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Aktuelle Aufführungen
PEER GYNT
(Karl Alfred Schreiner)
Besuch am
28. November 2023
(Premiere am 24. November 2023)
Eigentlich hätte an diesem Abend im Münchener Gärtnerplatztheater gar keine Vorstellung stattfinden sollen. Die Gewerkschaft Verdi hatte die Tarifbeschäftigten im Öffentlichen Dienst in München an ausgewählten Orten zu einem Warnstreik aufgerufen. Betroffen davon war auch das Gärtnerplatztheater. Die Theaterleitung zeigte sich jedoch solidarisch mit den Forderungen der im TV-L-Tarifvertrag Beschäftigten am Haus sowie mit dem Streik am 28. November 2023. Iris Egger, künstlerische Betriebsdirektorin des Gärtnerplatztheaters, verkündete vor der Vorstellung die Solidaritätsnote und bedankte sich vor allem bei den Musikern des Orchesters des Staatstheaters am Gärtnerplatz sowie den Mitarbeitern für die große Kollegialität, trotz Streikaufrufs den Ballettabend Peer Gynt stattfinden zu lassen. Dafür gab es vom Publikum im nicht ganz ausverkauften Gärtnerplatztheater verständlicherweise schon einmal langanhaltenden Beifall. Die Orchestermusiker, fast alle in gelbe Streikwesten gekleidet, hatten zusätzlich am Bühnenrund zwei Transparente von Unisono – der deutschen Musik- und Orchestervereinigung – befestigt. Nach diesem kleinen gewerkschaftlichen Auftakt kann dann die Aufführung wie geplant über die Bühne gehen.
Wer an Peer Gynt denkt, dem kommt die in Deutschland sehr populäre Schauspielmusik von Edvard Grieg in den Sinn, die der Komponist später zu zwei Suiten umgearbeitet hat. Stücke wie Morgenstimmung, In der Halle des Bergkönigs oder Solveigs Lied sind gängiges Repertoire in Konzerten und werden regelmäßig von Klassiksendern im Radio gespielt. Doch wer ist dieser Peer Gynt? Nach der Vorlage der zwischen 1845 und 1848 erschienenen norwegischen Feenmärchensammlung Huldre-Eventyr og Folkesagn von Peter Christen Asbjørnsen verfasste der norwegische Dichter Henrik Ibsen das dramatische Gedicht Peer Gynt, das 1867 erschien. In seinem Werk setzte sich Ibsen kritisch mit dem romantischen Nationalismus im Norwegen seiner Zeit auseinander. Peer Gynt war von Ibsen zunächst als reines Lesedrama vorgesehen. Nach dem Erfolg der Dichtung änderte Ibsen seine Meinung und plante, sie zu einem Bühnenstück mit Musik umzuarbeiten. Seinen Plan beschrieb er sehr genau in einem Brief vom 23. Januar 1874 an seinen Landsmann und Komponisten Edvard Grieg:
Foto © Marie-Laure Briane
„Lieber Herr Grieg! Ich schreibe Ihnen diese Zeilen im Hinblick auf einen Plan, den ich auszuführen gedenke, und möchte Sie fragen, ob Sie sich an ihm beteiligen wollen. Es handelt sich um folgendes: Ich habe die Absicht, Peer Gynt, der nun bald in der dritten Auflage erscheint, für die Bühne einzurichten. Wollen Sie die Musik dazu komponieren? Ich skizziere kurz, wie ich mir die Sache denke. Wenn Sie darauf eingehen, wende ich mich gleich an die Leitung des Theaters in Kristiania, liefere ein eingerichtetes Textbuch und sichere uns im Voraus die Aufführung des Stückes. Ich beabsichtige, ein Honorar von 400 Speziestalern zu beantragen, das zu gleichen Teilen zwischen uns geteilt werden soll.“ Grieg nahm den künstlerisch wie finanziell verlockenden Auftrag sofort an. Ibsen, der nicht besonders musikalisch gewesen sein soll, schilderte in diesem Brief sehr konkret Vorstellungen, wie die Musik die Wirkung seines Schauspiels steigern solle. Grieg hat sich in seiner späteren Komposition auch recht genau an die Anweisungen Ibsens gehalten. Doch die Komposition fiel Grieg schwerer als gedacht, und in einem Brief vom August 1874 schrieb Grieg an einen Freund: „Mit Peer Gynt geht es sehr langsam voran, und es ist keine Rede davon, bis zum Herbst fertig zu sein. Es ist ein fürchterlich ungefügiges Thema, abgesehen von einzelnen Stellen wie z.B. dort, wo Solveig singt, damit bin ich auch schon fertig. Und dann habe ich etwas zu ‚In der Halle des Bergkönigs‘ geschrieben, was ich buchstäblich nicht ertrage zu hören, so sehr klingt es nach Kuhmist, nach Norwegertum und Sich-selbst-genug-sein! Aber ich erwarte auch, dass die Ironie wahrgenommen werden kann.“ Im Jahr 1886 wurde das Stück dann im Dagmar-Theater in Kopenhagen aufgeführt. Für das 1899 eröffnete Nationaltheater, wo Peer Gynt ab 1902 aufgeführt wurde, instrumentierte Grieg das Vorspiel zum ersten Akt um. Wegen seiner Zweifel an der Akzeptanz des Werks außerhalb Norwegens stellte Grieg 1888 und 1893 aus acht Sätzen der Schauspielmusik zwei je viersätzige kurze Orchestersuiten zusammen. Diese beiden Peer-Gynt-Suiten, die auf gesprochene Dialoge, Gesang und Chor verzichten, zählen heute zu seinen populärsten Werken.
