O-Ton

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Foto © Wilfried Hösl

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Sex und Drogen

LE NOZZE DI FIGARO
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
30. Oktober 2023
(Premiere)

 

Bayerische Staatsoper München

Mozarts Opera buffa Le nozze di Figaro ist seit ihrer Uraufführung im Jahre 1786 ein Dauerbrenner und omnipräsent auf den Spielplänen der großen Opernhäuser. Jetzt gibt es sogar eine Häufung von Neuinszenierungen. Vor einem halben Jahr hat der Nürnberger Staatstheaterintendant und Regisseur Jens-Daniel Herzog diese ewig junge Komödie in die heutige Zeit verlegt und daraus eine etwas beklemmend wirkende Alltagstragödie gemacht, in der der Humor phasenweise etwas zu kurz kam, aber mit einigen Slapstick-Einlagen dafür sorgte, dass das Publikum trotzdem was zu lachen hatte. Zwei Monate später zog am Münchner Gärtnerplatztheater Staatstheaterintendant und Regisseur Josef E. Köpplinger nach und verlegte die Geschichte nach Spanien in die 1960-er Jahre, also in die Zeit Francos. Köpplinger ging es dabei nicht um die politischen Hintergründe, sondern er wollte das Gefühlsleben der verschiedenen Protagonisten und ihre Beziehungsgeflechte untereinander ausleuchten und zeigte schonungslos das teils verwirrte Seelenleben der handelnden Personen auf. Nachdem am vergangenen Freitag am Staatstheater Meiningen das Werk ebenfalls neu auf die Bühne gebracht wurde, folgte nun in München innerhalb von vier Monaten die zweite Neuinszenierung, mit einem großen Aufgebot an jungen Sängern, die gerade die Klassikszene etwas aufmischen, sowie einem extravaganten Dirigenten und einem eher unbekannten Regisseur. Die große Frage war, kann München zwei neue Inszenierungen von Mozarts Le nozze di Figaro nebeneinander vertragen? Die Antwort war nach gut dreieinhalb Stunden Spielzeit ein eindeutiges Ja!

Le nozze di Figaro ist eine gesellschaftliche Komödie, die man im Kontext zur Zeit der Entstehungsgeschichte und der Normen sehen muss. Im Vordergrund steht das komödiantische Wechselspiel von Verliebtheit und Enttäuschung, von Begierde und Verzweiflung, von Lust und Frust, von Eifersucht und Intrige. Das Werk ist ein Lustspiel im besten Sinne des Wortes. Es geht um Lust, aber es ist auch ein Spiel mit vielen überraschenden Wendungen, das zwischendurch immer wieder ernste Momente hat. Um Figaros Hochzeit wirklich verstehen zu können, muss man die Vorgeschichte kennen, die Gioacchino Rossini mit dem Der Barbier von Sevilla so fantastisch vertont hat.

Regisseur Evgeny Titov, der mit dieser Inszenierung sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper gibt, kommt ursprünglich vom Schauspiel, und das merkt man seiner Personenregie deutlich an. Im Vergleich zu Köpplingers Inszenierung am Gärtnerplatztheater versucht er gar nicht erst, die psychologischen Beziehungsebenen auszuloten, sondern gefällt sich mehr in der Darstellung von Klischees und überdrehten Verhaltensnormen, was teilweise sehr witzig ist, aber irgendwann auch erlahmt, weil es über drei Stunden keine wirklichen Überraschungen gibt.

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Graf Almaviva hat das ius primae noctis, das Recht der ersten Nacht, höchstselbst abgeschafft. Dieser Umstand hält ihn jedoch nicht davon ab, seiner Untergebenen Susanna, die kurz vor der Hochzeit mit ihrem Figaro steht, nachzustellen. Ein klarer Fall von sexueller Belästigung. Der Graf, optisch mit einer gewissen Ähnlichkeit zu David Garrett, hat nur eines im Kopf: Wie bekommt er Susanna ins Bett? Da wird auch schon mal ganz schnell die Hose heruntergelassen, und Hand an die Frau gelegt. Nun ist Susanna kein armes Hascherl, das sich versteckt, sondern sich zu wehren weiß. Das muss auch ihr Figaro des Öfteren schmerzhaft erfahren, denn Susanna ist nicht gerade zimperlich, wenn es um das Austeilen von Tritten und Schlägen geht.

