O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Irrtum der Liebe

LE NOZZE DI FIGARO
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
29. Juni 2023
(Premiere)

 

Gärtnerplatztheater München

Mozarts Le nozze di Figaro ist eigentlich eine Komödie, die man im Kontext zur Zeit der Entstehungsgeschichte und der gesellschaftlichen Normen sehen muss. Im Vordergrund steht das komödiantische Wechselspiel von Verliebtheit und Enttäuschung, von Begierde und Verzweiflung, von Lust und Frust, von Eifersucht und Intrige. Das Werk ist ein Lustspiel im besten Sinne des Wortes. Es geht um Lust, aber es ist auch ein Spiel mit vielen überraschenden Wendungen, das zwischendurch immer wieder ernste Momente hat.

Es ist im übertragenen Sinne auch ein Garten der Gefühle, ein Labyrinth von Irrungen und Wirrungen, aus dem es einen einzigen Ausweg gibt. Die Menschlichkeit, die am Schluss siegt und alles zum Guten führt. Doch bis dahin ist es ein weiter und schwieriger Weg mit allerlei komödiantischen Raffinessen. Um Figaros Hochzeit wirklich verstehen zu können, muss man die Vorgeschichte kennen, die Gioacchino Rossini mit Der Barbier von Sevilla so fantastisch vertont hat. Damals war die Rosina, die heutige Gräfin, eine junge Frau und das Mündel von Dr. Bartolo, der sie unbedingt heiraten wollte. Doch mit Figaros Hilfe erobert der Graf die junge Bürgerliche und macht sie zur Gräfin. Jetzt, etwa fünf Jahre später, ist der Graf, so der Intendant des Gärtnerplatztheaters und Regisseur Josef E. Köpplinger, eine weniger charmante Form von Don Giovanni. Er hat das Interesse an der Gräfin verloren, sie aber nicht an ihm, wie sie in ihrer zweiten großen Arie deutlich zum Ausdruck bringt, wenn sie singt Wenn ich nur sein Herz wieder besitzen könnte. Doch Objekt der Begierde des Grafen ist ausgerechnet Susanna, die Kammerzofe der Gräfin. Sie wird zum Ziel seiner lüsternen Attacken, während er gleichzeitig seine eigene Frau in rasender Eifersucht in flagranti zu ertappen hofft. Die emotional hoch aufgeladene Situation droht komplett zu entgleiten, da der liebestaumelnde, pubertierende Page Cherubino immer im falschen Moment allen Frauen seine Avancen macht und den Grafen damit schier zur Verzweiflung treibt. Und Figaro, der vor Kraft strotzende Einfaltspinsel, merkt erst sehr spät, welche Spielchen um ihn herum getrieben werden. Doch am Ende eines turbulenten Tages lösen sich die Irrungen und Wirrungen, die die Beziehungsgeflechte auf der Gefühlsebene verbinden, in harmonisches Wohlgefallen auf.

Vorlage zu Mozarts Oper von 1786 war die wenige Jahre zuvor uraufgeführte Komödie La folle journée ou Le mariage de Figaro, die zum größten Bühnenerfolg des Autors Pierre-Augustin de Beaumarchais wurde. Die bitterböse Satire auf den übergriffigen Adel wurde zum Fanal der Französischen Revolution. Das kongeniale Libretto von Lorenzo Da Ponte spricht zudem Dinge wie Langeweile nach den ersten Ehejahren, Vertrauensbruch und weibliche Selbstbestimmtheit an.

