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Grandios gescheitert

MUSIK BLEIBT
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
29. März 2020
(Livestream)

 

BR-Klassik, München

Eigentlich war es eine großartige Idee. Wir führen ein ganzes Festival digital auf. Lauter große Namen der Klassik-Szene werden zusammengeschaltet, verzichten auf ihre Gage und spenden diese dem Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung. Der Fonds unterstützt freischaffende Musiker, die aufgrund des Aufführungsverbotes in Deutschland keine Einnahmen mehr haben. Früher nannte man das Spendengala. Das ambitionierte Ziel ist eine Million Euro am Ende der viereinhalbstündigen Veranstaltung. Denn selbstverständlich sollen die Zuschauer des Festivals auch spenden.

Ein solches Unterfangen schüttelt man nicht eben aus dem Ärmel. Dafür benötigt man im Grunde den ganzen Apparat, den in dem Umfang nur eine Rundfunkanstalt bieten kann. BR-Klassik, der Rundfunksender, dem man die höchste Kompetenz in Sachen Klassik-Events zusprechen kann, übernimmt die Austragung. Allzu gut ist noch der ambitionierte Plan des Senders in Erinnerung, sich ganz von der Radiofrequenz zugunsten einer gigantischen Internet-Plattform zu verabschieden. Da ist die Spannung groß, wie solche Vollprofis mit all ihren technischen Möglichkeiten und dem dazugehörigen Know-how ein solches Mammut-Vorhaben in den Griff bekommen. Es sei an dieser Stelle bereits verraten: gar nicht. Das hätte ohne Übertreibung jeder kleine Dienstleister, der auch nur ein wenig vom Internet versteht, besser hinbekommen.

Die Presse wird zu dem Ereignis Musik bleibt eingeladen, noch drei Tage zuvor mit einem Erinnerungsschreiben, das den Beginn um 18 Uhr verkündet. Tatsächlich fängt die Übertragung eine halbe Stunde eher an. Enden soll sie, so ist zunächst zu hören, gegen 22.30 Uhr. Zwischenzeitlich ändert sich die Prognose auf 22 Uhr, aber um 22.30 Uhr ist noch immer das Video vom Goldmund-Quartett zu hören. Gleich auf drei Plattformen wird der Livestream hochgeschaltet. Die Website von BR-Klassik, Facebook und YouTube werden bespielt. Glücklich, wer alle drei öffnet. Denn dann stellt man fest, dass es wenigstens bei YouTube ein paar Informationen gibt, die man woanders vergeblich sucht. Zumindest vorläufig.

Es gibt keinen Konzertabend, der nicht mindestens mit einem Abendzettel aufwartet, auf dem das Programm und die Künstler aufgeführt werden. BR-Klassik reicht es, ein „line-up“, also eine Aufzählung der meisten Künstler in alphabetischer Reihenfolge vorzunehmen. Bei YouTube immerhin gibt es einen Live-Chat, in dem die in der Spitze 350 Zuschauer sich gegenseitig informieren können, welche Stücke gerade aufgeführt werden. Allerdings auch nur bis 20 Uhr, dann endet der Live-Chat, warum auch immer. Ab dann ist der Zuschauer auf die Informationen der Musiker angewiesen, die allerdings kaum zu hören sind.

Wenn ein Radiosender eine solche Veranstaltung übernimmt, darf man erwarten, dass eine durchgängige Sendequalität gewährleistet wird. Im Internet scheint sich BR-Klassik dafür aber nicht zuständig zu fühlen. Dass Moderatorin Annekatrin Hentschel rund 20 Minuten ohne Ton spricht, fällt beim Sender offenbar niemandem auf. Das ist insofern nicht weiter schlimm, als ihre Rolle im Wesentlichen auf das Aufsagen von Spendenaufrufen festgelegt ist. Zwei, drei Interviews fallen durch Standardfragen auf. Da wäre jedem Reporter einer Schülerzeitung Aufregenderes eingefallen. Noch dazu ist das „Studio“, aus dem Hentschel aufsagt, so unglücklich gestaltet, dass Augenkontakt mit dem Publikum eher zufällig stattfindet. Ärgerlicher ist die Tonqualität noch bei den Einspielungen der Musiker. Selbstverständlich kann man von einem Musiker nicht erwarten, dass er in der Lage ist, eine Live-Übertragung ausreichend zu mikrofonieren. Dazu wird ihm in der Regel schon das nötige Material im Wohnzimmer fehlen. Die Vorstellung, dass hier BR-Klassik-Techniker im Vorfeld helfend eingreifen, erweist sich als Irrtum. Und so bleibt die Hand des Zuschauers ständig am Lautstärke-Regler, übernimmt also die Arbeit des Tontechnikers selbst. Unter solchen Bedingungen muss man schon echter Fan sein, um die Auftritte der Künstler noch sehen zu wollen.