Um die moderne Ballettversion des Werkes von Karl Alfred Schreiner zu verstehen, muss man sich zunächst mit dem Inhalt von Ibsens Bühnendrama beschäftigen. Die Hauptfigur ist der junge Bauernsohn Peer Gynt, der mit Lügengeschichten versucht, der Realität zu entfliehen. So verdrängt er, dass sein Vater, der einst sehr angesehene Jon Gynt, Hof und Habe durch Misswirtschaft und zahlreiche Alkoholeskapaden verloren hat. In Peers Fantasiewelt ist die heruntergekommene Behausung jedoch nach wie vor ein strahlender Palast. Auch seine eigene Nichtsnutzigkeit verklärt er zu Heldenhaftigkeit. So schildert er seiner Mutter Åse einen halsbrecherischen Ritt auf einem „Bock“ über einen Grat. Von seiner Mutter wird Peer überbehütet und glorifiziert, doch soll er immer ihre Version des Lebens teilen. Auf der Suche nach Liebe und Abenteuer findet er sich bald in einer Welt von Trollen und Dämonen wieder. Er entführt Ingrid, die Braut eines anderen, verlässt sie aber kurz nach der Entführung. Gleichzeitig verliebt er sich in die aus pietistischem Elternhaus stammende Solveig, die ihn anfangs nicht erhört, sich ihm später jedoch anschließt und in einem Holzhaus im Wald auf seine Rückkehr wartet.
Foto © Marie-Laure Briane
Nach einem Zeitsprung von etwa 30 Jahren findet sich der inzwischen unter anderem durch Sklavenhandel reich gewordene Peer im vierten Akt in Marokko wieder. Dort wird ihm von Geschäftspartnern sein Schiff mit allen Reichtümern gestohlen. Nach einem Gebet versinkt das Schiff. Peer findet sich mit seiner Armut ab und wendet sich Gott zu. Durch einen Affenangriff wird er in die Wüste getrieben, wo er sich in eine Oase rettet. Von den dort lebenden Jungfrauen erwählt er Anitra, die ihm allerdings die letzten Habseligkeiten stiehlt. Den Tiefpunkt seines Lebens erlebt Peer im Irrenhaus zu Kairo, dem der deutsche Arzt Doktor Begriffenfeldt vorsteht. Alt und verarmt kehrt Peer Gynt heim, wo ihm der Abgesandte des „Meisters“, der sich der Knopfgießer nennt, erscheint und gegen den er um seine Seele kämpfen muss. In einer berühmten Szene vergleicht sich Peer mit einer Zwiebel, die viele Hüllen, jedoch keinen Kern aufzuweisen hat. In der an einem Pfingstmorgen spielenden Schluss-Szene stellt sich jedoch Solveig, die ein Leben lang auf die Rückkehr ihres Geliebten gewartet hat, schützend vor ihn und rettet ihn. Weil Peers ideales Selbst die ganze Zeit über in Solveigs Herzen gelebt hat, wird ihm verziehen.
