalische Anerkennung seiner Werke versagt geblieben, das hat sich bis heute wenig geändert. Schon im ersten Satz der Schottischen Fantasie aus dem Jahr 1880 kontrastieren stark zurückgenommene, weiche Bläserpassagen mit hellen, freundlichen Streicherelementen und machen die Zuhörer zu Beginn des Konzertes mit der Klangfülle und Virtuosität des Münsterschen Sinfonieorchesters bekannt. Bei der Komposition seiner Fantasie greift Bruch auf romantische Stimmungsbilder schottischer Volkslieder zurück und setzt dazu die in Schottland sehr beliebten Instrumente Violine und Harfe ein. In „romantischen Stimmungsbildern“ führt Bruch den Zuhörer in die wilden Landschaften Schottland oder tief in die Sagenwelt volkstümlicher Mythen.
Bildschirmfoto
Midori Goto, mehrfach ausgezeichnete Solistin des Abends und inzwischen als Erste Konzertmeisterin tätig, überrascht mit ihrem virtuosen, ausdrucksstarken Violinspiel. Allerdings hat sie mehrfach Probleme, die zarten Violinklänge gegenüber dem großen Orchester hörbar zu machen. In den vier Sätzen der Fantasie nutzt Bruch die ganze Klangweite eines etwa fünfzigköpfigen Orchesters, in dem Solovioline und Harfe im Vordergrund stehen. Sie setzen melodische Farbtupfer in die eher flächigen, breiten Orchesterpassagen, die Golo Berg mit weiträumigem Dirigat führt. Im Schlusssatz Allegro guerriero zieht Golo Berg das Tempo an, lebhafte Hörnerrufe leiten schließlich das Finale ein, die Solovioline erhält Raum für eine gefühlvolle Passage, bevor das Gesamtorchester zu einem fulminanten Schluss ansetzt. Die Kameraführung der Aufzeichnung wählt die üblichen Einstellungen vom Nahausschnitt bis zur Raumtotalen. Bedauerlich ist, dass die Kamera der Solistin zwar immer wieder über die Schulter schaut und die unglaubliche Fingerakrobatik von Midori Goto in Großaufnahme zeigt, dabei aber oft vergisst, dass auch ihr Gesicht mitspielt, dessen Ausdrucksstärke der Zuhörer gern häufiger gesehen hätte.
Auch wenn wir in den Zeiten von Corona dankbar dafür sind, Kunsterlebnisse wie ein großes Konzert wenigstens in der digitalen Form von streaming zur Verfügung zu haben, so bleibt doch die Differenz zum Realerlebnis erhalten. Zwar ist abzusehen, dass die Substitute medialer Produktion sich immer weiter einander annähern und die Grenzen zwischen analog und digital produzierten Klängen immer mehr verschwimmen: Der wirkliche Musikfreund wird weiterhin ein Konzert lieber real besuchen als sich mit digitalisierten Formen gleich welcher Art zufrieden zu geben. Das gilt schon bei der Verstärkung realer Klänge. Höre ich die Töne einer Violine, einer Flöte – oder sind es elektronisch aufgeblasene Klanggeräusche?
In Corona-Zeiten ist das keine relevante Frage, der Zuspruch zu den streaming-Angeboten verschiedenster Häuser gibt beredte Antwort und zeigt auch beim Münsterschen Theater, wie dankbar Publikum und Künstler sind, wenn sich Orchester und Theater auf dieses neue Feld der Kunstproduktion wagen. Das gilt erst recht für die Künstler, die solche Angebote unter erschwerten Bedingungen möglich machen und gleichzeitig von ihnen abhängig sind.
Der geänderte Spielplan des Theaters Münster zeigt bis in den Februar hinein weitere streaming-Angebote, auf die sich viele Münsteraner schon freuen. Auch wenn sie den Klangraum des Großen Hauses und die Atmosphäre im Foyer nicht ersetzen können – Theaterschaffende und Besucher sind dankbar, dass es die Möglichkeit überhaupt gibt.
Horst Dichanz