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DER FREISCHÜTZ
(Carl Maria von Weber)
Gesehen am
13. Februar 2021
(Premiere)
Es ist ein mittlerweile immer wiederkehrendes Ritual, Opern mit einem historischen Kontext in die Jetzt-Zeit zu transferieren und Konflikte, Handlungen und Beziehungsebenen aus der heutigen Perspektive zu betrachten, um die Oper damit in ein modernes Gewand zu kleiden. Das kann spannend und interessant sein, doch ist jede Oper für einen Transfer in die heutige Zeit geeignet, insbesondere unter Berücksichtigung des nicht zu verändernden Librettos? Dimitri Tcherniakov ist mit seiner Neuinszenierung des Freischütz in München mit diesem Ansatz krachend gescheitert.
Um das Scheitern zu verstehen, muss man sich die Rezeptionsgeschichte des Werkes noch einmal vergegenwärtigen. Der Freischütz hat seine Wurzeln in Leipzig. 1810 erschien hier die gleichnamige Novelle von August Apel, der mit dem späteren Librettisten der Oper, Johann Friedrich Kind, die Leipziger Thomasschule besuchte. 1816 lernte Kind dann den Komponisten Carl Maria von Weber kennen, und der Grundstein für die erste große deutsche romantische Oper wurde gelegt. In dem Werk, das 1821 mit großem Erfolg uraufgeführt wurde, manifestieren sich die Ängste und Sehnsüchte einer ganzen Generation. Ursprünglich war die Geschichte in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg angelegt mit den Folgen eines emotionalen, geistigen und menschlichen Kahlschlags. Es ist eine Welt, in der Aberglaube, menschliche Abgründe und Schrecklichkeiten möglich sind und in der sich die Menschen in ihrem Handeln vom Glauben an Gott und Teufel beeinflussen lassen. Der Freischütz beschreibt eine bürgerliche Gesellschaft mit bürgerlichen Idealen, unter deren Dekoration das Grauen lauert. Eine Gesellschaft, die durch den Einbruch des Aberglaubens und der Angst vor dem Bösen einen Rückschritt erleidet. Die Romantik des Freischütz wird auf verschiedenen Ebenen betont: In der Naturromantik des Jägerlebens, der Liebesromantik zwischen Agathe und Max und der Schauerromantik der Samiel-Handlung. Soweit die Ausgangslage für jeden Regisseur.
Tcherniakov kann mit diesem ganzen deutschen romantischen „Gedöns“ nichts anfangen. Für ihn sind die Protagonisten Menschen, die mit ihren inneren Dämonen kämpfen und in einer elitären, auf Erfolg und Business getrimmten Gesellschaft zu überleben versuchen. Und so stand mehr das Drehbuch für einen amerikanischen oder russischen Wirtschaftskrimi Pate für die Inszenierung, mit einigen cineastischen Effekten, wie man sie heute zu dutzenden in diversen Netflix-Produktionen zu sehen bekommt. Die Handlung spielt innerhalb von 24 Stunden, was dem Zuschauer durch diverse Zeiteinblendungen angezeigt wird. Das Bühnenbild, für das Tcherniakov ebenfalls verantwortlich ist, könnte ein Hotel- oder Bühnenfoyer mit dem Charme der Siebziger Jahre sein, mit großen schweren Holzdrehtüren, die bei Öffnung den Ausblick auf moderne Hochhäuser mit Glasfassaden eröffnet. Drei Sitzgelegenheiten, ein paar Bistrotische, Bierflaschen, das ist alles.