„Singen und Klavierspielen kann ich nicht“, erklärt Golda Schultz und singt a cappella im Wohnzimmer. Nachdem ein Schubert-Lied mit viel Vibrato vorgetragen ist, das klingt wie ein im Wohnzimmer gesungenes Lied, ist die Sängerin zu Tränen gerührt. Warum Schultz so nah am Wasser gebaut hat, wird nicht ganz ersichtlich; auch nicht, als sie ein Heimatlied auf Afrikaans vorträgt. Mit Somewhere schließt sie ihren Auftritt, der unter den technischen Bedingungen verliert.

Anschließend erscheint Jonas Kaufmann auf der Leinwand, der im Vorfeld als „Zugpferd“ für das Festival fungierte. Aber nicht etwa, um aus dem Wohnzimmer mit seiner Stimme zu brillieren, sondern um mit roter Baseball-Kappe auf dem Kopf zu erklären, dass eine Erkältung einen Auftritt verhindere. Dass dieser Flop später noch einmal wiederholt wird, grenzt an Peinlichkeit.

Klarinettist Andreas Ottensamer verlässt sich nicht auf das Wohnzimmer, sondern verzieht sich mit dem Pianisten Julien Quentin in ein Studio, um Fantasiestücke von Robert Schumann vorzutragen, Mendelssohns Venezianisches Gondel-Lied und Wie Melodien zieht es mir von Johannes Brahms aufzuführen. Ein kurzer Lichtblick, ehe die Hand wieder zum Lautstärke-Regler greift.

Magdalena Kožená und Ohad Ben-Ari – Screenshot

Denn als nächstes tritt Mezzosopran Magdalena Kožená mit dem Pianisten Ohad Ben-Ari in Berlin am heimischen Flügel auf – und es wird nicht vergessen zu erwähnen, dass ihr Ehemann, Simon Rattle, im Hintergrund darauf aufpasst, dass der Hund nicht bellt. Ach, bitte! Kožená erzählt auf Englisch, welche Lieder sie singen will – hier muss der Lautstärkeregler wieder ganz nach oben, zumindest für die, die des Englischen mächtig sind, aber wehe, wenn das Piano einsetzt – und sie hat ein interessantes Programm ausgewählt, nämlich Lieder von Bohuslav Martinů, Antonín Dvořák und Leoš Janáček, das völlig verpufft, weil in Originalsprache vorgetragen die Untertitel fehlen. Allmählich weicht die Wut über die Unfähigkeit und Lieblosigkeit von BR-Klassik einem heiligen Zorn.

Der will auch nicht weichen, als NoPhilBrass, ein Bläserquintett, das sich aus dem Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks rekrutiert hat, ohne Ton startet. Kein Live-Auftritt, sondern ein Video, in dem die Musiker in der Drechslerei Peter Seiler, einem Originalschauplatz, das Thema der Pumuckl-Serie im Fernsehen aufführen, wird hier eingespielt. Wie kann hier der Ton ausfallen? Doch nur, wenn die Technik erneut pennt.

Pianistin Susanna Klovsky begleitet den Bariton Michael Nagy bei einer Schubertiade im BR-Studio in München. Ein gelungener Auftritt, dem sogleich die nächste technische Panne folgt. Das Interview mit Nagy scheitert, obwohl man die Rundfunk-Assistentin bei ihren Versuchen, der Technik Herr zu werden, minutenlang folgen kann. Da möchte man gern annehmen, dass es sich um eine Praktikantin handelt, damit man das aushält. Obwohl sich dann auch gleich die Frage stellt, warum hier nicht ein gestandener Techniker das Problem mit ein, zwei Griffen lösen kann.

