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Aktuelle Aufführungen

Wie gut, dass es Zigeuner gab

STOLZ, STARK UND FREI
(Johannes Brahms, Antonín Dvořák, Franz Liszt, Vittorio Monti)

Besuch am
26. Juli 2022
(Premiere am 30. September 2021)

 

Gärtnerplatztheater, München

Stolz, stark und frei: So lautet der Titel eines außergewöhnlichen Liederabends am Staatstheater am Gärtnerplatz in München. Untertitelt ist dieser Abend als ein literarisch-musikalisches Programm über Liebe und Stolz nach Maxim Gorkis Erzählung Makar Tschudra von 1892 in der deutschen Fassung von Arthur Luther. Musikalisch stehen Kompositionen von Johannes Brahms, Antonín Dvořák, Franz Liszt und Vittorio Monti auf dem Programm. Der Titel macht neugierig, denn eins ist von Anfang an klar, dass hier heute Abend ist kein konventioneller Liederabend. Wenn man dann den Programmzettel aufschlägt, sticht die Überschrift „Dürfen wir heute noch von ‚Zigeunern‘ singen?“ Eine durchaus provokante Überschrift in Zeiten übersteigerter politischer Korrektheit und Anti-Rassismus-Diskussionen. Dabei fällt einem unwillkürlich die Premiere der Operette Gräfin Mariza von Emerich Kálmán in der Inszenierung von Ulrich Wiggers an der Musikalischen Komödie der Oper Leipzig vor gut einem Jahr ein. Im Auftrittslied der Mariza hörte man, dass Wiggers mit seiner Inszenierung den Begriff der „Political Correctness“ unbedingt umsetzen wollte. Statt den Worten „… spiel dazu Zigeuner“ sang Lilli Wünscher in der Rolle der Mariza „… spiel dazu die Geige“. Und als Adam Sanchez als Tassilo später in seinen Erinnerungen als Csárdáskavalier schwelgte, durfte er nicht mehr die wohlbekannte Zeile „… Komm Zigan, komm Zigan, spiel mir was vor“ singen, sondern es hieß jetzt „… Komm, mein Freund, komm, mein Freund …“.

Jeder zivilisierte und geschichtsbewusste Mensch weiß um die Verbrechen, die während des Nationalsozialismus den Roma und Sinti angetan wurden. Auch dass das Wort Zigeuner von vielen Angehörigen dieser Ethnie als rassistisch und diskriminierend empfunden wird. Aber hier gilt es auch der Kunst und der Wiedergabe eines Werkes, dass seine Uraufführung fast ein Jahrzehnt vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten erlebte. Es ist diese ideologische Indoktrination von Theatermachern, die dem Publikum vorschreiben will, was korrekt ist und was nicht. In der Konsequenz müssen dann Operetten wie Der Zigeunerbaron von Johann Strauss oder Zigeunerliebe von Franz Lehár umgeschrieben werden oder dürfen nicht mehr gespielt werden? Was ist mit Verdis Troubadour und seinem berühmten Zigeunerchor, dem Zigeunerchor aus La Traviata oder dem Lied der Zigeunerinnen aus Bizets Carmen? Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Ein Werk einfach zu verändern, aus vordergründigen Motiven, ist einfach zu banal. Die Gräfin Mariza ist alles andere als rassistisch, und die Rolle der Zigeuner, sowohl die der Wahrsagerin Manja als auch des Primas, des Sologeigers, sind positiv belegt und symbolisieren Freiheit und Stolz.

Die Verantwortlichen des Gärtnerplatztheaters tappen nicht in diese Falle. In der Erläuterung zum Liederabend wird genau auf die Verfolgung und die Diskriminierung eingegangen, ohne aber den moralischen Zeigefinger zu heben. Es wird auch deutlich auf die Begriffe „Sinti“ und „Roma“ hingewiesen, die als sprachliches Äquivalent seit den 1980-er Jahren für das Wort „Zigeuner“ zu wählen seien. Interessenvertretungen wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma lehnen die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ seither als rassistisch ab. Es gibt aber trotzdem eine Reihe von Sinti, die an diesem Begriff als Selbstbezeichnung festhalten und ihr Selbstverständnis als „stolze Zigeuner“ betonen. Es wird ferner darauf hingewiesen, dass sowohl im wissenschaftlichen Sprachgebrauch als auch in der Kunst die Bezeichnung heutzutage in der Regel in Anführungszeichen gesetzt, um sich von jedweder abwertenden Form zu distanzieren. Doch, so wird weiter ausgeführt, lassen sich Anführungszeichen weder singen noch sprechen. Es liegt also an den Interpreten, die „Anführungszeichen“ respektvoll mitzudenken. Die Ausgangsfrage „Dürfen wir heute noch von ‚Zigeunern‘ singen?“ beantwortet das Gärtnerplatztheater eindeutig und klar mit „Ja“. Denn: „Diskriminierung verschwindet nicht, wenn wir ihre Darstellung verbannen, sondern wenn wir darüber den Diskurs führen, den die freie Kunst bieten kann.“ Eine richtige, klare und bemerkenswert offene Aussage, der Respekt gebührt.