Foto © Wilfried Hösl
Kein romantischer Wald, dafür eher Bankenviertel. Kuno ist kein Erbförster, sondern eher ein zwielichtiger Firmenboss, der sich ein Imperium aufgebaut hat, in dem seine eigenen Gesetze gelten. Mit Zigarre und gespiegelter Brille und Clint-Eastwood-Verschnitt könnte er ein italienischer Pate oder auch ein russischer Oligarch sein, der die Firma über alles stellt. Max ist sein Angestellter, ein eher schleimiger Emporkömmling, der sich von der Heirat mit Agathe, Kunos Tochter, einen Karriereaufstieg in den inneren Zirkel der Firma erhofft. Agathe selbst hatte schon vor Jahren mit ihrem Vater gebrochen, kann sich aber nicht dagegen wehren, dass Kuno jetzt die Hochzeit für sie ausrichtet. Ännchen war mal ganz eng mit Agathe befreundet, aber die beiden sind getrennte Wege gegangen, und Ännchen ist kein junges, naives Mädchen, das Agathe stets aufzuheitern versucht, sondern mehr der Typ erfolgreiche Business- und Powerfrau, im eleganten Dress mit Annie-Lennox-Frisur, die Finger stets am obligatorischen Smartphone. Die Hauptfigur aber in dieser Inszenierung ist der scheinbare Freund Kaspar. Ein ehemaliger Elitesoldat, im Krieg schwer traumatisiert und jetzt an einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung leidend, in der Firma Kunos der Mann für die Drecksarbeiten, bei denen sich sonst keiner die Hände schmutzig machen möchte. Sein innerer Dämon heißt Samiel, der hier nicht als eigenständige Figur in Erscheinung tritt, sondern als Teil von Kaspar auftritt. Er weiß, dass er Agathe nicht bekommen kann, und so ist sein Bestreben, die Hochzeit zu vereiteln und damit auch Max und Agathe zu vernichten.
Und so beginnt das Szenario am Tag vor der Hochzeit mit einem Empfang einer elitären Gesellschaft. Die teils eleganten Kostüme und Anzüge dafür hat Elena Zaytseva entworfen. Max soll einen Probeschuss abgeben, eine Mutprobe, um sich für höhere Weihen in Kunos Firma, Agathe eingeschlossen, zu empfehlen. Das moderne Jagdgewehr mit Zielfernrohr ist durch ein geöffnetes Fenster nach draußen gerichtet, und durch eingeblendete Videos sieht der Zuschauer die Perspektive durchs Zielfernrohr. Es sind Menschen auf der Straße, und Max soll einfach irgendjemanden erschießen. Max versagt, er kann das nicht, und Kilian, einer der Gäste, erledigt es dann.
Man sieht durch die Zielfernrohrperspektive, dass er einen Mann auf der Straße in den Kopf getroffen hat, Blut spritzt über sein Gesicht, während er zu Boden stürzt. Später erfährt der Zuschauer, dass das natürlich nur inszeniert gewesen sei, quasi ein Fake, um Max‘ Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, auszuloten. Schnell ist klar, Max ist ein absoluter Außenseiter, er wird die Anerkennung von Kuno nicht bekommen. Die Dialoge sind bis auf das zwingend Notwendige gekürzt, stattdessen werden Gedanken der Protagonisten als Sprechblasen gezeigt, die oft konträr zur eigentlichen Handlung und auch zur Musik stehen. Der Regisseur muss sich derartiger Stilmittel bedienen, weil er wohl befürchtet, der Zuschauer könne seinen Interpretationen nicht folgen. Durch die gestrichenen Dialoge entstehen aber zusätzlich künstliche Pausen, in der die Handlung einfach still zu stehen scheint und die Spannung, wenn man sie überhaupt so bezeichnen kann, wieder komplett verflacht. Die Szene Agathe – Ännchen ist mehr ein oberflächliches Geplauder zweier unterschiedlicher Charaktere. Die Wolfsschlucht-Szene, die sich im selben Foyer abspielt, nurmehr mit Nachtbeleuchtung, zeigt die Hauptcharaktere in einem psychologischen Ausnahmezustand. Kaspar hat seinen Anzug gegen sein Soldatenoutfit vertauscht und schleppt Max, den er wohl vorher niedergeschlagen hat, in eine Plastikfolie gewickelt in das Foyer. Sein Dialog mit Samiel ist in Wirklichkeit ein Zwiegespräch mit seinem inneren Dämon, seinem anderen Ich. Das Kugelgießen wird zu einer Scheinhinrichtung von Max. Immer wider legt der gestörte Kaspar das Gewehr auf Max an, um ihn dann nur ganz knapp zu verfehlen. Die Szene mit den Brautjungfern ist in diesem Kontext genauso überflüssig wie der Jägerchor, der natürlich durch die Herren der illustren Hochzeitsgesellschaft dargestellt wird. Das Erscheinen des Fürsten Ottokar ist genauso unlogisch, denn hier herrscht Kuno mit dem Firmenimperium allein, und Ottokar ist mehr eine Art moderner Hochzeitsredner.
