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Golden Sixties

DER VETTER AUS DINGSDA
(Eduard Künneke)

Gesehen am
17. Dezember 2020
(Livestream)

 

Gärtnerplatztheater München

Nach der ersten erfolgreichen Livestream-Premiere der Oper Anna Bolena von Gaetano Donizetti am Gärtnerplatztheater München steht nun die erste Operetten-Premiere als Livestream auf dem Programm, und mit Eduard Künnekes herrlich witzigem Der Vetter aus Dingsda eine der ersten Revueoperetten, die vor fast 100 Jahren ihre Uraufführung erlebte. Nach über einem Vierteljahrhundert seit der letzten Premiere war es dann auch in München Zeit für eine Neuinszenierung.

Die Operette, und besonders Der Vetter aus Dingsda, lebt vom Zauber der Illusion, von Traumbildern und von der Sehnsucht nach einer heilen Welt. Aber was passiert, wenn sich die Träumerei als trügerisch erweist? Am Gärtnerplatztheater München lässt der Jungregisseur Lukas Wachernig in der Operette Der Vetter aus Dingsda von Eduard Künneke illusionäre Träume von der großen Liebe mit der Realität der flippigen und verrückten Hippie-Zeit der 60-er Jahre des letzten Jahrhunderts aufeinander krachen.  Das geschieht mit hintergründigem, entlarvendem und teilweise skurrilem Witz. Künneke komponierte den Vetter aus Dingsda für das Berliner Theater am Nollendorfplatz. Der für die Goldenen Zwanziger typische Vergnügungstempel hob das Erfolgsstück 1921 aus der Taufe. Zu seinem Erfolg trug Künnekes Geschick bei, Gesangsnummern mit den damals neu aufkommenden Modetänzen Foxtrott, Paso doble, Tango oder Valse Boston zu kombinieren. Arien wie Strahlender Mond oder Ich bin nur ein armer Wandergesell, von Rudolf Schock unerreichbar intoniert, begründeten Künnekes Ruhm als Großmeister der deutschen Operette, insbesondere der Berliner Operette. Die Melodien waren seinerzeit Gassenhauer, und bis heute hat diese witzige Operette nichts von ihrem Charme verloren. Doch kann man eine Revueoperette mit frivolem Charme der 20-er einfach in die Flower-Power-Zeit 40 Jahre später transferieren? Wachernig, selbst ein Kind der 90-er Jahre, zeigt völlig unverkrampft und mit einem zwinkernden Auge, dass so ein Zeitenwechsel mancher Operette sogar gut tut, ohne den Respekt vor dem anspruchsvollen Genre zu verlieren.

Wer kennt sie nicht, die lästigen Verwandten, die man am liebsten nur von hinten sieht? Der jungen und schönen Julia de Weert geht es da nicht anders: Ausgerechnet ihr Vormund, der gefräßige Josef Kuhbrot, genannt Onkel Josse, und seine Frau Wilhelmine, genannt Wimpel, wollen ihr ihren Neffen August Kuhbrot als Ehemann schmackhaft machen – um sicherzugehen, dass ihr Vermögen damit in der Familie bleibt. Aber Julia liebt nur einen: ihren Vetter Roderich. Der ist allerdings vor sieben Jahren nach Dingsda, einer Stadt im Indischen Ozean, aufgebrochen und hat seither nichts mehr von sich hören lassen. Just da tauchen gleich zwei Fremde auf, die behaupten, Roderich zu sein – wer ist nun der Richtige? Wer ist Traumbild, wer ist Realität? Und kann Liebe, auf eine Illusion aufgebaut, überdauern? Natürlich findet, wie in einem guten Märchen, alles am Ende zusammen, und nach vielen Wirrungen und Irrungen gibt es ein Happy End.