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Nun sind die Vorfreude und die Spannung auf das, was kommen soll, noch größer. Und diese Vorfreude wird auf einmalige Art und Weise belohnt werden. Musikalisch bilden die Zigeunerlieder von Johannes Brahms und die Zigeunermelodien von Antonín Dvořák den Rahmen, doch im Mittelpunkt steht die Kurzerzählung Makar Tschudra von Maxim Gorki. Es ist die Geschichte über ein Zigeunerpaar, eine Geschichte über Stolz, über Stärke und vor allem über Freiheit. In einer finsteren Herbstnacht sitzen sich der 58-jährige Makar Tschudra und der Ich-Erzähler an einem Holzfeuer gegenüber, „links die grenzenlose Steppe, rechts das unendliche Meer“. Makar Tschudra liebt die Weite und verachtet jene Sesshaften, die sich in ihren Ortschaften drängen. Er hütet die Pferde seines Stammes. Nicht weit entfernt, aus der Finsternis, ertönt „leidenschaftlich ein lyrisches Lied“. Die Sängerin ist Makar Tschudras Tochter, die schöne Nonka. Ihr Vater spricht sein Gegenüber mit „Falke“ an und erzählt ihm, was er von der Welt gesehen hat. Makar Tschudra erzählt aus seiner Zeit in der Bukowina. Da saß er in einer Frühlingsnacht mit dem Soldaten Danilo und dessen Tochter Radda zusammen. Makar Tschudra beschreibt die schöne Radda, vergleicht sie mit seiner stolzen Tochter Nonka, doch er sucht nach Worten und Wendungen, wenn er sie gegenüber Nonka als eigentlich unvergleichlich rühmen möchte. Der Erzähler fügt den Worten Makar Tschudras hinzu: „… das Meer sang einen düsteren, feierlichen Hymnus dem stolzen schönen Zigeunerpaar – Loiko Sobar und Radda … Die beiden aber schwebten in der Dunkelheit der Nacht flüchtig und lautlos umeinander, und nie gelang es dem schönen Loiko, die stolze Radda zu erreichen.“

Als sich Loiko Sobar in der Bukowina zu Makar Tschudras Stamm gesellt hatte, waren bald alle Stammesmitglieder dem Ankömmling zugetan. Allein Radda, die Tochter Danilos, nahm keine Notiz von dem Burschen. Loiko Sobar will das „feurige Pferd“ zähmen. Danilo ist einverstanden, hat aber so seine Bedenken. Loiko Sobars erster „Zähmungsversuch“ geht daneben. Radda bringt ihren neuen Liebhaber zu Fall. Selbst als Radda beim nächsten Annäherungsversuch Loikos ihre Pistole auf ihn richtet, beantwortet er die Bedrohung mit: „Ich liebe dich!“ Radda gesteht Loiko im Gegenzug ihre Liebe, erklärt aber, die Freiheit liebe sie noch mehr. Also will Radda erst Loikos Weib werden, nachdem er sich im Beisein ihres vollzählig versammelten Stammes vor ihr niedergebeugt und ihr die rechte Hand geküsst habe. Loiko verspricht es stöhnend und ersticht am Schluss die Geliebte mit seinem Messer. Darauf ersticht der alte Danilo den Mörder seiner Tochter hinterrücks, „denn er war ja Raddas Vater“.

Die hoch emotionale Geschichte wird wunderbar bewegend von dem Schauspieler Andreas Zimmermann gelesen. Doch es ist nicht nur eine einfache Rezitation, sondern es ist eine Interaktion mit den anderen Künstlern, allen voran mit der Mezzosopranistin Anna-Katharina Tonauer. Seit sechs Jahren gehört sie zum Ensemble des Gärtnerplatztheaters mit einem umfangreichen Repertoire in ihrem Fach. An diesem Abend kann sie eine ganz andere Facette ihres umfangreichen Könnens zeigen. Das Kunstlied, aber nicht einfach nur schön gesungen, sondern mit viel Ausdruck, Gestik und Mimik. Die Attribute „stolz, stark und frei“ verkörpert Tonauer mit jeder Faser ihres Körpers und mit jeder Phrasierung. Schon ihr erster Auftritt beim Betreten der Bühne, begleitet von Ekaterina Tarnopolskaja mit dem Lied  Die drei Zigeuner von Franz Liszt macht deutlich, dass sie die Lieder, die sie singt, förmlich lebt. Tonauer singt das und die folgenden Lieder mit großem Ausdruck und klarer Textverständlichkeit. Ihre Phrasierungen variieren von zarter Lyrik bis hin zu feuriger Dramatik, von süßer Melancholie bis hin zu stählerner Stärke. Und dann beginnt die Lesung von Andreas Zimmermann, der von Tonauer förmlich taxiert wird. Schnell ist klar, Tonauer verkörpert die beiden Frauengestalten Nonka und Radda in der Erzählung Makar Tschudra. Die Sapphische Ode op. 94, Nr. von Johannes Brahms interpretiert sie sehr lyrisch, ja, schon ein wenig wehmütig, mit zarter Pianobegleitung. Und dann der nächste Teil der Lesung, mit aufbauender Spannung und großartiger Interaktion von Zimmermann und Tonauer, die mit ihren Blicken auch das Publikum einbeziehen. Dann singt sie die ersten acht von den elf Zigeunerliedern op. 103 von Johannes Brahms.

