O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Melancholie und Schmerz

LIEDERABEND CHRISTIAN GERHAHER
(Robert Schumann)

Besuch am
24. Juli 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Prinzregententheater, München

Es ist ein besonderer Liederabend, der dem Münchner Opernfestspielpublikum an diesem Abend im Prinzregententheater präsentiert wird. Christian Gerhaher und Gerold Huber sind mit einem reinen Robert-Schumann-Programm zu Gast. Kenner wissen natürlich, dass das Straubinger Duo in einem Mammutprojekt über mehrere Jahre alle Lieder von Robert Schumann auf CD eingespielt hat. Das war auch ein langgehegter Traum für den Bariton Gerhaher gemeinsam mit seinem Klavierpartner Huber. Im Herbst 2021 kam die elfteilige CD-Box mit 299 Liedern auf dem Markt, und seitdem haben die beiden in puncto Schumann sowas wie ein Alleinstellungsmerkmal, wie einst Fischer-Dieskau bei Schubert. In seinem vor einem Jahr erschienen Lyrischem Tagebuch geht Gerhaher sehr dezidiert auf die Auswahl der Programme für seine Liederabende ein, an die er ganz bestimmte Bedingungen oder Kriterien knüpft, um aus dem Programm kein „Mini-Drama“ zu machen. Auch sagt Gerhaher, dass die drei für ihn bedeutendsten Liedkomponisten, Schubert, Schumann und Mahler, ihm „unüberbrückbaren Respekt“ abfordern. Er könnte sie nie an einem Abend kombinieren und nebeneinander aufführen, zu eigenständig seien sie in ihrem Idiom, ihrem Habitus. „Schubert und Schumann unterscheiden sich in der Gewichtung des Klavierparts, dessen Eigenständigkeit, in der neuartigen Wichtigkeit von Vor-, Zwischen und Nachspielen nur graduell.“ Als Zuhörer eines Liederabends sind sehr wahrscheinlich diese Details, die für eine Programmauswahl entscheidend ist, eher zweitrangig.

Wenn er auf das Besondere der Liedkunst zu sprechen kommt, vielleicht auch im Vergleich zur Oper, dann ist die Aussage Gerhahers ganz klar: „Lieder sind eine vokale Form der Kammermusik, und sie repräsentieren – wie die Oper das Drama und das Oratorium das Epische – die Lyrik in der gesungenen Musik.“ Auch was den Ausdruck betrifft, bringt Gerhaher das auf den Punkt: „Expressive Intimität ist beim Lied Programm und Haltung, während sie im Ablauf einer Oper lediglich situativ entsteht und sich erst durch einen dramaturgisch sinnvollen Platz im Handlungsgefüge erklärt.“

Aus dem großen Liedschaffen Robert Schumanns, der sich in seinen jungen Jahren auch als Dichter betätigt hat, haben Gerhaher und Huber für diesen Abend insgesamt fünf Lieder-Zyklen unterschiedlicher Dichter ausgewählt, die thematisch durchaus Gemeinsamkeiten besitzen. Für Gerhaher ist die zyklische Aufführung als Ganzes eine conditio sine qua non. Doch bevor es soweit ist, gibt es eine Ansage, dass Christian Gerhaher wegen starker Hüftschmerzen etwas indisponiert sei, den Liederabend aber in jedem Falle singen wolle.

Um es vorwegzunehmen, die Schmerzen sieht man Gerhaher an, das Gesicht ist über weite Strecken sehr angespannt, und er versucht auch beim Singen, eine gewisse Schonhaltung einzunehmen, um diesen Abend überhaupt durchzustehen. Es ist umso bemerkenswerter, dass sich das auf seinen Liedvortrag nur marginal auswirkt, es fehlt ihm etwas die Leichtigkeit im Ausdruck. Aber vielleicht ist es gerade der Schmerz, den Gerhaher fühlt, und die Melancholie in Wort und Musik, die in Kombination einen so ausdrucksstarken Abend erst möglich machen.