Annemarie Woods arbeitet ebenfalls das erste Mal an der Bayerischen Staatsoper und hat für die Ausstattung der Inszenierung gesorgt. Während die Kostüme sehr bunt, manchmal schrill und pompös daherkommen, ist das Bühnenbild eher spartanisch mit ganz wenigen Requisiten.  Es zeigt eine ziemlich heruntergekommene Wand mit einer großen Tür, das ist mehr Fabrikhalle als Schloss eines Grafen. Auf der Bühne steht ein riesiger, bunter Stuhl, fast ein Thron, höhenverstellbar, wie es früher die alten Barbierstühle waren. Wir befinden uns ja beim Figaro, und der ist ja immer noch der Barbier von Sevilla. Nur dass dieser Stuhl nichts weiter ist als ein vorsintflutlicher Sexautomat, mit ausfahrbaren Dildos und vielen Spielvarianten, wie ihn vielleicht ein SM-Studio anbietet. Sexuelle Vorlieben stehen im Vordergrund der Inszenierung. Lüstern und übergriffig ist aber nicht nur der Graf mit Testosteronüberschuss, sondern auch der pubertierende Jüngling Cherubino, vor dem kein Rock und keine Brust sicher ist. Und sowohl die Gräfin als auch Susanna sind keine Damen von Traurigkeit, lassen sich gerne auf gefährliche Flirts ein. Selbst Marcellina, meist als biedere und trockene Zicke dargestellt, kommt in dieser erotisch aufgeheizten Szenerie in Fahrt. Auch Figaro scheint dem einen oder anderen Abenteuer nicht abgeneigt. Im zweiten Akt ist die Wand eine Baustelle, mit rosa Farbeimer, und statt der Dildo-Maschine gibt es jetzt ein überdimensioniertes rosa Plüschfellsofa, die Spielwiese der Gräfin, auf der sich Cherubino schon mal über sie hermacht. Der ist im Übrigen, nachdem er vom Grafen zum Militär verbannt wurde, von Figaro richtig barbiert worden, indem er ihm kurzerhand die Haare komplett abrasiert hat. Eine sehr drastische optische Zurschaustellung dieser androgynen Zwitterfigur.

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Im dritten Akt befinden wir uns im Büro des Grafen, das aus einem kleinen Schreibtisch besteht, in dessen Tresor eine Menge Bargeld liegt, mit dem der Graf seine Liebesabenteuer bezahlt, ein Revolver für alle Fälle, und auf der Tischplatte ein kleines Gewächshaus mit jungen Cannabis-Pflanzen. Das die nicht nur dem Eigenbedarf dienen, zeigt dann der vierte Akt. Der Garten mit der finalen Verwechslungskomödie ist nichts andere als eine große Cannabis-Plantage. Also, der Herr Graf hat im Vorgriff auf die Legalisierung von Cannabis durch einen gewissen Herrn Lauterbach schon mal vorgesorgt und scheint seine amourösen Abenteuer mit Cannabis zu finanzieren. Und es wird auch ganz schön gekifft, irgendwann ist jeder der Protagonisten mal stoned. Man könnte die Inszenierung auch unter „Sex and Drugs and Rock’n’roll“ verschlagworten, denn Mozart war ja zu seiner Zeit durchaus ein Rocker, wie einst Falco so treffend besang. Und so lebt die Inszenierung von den schrillen, überdrehten Gags. Der Graf ballert da schon mal mit seinem Revolver in der Luft herum, und zur Doppelhochzeit fliegt viel Konfetti durch die Luft. Alles nett anzuschauen, aber ohne Tiefgang und Substanz, der Effekt heiligt die Mittel.