Ibsens Drama und Griegs Musik, sie bilden die Grundlage für das Ballett, das Karl Alfred Schreiner, Ballettdirektor am Staatstheater am Gärtnerplatz, ganz neu konzipierte, choreografierte und am 24. November zur Uraufführung gebracht hat. Für Schreiner hat die Figur des Peer Gynt ein Label auf der Stirn mit dem ersten Satz: „Du lügst!“ Für ihn ist er ein Schwärmer, ein Phantast, ein unglaublicher Phantasierer und auch jemand, der die Realität nicht wahrhaben will und dann vom Knopfgießer auf den harten Boden der Realität geholt wird, um ihm dann wieder was vorzulügen oder wieder was zu erzählen. Schreiner nimmt nun den Kunstgriff vor, die Figur des Knopfgießers, bei Ibsen nur eine Randfigur, mit dem Schauspieler Erwin Windegger als zentralen Gegenpol zu Peer Gynt in den Vordergrund zu stellen und in ihm die unterschiedlichen Sprechrollen des Ibsen-Dramas in einem adaptierten Text zu vereinen. So wird aus dem Ballettabend eine Kombination aus Tanztheater, Schauspiel und symphonischer Musik. Die Figur des Knopfgießers erscheint hier als eine Mischung aus Mephistopheles, Werner Herzogs Nosferatu und der Figur des Samiel aus Carl Maria von Webers Freischütz, genial dargestellt von Erwin Windegger, der der Figur diabolische Züge verleiht. Für Schreiner ist die Figur des Knopfgießers deshalb so spannend, „da nicht ganz klar ist, ob es der Tod selbst ist, ein Gesandter des Todes oder einfach nur das Gewissen, das zu uns selber spricht und irgendwann sagt: Halt mal, worum geht’s in deinem Leben? Wer bist Du selbst und was machst Du mit deinem Leben?“ Somit ist der Fantasie des Zuschauers keine Grenze gesetzt, und man kann in diesen 90 Minuten auch gut über das eigene Leben, das eigene Dasein reflektieren.
In der Ballettversion wird der Moment, in dem der Knopfgießer kommt und von Peer Gynt Rechenschaft fordert, an den Anfang gestellt , so dass die einzelnen Episoden in der Rückblende vor seinen Augen entstehen und was sich in der Fantasie Peer Gynts abgespielt hat. Peer erscheint als Kind, als Junge, als Mann und als Heimkehrer, oft im Einklang oder im Konflikt mit dem Peer Gynt der Gegenwart. Und dazwischen immer wieder der Knopfgießer, der Gynt anbrüllt: „Du lügst!“ Und so spielt sich die Geschichte in der Ballettversion von Karl Alfred Schreiner ab:
Bislang hat Peer Gynt relativ sorglos in den Tag hineingelebt. Da bekommt er Besuch vom geheimnisvollen Knopfgießer, der zu ihm geschickt worden ist, um ihn umzuschmelzen: Als Durchschnittsexistenz ohne besondere Merkmale ist er nicht böse genug, um in die Hölle zu kommen, und nicht gut genug für den Himmel. Darum soll er in den Ausschusstopf, wie alle, die es nicht geschafft haben, ihrem Leben einen persönlichen Stempel aufzudrücken. Aus dem Massenbrei werden dann neue und hoffentlich gelungenere Knöpfe gemacht.