Regisseur Wachernig und die Bühnenbildner Judith Leikauf und Karl Fehringer haben dafür einen witzigen Ansatz gewählt, der zeigt, dass auch eine fast 100 Jahre alte Operette immer noch aktuell sein kann. Es sind die alltäglichen Figuren der Handlung, die versuchen, in einer immer chaotischer werdender Welt es sich so lange wie möglich gutgehen zu lassen. Entsprechend überzeichnet sind die Charaktere, verstärkt durch ein schrilles und flippiges Outfit. Der gefräßige und nur auf seinen finanziellen Vorteil bedachte Josse, mit überdimensioniertem Fettbauch im rosafarbenen Sakko erinnert verdammt stark an den großen Kölner Volksschauspieler Willy Millowitsch. Seine Frau Wimpel könnte passend dazu eine Neuausgabe der Elsa Scholten sein, langjährige Bühnenpartnerin von Millowitsch. Überhaupt scheinen alle Figuren irgendwie einem Pop- oder Filmstar der 60-er Jahre zu ähneln. Die naiv sentimentale Julia, in Minirock und hochtoupierter Frisur, sieht aus wie die junge Sally Carr von der Band Middle of the Road, macht im Laufe der Handlung eine schöne Wandlung vom naiv verträumten Girlie zur selbstbewussten Frau durch. Das ist ihre Freundin Hannchen schon lange, mit ihrem bunten Minirock und den hohen weißen Lackstiefeln, die gerne auch mal in der Bravo blättert, scheint gerade von einem Casting für eine Schlagerband der 60-er gekommen zu sein. Der Möchtegern-Galan Egon von Wildenhagen, der in seinem hellblauen Anzug mit kurzer Hose aussieht wie ein verklemmtes Muttersöhnchen, faltet lieber ordentlich das Papier für die Blumen zusammen, als einen romantischen Angriff auf die Damenwelt zu starten.  Ja, und der erste Fremde, der sich als kecker Wandergesell vorstellt, sieht aus wie Ringo Starr kurz vor der Auflösung der Beatles. Apropos Beatles, natürlich dürfen die Pilzköpfe nicht fehlen, und die Diener Hans und Karl sind Paul McCartney und John Lennon aus ihrer Anfangszeit wie aus dem Gesicht geschnitten. Und genau diese verrückte, bunte, schrille und scheinbar so unbekümmerte Zeit stellt Regisseur Lukas Wach in den Mittelpunkt der Handlung. Julia, die seit sieben Jahren auf ihre Jugendliebe Roderich wartet, hat sich in eine Traumwelt geflüchtet, in der Shakespeares Romeo und Julia und der Mond als Postillon d’Amour ihre Sehnsüchte bestimmen.

Die Handlung spielt im Garten der de Weerts, mit Swimmingpool, Wasserrutsche und Sprungturm sowie Gartenzwerg und vielen neckischen Accessoires der Flower-Power-Zeit. Kurz gesagt, spießige Alte treffen auf flippige Junge, der ewig zeitlose Generationenkonflikt, eingebettet in die Zeit der sexuellen Revolution und der Flower-Power-Zeit: „Make peace, not war!“ Der Auftritt des zweiten Fremden, des echten Roderich de Weert, erscheint im Elvis-Presley-Golden-Glitter-Anzug und James-Bond-Automobil mit dem passenden Kennzeichen: „BA 007 ROD“ – Batavia, 7 Jahre, Roderich. Die bunten, manchmal etwas überzeichneten Kostüme im Sixty-Look hat Dagmar Morell kreiert.

Wie heißt es in dieser Operette so schön: … und im Märchen da wurden die beiden ein Paar, und Wachernig verweigert sich nicht dem obligatorischen Happy End. Julia nimmt am Ende dann doch den August Kuhbrot, ihren Roderich, und der echte Roderich, etwas sehr eingebildet, wird von Hannchen genommen. Nur für Egon von Wildenhagen bleibt nichts übrig als ein veritabler Korb, den die beiden Damen ihm gegeben haben. Und die Moral von der Geschichte: Jage keinem Traumbild nach, sondern liebe den Menschen so, wie er ist.  Eine Weisheit, die im Zeitalter von Dating-Apps aktueller denn je ist.