Eröffnet wird der Liederabend mit Fünf Lieder für eine Singstimme und Klavier op. 40 nach Gedichten von Hans Christian Andersen und Claude Charles Fauriel in der deutschen Übersetzung von Adelbert von Chamisso. Unter den zahlreichen Liederzyklen nehmen die im Juli 1840 komponierten Fünf Lieder eine gewisse Sonderstellung ein. Musikalisch greift Schumann die in Chamissos Übertragungen dargestellten Bilder auf, wobei er besonders die Klavierstimme zu deren Interpretation einsetzt. So wird im ersten Lied Märzveilchen das Wort „Augenpaar“ auffällig hervorgehoben, im zweiten Lied Muttertraum durch die Klavierbegleitung an das Schaukeln einer Wiege erinnert, und im dritten Lied Der Soldat dominiert der markante Marschrhythmus. Im vierten Lied Der Spielmann erreicht die Sammlung ihren dramatischen Höhepunkt. Gerade hier tritt das Klavier besonders effektvoll auf. Zwar gelingt Schumann mit Verrathene Liebe ein eher schlichter Abschluss, dennoch ragt aber auch hier die Klavierstimme wieder durch ihre artifizielle Gestaltung heraus. Gerhaher singt den Zyklus in den ersten beiden Liedern noch mit einer gewissen Zurückhaltung, um dann im Lied Der Soldat sehr ausdrucksstark zu werden mit dramatischem Schluss. Auch im Der Spielmann phrasiert Gerhaher mit ausdrucksstarker Leidensfähigkeit, und sein ansonsten kultiviert wohlklingender Bariton schraubt sich in den dramatischen Ausbrüchen schon fast in tenorale Höhen, immer von Huber präzise und unprätentiös begleitet.

Foto © O-Ton

Nach diesem überzeugenden Einstieg folgt als erster Höhepunkt der Liederkreis op. 39 nach zwölf Gedichten von Joseph Freiherrn von Eichendorff, die Robert Schumann zwischen Mai und Juni 1840 vertonte. „Ach, ich kann nicht anders, ich möchte mich todt singen wie eine Nachtigall“, meldete er seiner Braut Clara Wieck. „Der Eichendorff’sche Cyklus ist wohl mein aller Romantischstes und es steht viel von Dir darin…“ Tatsächlich galt der Liederkreis op. 39 bei einer breiten Hörerschar rasch als bestes Beispiel hoher romantischer Liedkunst. Eichendorff war einer der bedeutendsten Dichter für Schumann, weil er dort sein romantisches Lebensgefühl wiederzufinden glaubte, das sich vor allem im Erwecken einer unendlichen Sehnsucht äußerte. Gerade dieses tiefe, als Hauptmerkmal der Romantik empfundene Sehnsuchtsgefühl durchzieht den gesamten Liederkreis op. 39: Sei es die Sehnsucht nach Heimat des In der Fremde Weilenden, die Sehnsucht nach geheimnisvoller Geborgenheit Im Walde, die Sehnsucht des Liebenden nach dem fernen, geliebten Menschen wie in Schöne Fremde, Intermezzo oder Die Stille und nicht zuletzt die Sehnsucht des Menschen nach dem Überirdischen im wohl bekanntesten aller Lieder, der Mondnacht. Während die meisten Stücke dem romantischen Typus der „Nachtlieder“ zuzuordnen sind, spielt in Zwielicht auch jenes als rätselhaft und unheimlich angesehene Zwischenreich der Dämmerung eine Rolle. So finden sich in Opus 39 sämtliche zentralen Elemente des romantischen Welterlebens wieder, allen voran der Wald in seinem geheimnisvollen Dunkel als Hort der Geborgenheit, aber ebenso der als dämonisch empfundenen Bedrohung. Schumann beleuchtet Eichendorffs Lyrik mit musikalischen Mitteln neu und entwickelt sie auf der Basis aller im Text enthaltenen Motive weiter. So wird die Vorlage nicht nur tonmalerisch ausgedeutet, sondern an einigen Stellen auch durch Hinzufügen eigener Sinngebung erweitert. Häufig verwendet Schumann die Tonfolge E-H-E, womit nachhaltig der Bezug zu seinem Bemühen einer Eheschließung mit Clara Wieck hergestellt wird mit dem fröhlichen Abschluss in der Frühlingsnacht mit dem jubelnden Ergebnis: „Sie ist dein!“