Dass die dreieinhalb Stunden dann nicht einfach so verpuffen, ist dem Sängerensemble des Abends zu verdanken, das sich auf höchstem Niveau präsentiert. Louise Alder als Susanna ist die Leitfigur, um die sich alles dreht. Sie weiß mit den sexuellen Begierden des Grafen und von Cherubino umzugehen und lenkt das Spiel von Begierde und Zurückweisung geschickt bis hin zum großen Finale. Mal trotzig wütend und aggressiv, wenn sie Figaro verprügelt, mal lasziv mit dem Grafen flirtend, dann aber auch liebevoll entrückt, wenn sie an den Geliebten denkt. Ihre schlank geführte, lyrische Sopranstimme kommt vor allem in der großen Rosen-Arie Deh, vieni, non tadar, oh gioia bella  im vierten Akt zur Geltung, die sie mit großer Innigkeit und Wohlklang gestaltet. Die Höhen im zarten Piano verträumt gesungen, berühren tiefe Gefühle. Konstantin Krimmel gibt den Figaro in Spiel und Gesang als kraftvollen, ja, fast schon überschwänglichen Gegenpol. Er will das Heft des Handelns in der Hand halten, so in seiner Tanz-Arie Se vuol ballare, Signor Contino, die er markant gestaltet, und bemerkt doch gar nicht, dass sowohl der Graf als auch seine Susanna ihn manipulativ beeinflussen. Dramatisch menschlich seine Arie Aprite un po‘ quegli occhi zu Beginn des vierten Aktes, die er mit großer Intensität singt und seinen markanten Bariton zur vollen Entfaltung bringt. Das ist schon ein Meisterstück, was der junge Sänger hier abliefert, auch wenn er nicht ganz frei von einer leichten Nervosität zu sein scheint.

Huw Montague Rendall als Graf Almaviva ist mit seiner lüsternen Ausstrahlung ein Verführer par excellence, dem man seine schmeichelnden Liebesschwüre wie auch seine rasende Eifersucht abnimmt. Doch wird er nicht auf seine Libido reduziert, sondern darf auch ganz menschliche, ja, fast schon tragische Züge zeigen, zu denen auch seine unkontrollierten aggressiven Anfälle gehören.  Dieser Typ ist ein Schaumschläger und weiß erst am Schluss, was er wirklich an seiner Gräfin hat. Sein mit edlem Timbre geführter, galanter Bariton entfaltet sich besonders wuchtig in der großen Entbehrungsarie Vedrò mentr’io sospiro, felice un servo mio im dritten Akt, in der er sich dramatisch in Rachefantasien ergeht. Sein ausdrucksstärkster Moment ist zweifelslos die finale Szene, in der er seine Gräfin um Verzeihung bittet, Contessa, perdono.  Hier wandelt sich der überhebliche Habitus zu einer tiefen und gefühlvollen menschlichen Geste, wenn er auf die Knie sinkt und sich wie ein kleiner Junge an die Mutterbrust schmiegt.

Elsa Dreisig ist der absolute Star des Abends. Seit dieser Spielzeit fest im Ensemble der Bayerischen Staatsoper, überzeugt sie als Gräfin Almaviva als eine in der Liebe vernachlässigte und in ihrem Gefühlsleben gekränkte Frau, die zu Recht um die anhaltende Liebe und Begierde ihres Gemahls bangt. Berückend die leise, lyrische und innige Interpretation ihrer Auftrittsarie im zweiten Akt Porgi amor, qualche ristoro, in der sie den Tod herbeisehnt, wenn die Liebe nicht zurückkehrt. Doch sie kann auch leidenschaftlich klagen und Dramatik in die Stimme legen wie im großen Rezitativ und der Arie im dritten Akt E Susanna non vien … Dove sono i bei momenti. Als sie im zweiten Teil der Arie in ein berückendes Piano zurückgeht, muss man unwillkürlich den Atem anhalten, einer der grandiosen Gänsehautmomente. Tosender Szenenapplaus ist der berechtigte Lohn dafür.