Musikalisch ist das eine formidable Leistung, die das Orchester des Gärtnerplatztheaters München unter der Leitung von Andreas Kowalewitz präsentiert, in einer von ihm der aktuellen Situation angepassten reduzierten Orchesterfassung. Doch das stört den musikalischen Ablauf überhaupt nicht, Kowalewitz und seine Musiker haben alles im Griff, die Tänze sind mitreißend vor allem in den Ensembles, und in den Solo-Stücken begleitet Kowalewitz die Sänger wie der „dienende Geist“ und schafft es, dass die Musik und die Schlager nach gut zwei Stunden Spielzeit wie Ohrwürmer im Kopf nachsummen. An diesem Effekt haben natürlich auch die Sänger einen großen Anteil, die nicht nur sängerisch, sondern auch schauspielerisch beeindrucken. Judith Spießer gibt mit klarem, hellem Sopran und strahlender Höhe die romantisch verklärte Julia, mit dem anrührend vorgetragenem Auftrittslied Strahlender Mond, der am Himmelszelt thront weiß sie zu begeistern. Das gilt auch für Maximilian Mayer, der den ersten Fremden mit viel Charme und Überzeugungskraft gibt. Sein Ich bin nur ein armer Wandergesell singt er kernig und dynamisch, aber mit tenoralem Schmelz, während er in den Ensembles und den Duetten dann zur absoluten Hochform aufläuft. Julia Sturzlbaum als Hannchen ist mit ihrem liebreizenden Sopran und ihrem frechen, manchmal schon fast lasziven Spiel eine Idealbesetzung für diese Rolle. Erwin Windegger lässt es in der Rolle des schwergewichtigen Josef Kuhbrot so richtig krachen, seine markante Musicalstimme und sein komödiantisches Spiel werten die Rolle richtig auf. Dagmar Hellberg gibt die Wilhelmine mit witzig komödiantischem Spiel. Daniel Gutmann überzeugt in der Rolle des verklemmten Egon von Wildenhagen mit schönem Bariton und spritzigem Spiel, Stefan Bischoff in der Rolle des zweiten Fremden gefällt mit schlankem Tenor und lässigem Auftritt.

Ein Sonderlob haben sich Holger Ohlmann und Peter Neustifter als Diener Hans und Karl verdient. Als seien sie grade von den Beatles abgehauen, agieren sie urkomisch und tänzerisch und geben der Aufführung eine ganz besondere Note. Die mitreißende Choreografie studierte kein Geringerer als Adam Cooper ein, und für die immer atmosphärisch richtige Beleuchtung sorgte Michael Heidinger.

Am Schluss gibt es dann den wohlverdienten Applaus und Jubel für die Kollegen auf der Bühne. Um nämlich den Live-Charakter so gut wie möglich zu vermitteln, Publikum natürlich nicht zugelassen ist, dürfen wie schon bei Anna Bolena etwa 50 bis 60 Mitarbeiter des Gärtnerplatztheaters diese Vorstellung erleben. In der Pause gibt es Interviews, die Intendant Köpplinger mit den Hauptdarstellern führt. Die Qualität der Bildübertragung bei dieser Live-Premiere im Stream ist noch einmal deutlich verbessert, und die Kameraführung lässt das Publikum am Monitor daheim dicht am Geschehen teilnehmen. Und so darf man sich auf weitere Livestreams aus diesem Hause freuen, der nächste kommt am Silvesterabend mit der spritzigen Revueoperette Drei Männer im Schnee. Im umfangreichen Online-Begleitmaterial zur Oper finden sich neben ausführlichen Hintergrundinformationen zur Entstehungsgeschichte auch diverse Rezepte für ein typisch Kaltes Büffet Marke 60-er Jahre, mit Käseplatte mit Obazda, Ananas-Igel, Spargel-Röllchen, Russische Eier und Fliegenpilze, wohl bekomm’s!

Mit dieser Neuinszenierung eines Klassikers der deutschen Operette hat das Gärtnerplatztheater einen großen Wurf gelandet, der sicher noch für lange Zeit für kurzweiliges Vergnügen sorgen wird. Man kann nur hoffen, dass die Inszenierung im nächsten Jahr dann wieder vor vollem Haus gegeben werden kann, bis dahin sei diese köstliche Aufführung als Video on Demand empfohlen.

Andreas H. Hölscher