Staatsintendant und Regisseur Josef E. Köpplinger inszeniert fast genau zwei Jahre nach der erfolgreichen Premiere von Der Barbier von Sevilla, die noch unter „Corona-Bedingungen“ zur Aufführung kam, die Fortsetzung der Heiratskomödie. Wie schon beim Barbier verlegt er die Geschichte nach Spanien in die 1960-er Jahre, also zur Zeit Francos. Doch das weiß man eigentlich nur, wenn man das Programmheft gelesen hat, ansonsten deutet da wenig auf diese Verortung hin. Johannes Leiacker, der schon die großartigen Bühnenbilder für den Barbier von Sevilla und die Großherzogin von Gerolstein geschaffen hat, übertrifft sich mal wieder selbst. Sein Bühnenbild zeigt das Innere des Palastes des Grafen Almaviva, der ziemlich heruntergekommen ist. Da bröckelt im wahrsten Sinne des Wortes der Putz ab, es gibt Löcher in den Wänden, Fenstern. Das Zimmer, in dem sich Figaro und Susanna im ersten Aufzug aufhalten, ist gleichzeitig Wäschekammer und Vorratsraum. Das Bett der beiden besteht aus alten Palletten, auf dem Figaro und Susanna während der Ouvertüre liegen, bevor ein nerviger Wecker den Schlummer der beiden beendet. Und schnell wird klar: Köpplinger geht es nicht um die politischen Hintergründe, sondern er möchte das Gefühlsleben der verschiedenen Protagonisten und ihre Beziehungsgeflechte untereinander ausleuchten. Wer Köpplinger kennt, der weiß, der kratzt nicht an der Oberfläche, sondern geht in die Tiefe und zeigt schonungslos das teils verwirrte Seelenleben der handelnden Personen auf. „Das Perfekte ist für mich nicht nur die geniale Musik von Mozart, sondern diese Seelenwelt, die sich da auftut“, sagt er selbst. Über den Figaro sagt er, dass dieser ja nur aus einem einzigen Grunde zum Revolutionär werde, weil man ihm das Recht zu lieben nehmen möchte. Damit kommt er auf den Kern des Werkes zu sprechen. Der Graf hat zwar offiziell das „ius  primae noctis“, das  Recht der ersten Nacht des Adligen, abgeschafft, aber tief in seinem Herzen hängt er dieser längst überholten und nicht mehr zeitgemäßen Sitte noch nach und stellt ziemlich unverhohlen Susanna nach. Bei Köpplinger ist der Graf ein cholerischer, eifersüchtiger Haustyrann, an dem nicht viel liebenswertes mehr dran ist, der auch schon mal mit dem Gürtel seines Bademantels auf seine Bediensteten einschlägt. Besonders Cherubino, der pubertierende Junge, ist Ziel seiner Aggressionen. Natürlich beschreibt Köpplinger diese Szene auch wieder mit einem Augenzwinkern, da ihm die Darstellung reiner Aggression zu einseitig ist. Wenn sich Cherubino anschließend den geprügelten Hintern am offenen Kühlschrank kühlt, dann bleibt kein Auge trocken. Neben der Situationskomik arbeitet der Regisseur die Beziehungen der Figuren zueinander erstklassig heraus, mit einer durchaus beachtlichen Detailversessenheit.

Auch das Zimmer der Gräfin im zweiten Akt  lässt die einstige Noblesse nur noch erahnen.  Der Grundaufbau des Bühnenbildes bleibt gleich, nur das Wandbild hat sich geändert. Die Kostüme von Thomas Kaiser sind der Zeit angepasst, einschließlich der Militäruniform Cherubinos. Die Szene, in der der Graf glaubt, seine Frau mit dem Pagen in flagranti zu erwischen, charakterisiert einen schon hemmungslos aggressiven Almaviva. Da ist nichts mehr von noblem Verhalten zu erkennen. In kaum einer Inszenierung ist der Graf so schonungslos demaskiert worden wie bei Köpplinger. Allerdings haben sowohl die Gräfin als auch Susanna ihre Schwächen, die das überzogene Verhalten des Grafen dann wieder relativieren. Beide kokettieren und flirten schon ziemlich hemmungslos mit Cherubino, der gar nicht mehr weiß, welcher Frau er sich zuerst zuwenden soll, und da ist Barbarina noch gar nicht im Spiel.