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Avery Amereau als Cherubino ist ebenfalls neu im Ensemble und buhlt mit Dreisig um die Gunst des Publikums. Sie begeistert als lüsterner, pubertierender Page, vor dem kein Rockzipfel sicher ist. Ihr warm klingender Mezzosopran überzeugt mit Intensität und Durchschlagkraft. Wärme und Gefühl, Irrung und Wirrung legt sie stimmlich akzentuiert in die beiden Arien Non sò più cosa son, cosa faccio und Voi, che sapete che cosa è amor. Auch ihr ist großer Szenenapplaus sicher, und sie wird am Schluss genau wie Dreisig zurecht umjubelt. Dorothea Röschmann hat mittlerweile das Alter und die gesangliche Reife für die Rolle der „komischen Alten“. Sie verleiht mit ihrem leicht dramatischen Sopran und ihrer Spielfreude der Rolle der Marcellina eine besonders schrille Note.

Wunderbar passend dazu der Bass Willard White als Don Bartolo, der seiner rachsüchtigen Auftrittsarie La vendetta ein markantes Profil gibt. Die junge Sopranistin Eirin Rognerud, Mitglied im Opernstudio der Bayerischen Staatsoper, verleiht der Figur Barbarina mit leichtem Sopran und ausdrucksstarkem Spiel einen besonderen Charakter. Tansel Akzeybek als schleimiger Basilio, Kevin Connors als Don Curzio und Martin Snell als Gärtner Antonio sowie Seonwoo Lee und Xenia Puskarz Thomas als Mädchen, beide ebenfalls aus dem Opernstudio, reihen sich sängerisch und schauspielerisch nahtlos in das großartige Sängerensemble ein.

Der Bayerische Staatsopernchor, einstudiert von Christoph Heil, ist stimmlich und darstellerisch gut präsent und bereitet dem Publikum ein formidables Hörerlebnis, wie insgesamt das gesamte Ensemble durch spielerische Intensität überzeugt.

Das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Stefano Montanari spielt einen sehr dynamischen und forcierten Mozart. Montanari hat sich zunächst als Barockgeiger einen Namen gemacht und gilt als Spezialist für alte Musik. Die Ouvertüre dirigiert er schwungvoll und exaltiert, mit ausladenden Gesten und erhält dafür prompt schon Jubel. Montanari setzt statt des obligatorischen Cembalos für die Rezitative ein Klavier ein, was die Darbietung einfach frischer und jugendlicher erklingen lässt. Die sinnlich erotisierende Musik Mozarts lässt er mit schwungvollen Bögen und Phrasierungen transparent werden und macht die Aufführung, die auch live im Bayerischen Rundfunk übertragen wird, zu einem großen musikalischen Genuss.

Am Schluss gibt es von dem begeisterten Publikum im ausverkauften Nationaltheater enthusiastischen Jubel für ein großartiges Ensemble und ein hervorragend aufgelegtes Orchester. Auch das Regieteam um Evgeny Titov erhält freundlichen Applaus. Um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, ob München zwei Inszenierungen von Le nozze di Figaro nebeneinander vertragen kann, so ist das mit einem eindeutigen Ja beantwortet. Zu unterschiedlich sind die Inszenierungen in ihrem Ansatz. Am Gärtnerplatztheater hat Köpplinger eine eher psychologische Beziehungsanalyse durchgeführt, während Titov am Nationaltheater die Opera buffa als Slapstick-Komödie interpretiert. Musikalisch und sängerisch sind beide Darstellungen auf höchstem Niveau. Wer diese Oper liebt und die Möglichkeit hat, sich beide Inszenierungen anzuschauen, sollte es tun, langweilig wird es auf keinen Fall.

Andreas H. Hölscher