Es handelt sich dabei um einen Liederzyklus für Singstimmen und Klavier, die Texte sind ungarische Volkslieder in deutscher Nachdichtung von Hugo Conrat, einem Bekannten Brahms’ aus dessen Wiener Kreis. Die eigentliche Übersetzung der Texte hatte allerdings das ungarische Kindermädchen der Familie Conrat besorgt.

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Die Zigeunerlieder, die laut Brahms in bestimmter Anordnung als in einem romanhaften Zusammenhang stehend verstanden werden können, vertonte der Komponist im Winter 1887/88 in einem Zuge während eines Aufenthalts in Budapest. Der Liedzyklus kann in Brahms’ Gesamtwerk einerseits als vokales Gegenstück zu den Ungarischen Tänzen und andererseits als exotischeres Gegenstück zu den Liebeslieder-Walzern op. 52 und 65 gesehen werden. Der Zyklus verdankt seine Popularität dem Enthusiasmus für die nationalen Strömungen in der Musik des 19. Jahrhunderts, wobei in dieser Zeit der Begriff „Zigeunermusik“ fälschlich weitgehend mit ungarischer Volksmusik gleichgesetzt wurde. Tonauer gestaltet diesen Zyklus sehr intensiv, ihr warmes Timbre verleiht der Interpretation eine natürliche Schönheit. Sie changiert zwischen feurig temperamentvoll, lyrisch heiter und melancholisch wehmütig bis hin zum dramatischen Ausbruch im achten Lied. Die Klavierbegleitung von Ekaterina Tarnopolskaja ist dynamisch, aber immer als dienender Begleiter der Stimme, nie in den Vordergrund drängend. Nach dem nächsten Lesungsteil kommt dann endlich auch der Violinist Sándor Galgoczi zum Einsatz. Der Ungarische Tanz Nr. 6 von Brahms in einer Fassung für Violine und Klavier ist der Auftakt zu einem weiteren Höhepunkt des Abends, dem der Slawische Tanz op. 72 Nr. 2 von Dvořák folgt. Beim Csárdás von Vittorio Monti lässt Galgoczi seine Geige schluchzen. Wie ein Zigeuner-Primas schwingt er feurig den Bogen, die zündenden Melodien reißen das Publikum fast von den Sitzen, und vor dem imaginären Auge werden Bilder von der Weite der ungarischen Puszta lebendig. Auch Tarnopolskaja kann ihre Virtuosität am Flügel mit der Ungarischen Rhapsodie Nr. 3 in B-Dur von Franz Liszt unter Beweis stellen, die sie sehr dramatisch und dynamisch interpretiert.

Der Schluss der Lesung mit dem Tod des Zigeuner-Liebespaars Loiko und Radda, sehr bewegend vorgetragen von Andreas Zimmermann, geht auch dem Publikum spürbar unter die Haut, es ist totenstill im Konzertfoyer des Gärtnerplatztheaters. In diese Stimmung erklingt der Zyklus Zigeunermelodien op. 55 von Antonín Dvořák, den der Komponist 1880 nach Texten seines Landsmanns Adolf Heyduk vertonte. Widmungsträger der Lieder war Gustav Walter, über 30 Jahre lang führender lyrischer Tenor an der Wiener Hofoper. Heyduks Zigeuner-Projektion bedient allerdings das jahrhundertelang herrschende Klischee einer vermeintlich romantischen, naturverbundenen und freiheitsliebenden Lebensweise: entweder feurig verliebt, frisch vergnügt und obendrein mit Musik und Tanz – oder aber tiefmelancholisch. Und genauso interpretiert Tonauer die letzten sieben Lieder des Abends.

Nach 90 Minuten ist der außergewöhnliche Liederabend beendet. Das Publikum, dass während des Vortrages sehr diszipliniert ist, auf Zwischenapplaus verzichtet, spendet am Schluss den vier Akteuren ausgiebigen Beifall. Ein kleines Mädchen überreicht jedem der vier Künstler eine Rose. Eine rührende Geste, die zu der Stimmung des Abends wunderbar passt. Leider sind nur rund 40 Zuschauer im Konzertfoyer anwesend, unter ihnen auch einige Angehörige des Gärtnerplatztheaters. Das ist sehr schade und auch nicht schön für die Künstler, dass sich zu diesem anspruchsvollen Programm so wenige Besucher eingefunden haben. Doch die, die dabei waren, haben einen faszinierenden und bewegenden Abend erlebt. „Dürfen wir heute noch von Zigeunern singen?“ war die große Frage des Abends. Die Antwort haben die Künstler mit ihrem unter die Haut gehenden Vortrag gegeben!

Andreas H. Hölscher