Für kurze Unruhe im Publikum sorgt nach der Pause der Kurzauftritt der edlen Setter-Hunde Ginger und Grace, die auf der Bühne dem Grafen zu Füßen liegen und mit allerlei Leckerlies versorgt den Auftritt sichtbar zu genießen scheinen. Das Bühnenbild ist jetzt eine Art Ballsaal mit kleiner Bühne und einem Vorhang, der dem des Gärtnerplatztheaters nachempfunden ist. Hier kann der Graf schon fast enthemmt seine Rachearie so schmettern, dass einem um die Gräfin und vor allem um Cherubino Angst und bange wird. Das Finale, in dem die Gräfin und Susanna die Kleider tauschen, um Graf und Figaro zu täuschen, steuert seinem großen Höhepunkt entgegen. Figaro reißt in seiner letzten Solo-Arie den Vorhang runter, und im Hintergrund wird ein gemalter Säulengang sichtbar, der Ort des großen Finales. Köpplinger schafft es, auch durch eine überzeugende Lichtregie gemeinsam mit Peter Hörtner eine schon fast körperlich spürbare Spannung aufzubauen. Als der Graf erkennt, dass seine Frau ihn nicht betrogen hat und er sie im Hochzeitskleid Susannas nicht erkannt hat, ist für einen Moment Totenstille auf der Bühne. Alles wartet auf den großen Moment, wo er vor ihr auf die Knie geht und sie um Verzeihung bittet. Doch er geht ab, kommt zurück, lacht irritiert, hält das Ganze wohl für einen Riesenspaß. Doch auf der Bühne ist totales Schweigen. Ein ganz großer Moment, kaum zum Aushalten. Erst da erkennt Almaviva seinen Fehler und sein Fehlverhalten, und dann sinkt er endlich nieder und bittet die Gräfin um Verzeihung. Dann herrscht plötzlich wieder große Heiterkeit, alles scheint sich in Friede, Freude, Eierkuchen aufzulösen. Doch das ist nur die oberflächliche Wahrnehmung. Die Ehe des Grafen und der Gräfin ist gescheitert, und ob die Ehe von Susanna und Figaro unter einem guten Stern steht, das darf doch bezweifelt werden. Köpplinger und sein Regieteam haben mit dieser Darstellung von „Szenen einer Ehe“ ein sehr emotionales und berührendes Werk auf die Bühne gebracht, dass das konventionelle Lustspiel fast schon konterkarikiert. Selten sind drei Stunden so schnell und so spannend vergangen. Nach dem Lustspiel Der Barbier von Sevilla ist Köpplinger mit Figaros Hochzeit eine Opera buffa mit ganz vielen menschlichen Facetten gelungen.

Dass dieser Abend so ein Riesenerfolg werden konnte, ist auch dem großartigen Sängerensemble zu verdanken. Sophie Mitterhuber als Susanna ist die Leitfigur, um die sich alles dreht. Sie erträgt geduldig die sexuellen Avancen des Grafen und von Cherubino. Sie lenkt das Spiel von Begierde und Zurückweisung geschickt bis hin zum großen Finale. Mal trotzig wütend, wenn sie Figaro ohrfeigt, mal kokett mit dem Grafen flirtend, dann wieder liebevoll entrückt, wenn sie an den Geliebten denkt. Ihre wunderbar schlank geführte lyrische Sopranstimme kommt vor allem in der großen Rosen-Arie Deh, vieni, non tadar, oh gioia bella im vierten Akt zur Geltung, die sie mit großer Innigkeit und Wohlklang gestaltet. Die Höhen im zarten Piano verträumt gesungen, berühren tiefe Gefühle. Levente Páll gibt den Figaro in Spiel und Gesang als kraftvollen, ja, fast schon überschwänglichen Gegenpol. Er will das Heft des Handelns in der Hand halten, so in seiner Tanz-Arie Se vuol ballare, Signor Contino, die er markant gestaltet, und bemerkt doch gar nicht, dass sowohl der Graf als auch seine Susanna ihn manipulativ beeinflussen. Dramatisch menschlich seine Arie Aprite un po‘ quegli occhi zu Beginn des vierten Aktes, die er mit großer Intensität singt und seinen markanten hohen Bass zur vollen Entfaltung bringt.