Über die großen Anforderungen, die Schumann an Sänger und Pianisten stellt, hat Christian Gerhaher einmal gesagt: „Gerold Huber und ich, wir haben es vielleicht 1, 2 Mal bisher geschafft, dass wir anschließend sagen ‚Genau so muss es sein‘, Proben eingeschlossen. Es sind große Anforderungen, die Schumann da an Sänger und Pianisten stellt. Zum Beispiel Auf einer Burg – das ist maximal schwer. Kein Klaviervorspiel, kaum eine Pause zum ordentlich Atmen, eine unglaubliche Leere und Apathie, die man rüberbringen muss (genauso schwer ist der Greisengesang von Schubert). Oder Im Walde, das vielleicht genialste Stück des ganzen Zyklus. Es ist gesangstechnisch einfach. Aber musikalisch das Fern- und Nahsein, das Innere der Aussage zu treffen, ist unglaublich schwer. Die Mondnacht, vor der ja viele sich besonders ängstigen, empfinde ich allerdings als eher einfach, sofern man die Ruhe und Weite in der Stimme trifft. Natürlich kann die Höhe ein Problem werden und das Klavier muss halt sehr gut mitgehen und mitgestalten.“ Wenn man die Analyse des Sängers als Maßstab nimmt und dabei berücksichtigt, dass er mit starken Schmerzen singt, dann ist dieser Zyklus etwas sehr persönliches, fast schon intimes, was Gerhaher da von sich preisgibt, dessen Leiden man spürt, ähnlich wie er den Amfortas im Parsifal verkörpert. Gerhaher lässt sich auf die Düsternis und Schwermut des Zyklus ein, besonders wenn er wie am Schluss vom Waldesgespräch hochdramatisch endet. Und die von ihm angesprochene Mondnacht interpretiert er sehr romantisch, im Piano gesungen mit konzentriertem Ausdruck. Leider werden die Huster im Publikum zwischen den einzelnen Liedern immer lauter und heftiger, was die emotionale Spannung des Liederzyklus‘ doch arg strapaziert. Gerhaher hält den Zyklus durch, mit spürbarer Leidensfähigkeit im Ausdruck und in der Körperhaltung. Schon zur Pause gibt es großen Applaus und Jubel für das Künstlerpaar auf der Bühne.

Den zweiten Teil eröffnen Gerhaher und Huber mit den Drei Gesängen op. 83 nach Gedichten von Julius Buddeus, Friedrich Rückert und Joseph von Eichendorff. Der kurze Zyklus ist nicht so bekannt, besticht aber durch seinen romantisch-melancholischen Duktus, den Gerhaher wieder sehr ausdrucksstark interpretiert. Auch die folgenden Romanzen und Balladen op. 53 nach Texten von Johann Gabriel Seidl, Wilhelmine Lorenz und Heinrich Heine sind weniger populär, aber sehr interessant und teils morbide, wie die Ballade Der arme Peter von Heinrich Heine, in der die Todessehnsucht auf romantische Art verklärt wird. Gerhaher und Huber lassen die morbide Stimmung spürbar werden.

Höhepunkt des zweiten Teils sind die Sechs Gedichte von Nikolaus Lenau und Requiem op. 90.   Im Jahr 1838 sah Schumann den Dichter Lenau während seines Aufenthaltes in Wien in einem Café, traute sich aber nicht, ihn anzusprechen. Er begann mit der Abschrift von Gedichten und dem Studium seiner Werke. Nur wenig später am 17. Dezember 1838 wurde Schumann dann Lenau bei einem Empfang in der Wohnung des Pianisten Dessauer von Joseph Fischhof vorgestellt. In seinem Tagebuch notierte er das melancholische, sanfte und einnehmende Wesen des Dichters, dem er nur wenige Tage später erneut begegnete. 1850 vertonte Schumann erstmals sechs Gedichte von Lenau und fügte ihnen, im Glauben, Lenau sei bereits gestorben, ein Requiem für Nikolaus Lenau an, dessen Liedtext die Totenklage der Nonne Heloise um ihren Geliebten Abaelard ist. Lenau starb erst einige Wochen später in einer psychiatrischen Klinik. Ein Schicksal, dass Schumann sechs Jahre später mit Lenau teilen sollte. Schumanns Vertonungen erschienen 1851 als Sechs Gesänge und ein Requiem op. 90 in Leipzig. Während die sechs Lieder wieder romantische Schwermut verbreiten, ist das kurze Requiem vom Erlösungsgedanken geprägt, mit dramatischen Momenten, ein grandioser Schlusspunkt eines von Schmerzen gezeichneten Christian Gerhaher, der genauso wie Gerald Huber, der ihn auf Augenhöhe und als Freund begleitet, den verdienten Jubel des Publikums entgegennimmt. Und trotz der sichtbaren Anstrengungen, die der Liederabend Gerhaher gekostet hat, lässt er es sich nicht nehmen, noch insgesamt vier Lieder als Zugabe zu singen, darunter die Tragödie op. 64 No. 3 und Blaublümlein.

Ein schwermütiger, bewegender Liederabend geht zu Ende, und wer das alles nachhören möchte, dem sei die eingangs erwähnte Gesamtaufnahme aller Robert-Schumann-Lieder mit Christian Gerhaher und Gerold Huber wärmstens empfohlen.

Andreas H. Hölscher