Stattdessen gibt es die nächste Einspielung. Ein flaches Skype-Interview mit dem Geiger August Hadelich, den man vor Kurzem in der Kölner Philharmonie bewundern durfte. Inzwischen ist er nach Connecticut zurückgereist, wo er anschließend im Haus der Schwiegereltern Musik aus seinem aktuellen Programm in Zimmerqualität zum Besten gibt. Selbst dann noch klingt ein Hadelich wunderbar.

Und weiter geht es zur nächsten Aufzeichnung. Das mit dem Live-Festival hat man inzwischen längst vergessen. Lorenzo Viotti hat in Lyon seine Familie um sich versammelt. Bis auf seine Schwester in München, die aus München zugeschaltet wird. Die Familie singt zwei Lieder, ehe – folgt man den Fans im Live-Chat – endlich der Höhepunkt des Abends kommt: Eine Aufzeichnung.

Lang Lang hält eine kurze Ansprache auf Englisch. Vom Publikum gedrängt, lässt BR-Klassik im Live-Chat verlauten: „Enjoy some Chopin by Lang Lang“ – Genießen Sie ein bisschen Chopin von Lang Lang. Der Tiefpunkt ist erreicht. Immerhin erfährt man vom Publikum, dass es sich um Prière pour les malades handelt, dem eine sekundenlange Etüde von Czerny folgt.

„Die Tonqualität ist toll. Vor allem, wenn man bedenkt, was für einen riesigen Kirchenraum St. Michael hat – und die Orgel klingt hier zwar voll, aber trotzdem intim und fein zugleich“, kommentiert Zuschauerin Cornelia Rémi den Auftritt von Peter Kofler an der Orgel der Münchner St.-Michaelskirche und hat Recht. Kofler spielt gerade das Gesamtwerk von Bach in der Kirche ein und deshalb ist die Kirche optimal mikrofoniert. Das fasziniert die Verantwortlichen von BR-Klassik so sehr, dass es gleich mal eine halbe Stunde Bach gibt. Die Zuschauerzahlen auf YouTube sinken weiter ab. Obwohl das eigentlich bei einer Spendengala, bei der inzwischen weniger als 300 Zuschauer dabei sind, auch schon egal ist.

Mit dem Auftritt Kofler endet auch der Live-Chat. Und irgendwie wird man den Eindruck nicht los, dass auch bei BR-Klassik die Luft raus ist. Der Auftritt von Tareq Nazmi und Gerold Huber, die Schumann-Lieder aufführen, findet zwar im Studio des Bayerischen Rundfunks in München statt, klingt aber eher so, als hielten sich die beiden in einer Bahnhofshalle auf.

Dann serviert Magdalena Hoffmann, Solo-Harfenistin beim Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks, einen echten Höhepunkt. In der Akustik ihres Wohnzimmers ist zwar nicht zu verstehen, was sie erzählt, und so entgeht dem Zuschauer auch der Titel des Stücks, aber es klingt großartig.

Dann geht es wieder zurück ins Studio München, um Raffaela Gromez und Julian Riehm zu hören. Von Nils Mönckemeyer an der Bratsche und William Youn am Klavier gibt es erst mal nur ein Standbild, aber dann sorgt sogar ein Kameramann für bewegte Bilder. Cellist Sheku Kanneh-Mason wird als Konserve aus London eingespielt, und das Goldmund-Quartett hat sich noch viel Mühe mit einem Video gegeben. Das wird allerdings mit dem Schlussbild um 22.36 Uhr kurzerhand abgeschnitten.

Lieblos, unprofessionell, verschenkt: BR-Klassik hat eine große Idee im Sand versenkt. Da bleibt die Hoffnung, dass die Zuschauer, die längst an unterdurchschnittliche Präsentationen gewöhnt sind, ausreichend für die Musiker gespendet haben. Dann hätte sich der Einsatz der bekannten Namen immerhin gelohnt, nachdem sich die „erste Garde“ elegant zurückgezogen hat oder gar nicht erst angetreten ist.

Michael S. Zerban