Ludwig Mittelhammer als Graf Almaviva ist mit seiner aristokratischen Ausstrahlung optisch wie stimmlich eine Idealbesetzung. Er ist ein Verführer par excellence, dem man seine schmeichelnden Liebesschwüre wie auch seine rasende Eifersucht abnimmt. Doch wird er nicht auf seine Libido reduziert, sondern darf auch ganz menschliche, fast schon tragische Züge zeigen, zu denen auch seine unkontrollierten cholerischen Anfälle gehören.  Denn eigentlich ist er ganz einsam und weiß erst am Schluss, was er wirklich an seiner Gräfin hat. Sein mit edlem Timbre geführter, galanter Bariton entfaltet sich besonders wuchtig in der großen Entbehrungsarie Vedrò mentr’io sospiro, felice un servo mio im dritten Akt, in dem er sich dramatisch in Rachefantasien ergibt. Sein ausdrucksstärkster Moment ist zweifelslos die finale Szene, in der er seine Gräfin um Verzeihung bittet, Contessa, perdono.  Hier wandelt sich der überhebliche Habitus zu einer tiefen und gefühlvollen menschlichen Geste, auch wenn er dafür einen langen Moment des Nachdenkens braucht. Ana Maria Labin überzeugt als Gräfin Almaviva als eine in der Liebe vernachlässigte und in ihrem Gefühlsleben gekränkte, verwundete Frau, die zu Recht um die anhaltende Liebe und Begierde ihres Gemahls bangt. Berückend die leise, lyrische und innige Interpretation ihrer Auftrittsarie im zweiten Akt Porgi amor, qualche ristoro, in der sie den Tod herbeisehnt, wenn die Liebe nicht zurückkehrt. Doch sie kann auch leidenschaftlich klagen und Dramatik in die Stimme legen wie im großen Rezitativ und der Arie im dritten Akt E Susanna non vien … Dove sono i bei momenti. In den dramatischen Ausbrüchen und in den Höhen vernimmt man ansatzweise ein zu starkes Vibrato in der Stimme, was den Gesamteindruck etwas trübt.

Anna-Katharina Tonauer als Cherubino ist ganz klar der eigentliche Stern der Aufführung. Sie begeistert als lüsterner, pubertierender Page, vor dem kein Rockzipfel sicher ist. Ihr jugendlich klingender Mezzosopran überzeugt mit Intensität und Durchschlagkraft. Wärme und Gefühl, Irrung und Wirrung legt sie stimmlich akzentuiert in die beiden Arien Non sò più cosa son, cosa faccio und Voi, che sapete che cosa è amor.

Anna Agathonos verleiht mit ihrem dramatischen Mezzosopran und ihrer Spielfreude der Rolle der Marcellina eine besonders schrille Note. Wunderbar passend dazu der Bass Reinhard Mayr als Don Bartolo, der seiner rachsüchtigen Auftrittsarie La vendetta ein markantes Profil verleiht. Julia Sturzlbaum verleiht der Figur Barbarina mit leichtem Sopran und ausdrucksstarkem Spiel einen besonderen Charakter. Juan Carlos Falcón als schleimiger Basilio, Caspar Krieger als Don Curzio und Alexander Grassauer als Gärtner Antonio reihen sich sängerisch und schauspielerisch nahtlos in das großartige Sängerensemble ein.

Der Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz, einstudiert von Dovilė Šiupėnytė, ist stimmlich und darstellerisch gut präsent und bereitet dem Publikum ein homogenes Hörerlebnis, wie insgesamt das Ensemble durch spielerische Intensität überzeugt und damit zu einem kurzweiligen Abend beiträgt. Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter der Leitung seines designierten GMD Rubén Dubrovsky spielt einen vom Ballast befreiten und dennoch intensiven Mozart. Schon die Ouvertüre, schwungvoll und dynamisch, erzählt von den Wirren eines verrückten Tages, dessen Ende sich musikalisch früh erahnen lässt. Die sinnlich erotisierende Musik Mozarts ist transparent mit schwungvollen Bögen und Phrasierungen und macht die Aufführung zu einem großen musikalischen Genuss, in dem die Sänger im Vordergrund stehen und das Orchester eine dienende Rolle einnimmt, auch wenn man sich bei manchen Orchesterpassagen vielleicht eine ausgewogenere Differenzierung der einzelnen Orchestergruppen gewünscht hätte.

Am Schluss gibt es von dem begeisterten Publikum im ausverkauften Theater enthusiastischen Jubel für ein großartiges Ensemble und ein hervorragend aufgelegtes Orchester. Auch das Regieteam um Josef E. Köpplinger erhält zu Recht großen Applaus für diese Darstellung. Mit der Inszenierung hat das Gärtnerplatztheater nun endlich wieder eine der populärsten Opern auf dem Spielplan, die das Zeug zu einem absoluten Dauerbrenner hat. Und die Bayerische Staatsoper München, die im Dezember ebenfalls einen neuen Figaro auf die Bühne bringen wird, muss sich da einiges einfallen lassen, wenn sie den Erfolg toppen will.

Andreas H. Hölscher