Foto © Marie-Laure Briane
Er ist eben kein blitzender Knopf an der Weste der Welt. Peer erbittet sich eine Frist, um den Knopfgießer von seiner Einzigartigkeit zu überzeugen. Er beschwört entsprechende Episoden aus seinem Leben – zumindest so, wie sie in seiner Vorstellung abgelaufen sind: eine wilde Rauferei mit den Männern seines Dorfes, auf einer Hochzeit die Entführung der Braut Ingrid, oder die Begegnung mit der Tochter des Trollkönigs. Doch der Knopfgießer wiederholt, was auch schon Peers Mutter Åse ihrem Sohn vorgeworfen hat: „Peer, du lügst!“ Als Åse stirbt, sind Peers Lügen jedoch für ein Mal segensreich: Er gaukelt der Sterbenden vor, sie werde vom ganzen Dorf und dem lieben Gott selbst ehrerbietig gegrüßt, und hilft ihr damit leichter hinüber. Aber der Knopfgießer fordert erneut Beweise für Peers Einzigartigkeit. Peer lässt daraufhin weitere Reisen Revue passieren, die er angeblich in ferne Länder unternommen hat, wo er es zu Ruhm und Reichtum gebracht haben will. So entwirft er einen regelrechten Kapitalistentraum, der vom Knopfgießer ebenso skeptisch aufgenommen wird wie Peers Behauptung, Schiffbruch erlitten zu haben. In seinem Bemühen, etwas Besonderes zu sein, erzählt Peer sogar, er habe einen anderen Schiffbrüchigen umgebracht, um sich selbst retten zu können. Lieber will er ein Mörder sein als ein unbeschriebenes Blatt. Doch der Knopfgießer öffnet ihm schonungslos die Augen: Peer kann noch so viele Identitäten erdichten, er gleicht einer Zwiebel. Unter den einzelnen Schichten, unter den spektakulären Masken Peers verbirgt sich – nichts. Im Kern ist er hohl. Weniger als Durchschnitt. Wirklich? Solveig, die Frau, die ihn seit Jugendzeiten liebt, ist anderer Meinung. Für sie ist Peer einzigartig. Er selbst erkennt, dass er in allen Frauen immer nur sie ersehnt hat. Sein Schicksal bekommt plötzlich einen Sinn. Der Knopfgießer ist sprachlos, geht ab und sucht ein neues Opfer für seine Kelle.
Musikalisch wird das Werk mit anderen Stücken von Edvard Grieg erweitert, da insbesondere die Gesangs- und Chorszenen sich hier nicht eignen, bis auf Solveigs Lied, das als Instrumentalfassung den Schluss bildet, wenn Solveig und Peer endlich in Liebe vereint sind. So erklingen Stücke aus Griegs Norwegischen Tänzen und den Lyrischen Stücken sowie als Ouvertüre das Präludium aus Holbergs Zeit. Musikalischer Höhepunkt ist das zeitgenössische Stück Oceans von der isländischen Komponistin María Huld Markan Sigfúsdóttir, das den Tod von Peer Gynts Mutter Åse auf elegische und lautmalerische Weise beschreibt. Natürlich gibt es die Morgenstimmung, bei der im Hintergrund eine Videoinstallation läuft, die mehr einen Vulkanausbruch assoziiert als einen Sonnenaufgang, während die Choreografie zu diesem Stück alles andere als morgendliches Erwachen symbolisiert, sondern mehr eine Adrenalin geboostete Szene dreier Tänzerinnen, die lautstark die Schritte mitzählen. Herausragend auch Erwin Windegger als mephistofeler Knopfgießer, der mit seinen lautstarken Deklamationen und körperlichem Einsatz allein schon das Eintrittsgeld wert ist.
Schreiner setzt in seiner bemerkenswerten Choreografie oft auf Kontrast des Ausdrucks zur Musik, ohne sie gegen den Strich zu bürsten. Eine insgesamt für alle Tänzer sehr fordernde und ausdrucksstarke Choreografie. Die Kostüme von Thomas Kaiser sind teilweise sehr bunt und fantasievoll, während das Bühnenbild von Heiko Pfützner vor allem durch eine große Videowand beeindruckt, mit stilisierten Landschaftsaufnahmen, Dorfbild und Meeresfluten. Christian Gasteiger und Raphael Kurig erstellten die Videosequenzen, und Peter Hörtner setzt die Szenerie ins richtige Licht.
Alexander Hille als Peer Gynt und Marta Jaén Garcia als Solveig sowie Emily Yetta Wohl als Åse sind die herausragenden Solotänzer, aber das gesamte Ballettensemble hat sich für seine großartige Tanzleistung ein Sonderlob verdient. Und auch musikalisch lässt das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter der musikalischen Leitung von Michael Brandstätter nichts zu wünschen übrig. Mögen die Musiker auch Streikwesten tragen, ihr Engagement an diesem Abend ist vorbildlich, und Brandstätter lässt die norwegische Stimmung mit großem Einsatz aus dem Orchestergraben erklingen.
Nach 90 Minuten ohne Pause gibt es großen Jubel vom Publikum. Die Aufführung spricht in ihrer Konzeption alle Sinne an, und lässt einen selbst auch über das eigene Leben nachdenken. Eine faszinierende Choreografie von Karl Alfred Schreiner und ein Stück, dessen Besuch sich unbedingt lohnt. Bis zum Jahresende steht Peer Gynt noch sechsmal auf dem Spielplan.
Andreas H. Hölscher