Foto © Wilfried Hösl
Völlig grotesk ist dann der Schluss. Max soll nun den offiziellen Probeschuss abliefern, Agathe erscheint viel zu früh mit den Worten „Schieß nicht“, und im für den Zuschauer eingeblendeten Visier sieht man Agathe, die getroffen wird. Doch Kaspar sinkt zusammen, und die große Finalszene mit dem Eremiten wird ad absurdum geführt, der „Heilige Mann“ ist einer der Bediensteten, die meist auch Corona-konform mit schwarzem Mund-Nasen-Schutz zum weißen Dinnerjacket auftreten. Wenn der Eremit vom Probejahr für Max und Agathe singt, bricht Max so lautstark in einen Weinkrampf aus, dass der Gesang des Eremiten dabei völlig in den Hintergrund gerät. Zum Schluss gibt es dann noch einmal einen Realitätenwechsel. Als das Licht wieder angeht, liegt Agathe tot auf dem Boden, erschossen von Max. So endet eine Inszenierung, deren Handlung mehr an einen schlecht gemachten Krimi erinnert als an eine sinnstiftende Inszenierung. Lediglich die Szene, in der Kaspar sich mit seinem inneren Dämon Samiel auseinandersetzt, hat Format, alles andere gerät zweitklassig und entspricht nicht dem Niveau, das man von einem Haus wie der Bayerischen Staatsoper erwarten darf.
Dafür werden aber die Erwartungen in musikalischer und sängerischer Hinsicht mehr als erfüllt. Pavel Černoch stellt in der Rolle des Max einen Schwächling und Unsympath dar, weiß aber mit jugendlichem Heldentenor zu gefallen, insbesondere die große Max-Arie gelingt ihm formidabel. Golda Schultz gibt die Agathe bei ihrem Rollendebüt mehr träumerisch und schwermütig und überzeugt vor allem mit zarten Piano-Tönen in ihrer großen Arie, während sie spielerisch insgesamt etwas blass bleibt. Ganz anders das Ännchen von Anna Prohaska, die vor Energie nur so sprüht und mit ihrem schlanken Sopran der Figur einen scharfen Kontrast zur Agathe verleiht. Grandios Kyle Ketelsen in der Rolle des Kaspar. Mit unbändiger Kraft tritt er auf, versprüht eine dämonische Aura um sich und leidet so tief in dieser Rolle, dass man in der Wolfsschlucht-Szene fast Angst um ihn bekommt. Sein Bass-Bariton hat die richtige Schwärze und Ausdruckskraft, die diese Partie abverlangt. Tareq Nazmis Auftritt als Eremit besticht durch seine dominante physische Ausstrahlung, und sein balsamischer Bass macht die Szene zu einem besonderen musikalischen Ereignis. Boris Prýgl gibt den Ottokar mit aristokratischer Noblesse und Arroganz, während Bálint Szabó als Kuno und Milan Siljanov als Kilian ein überzeugendes Sängerensemble abrunden.
Der Chor der Bayerischen Staatsoper überzeugt mit differenziertem Gesang, gut einstudiert von Stellario Fagone. Ein durchweg ansprechendes Dirigat zeigt Antonello Manacorda. Schon die ersten Töne der Ouvertüre, langgezogen und düster, lassen das Unheil ahnen, das da kommen wird. Die Leitmotive, soweit man sie so bezeichnen darf, werden dominant herausgearbeitet, und das Tempo erscheint langsam, dafür intensiv und atemberaubend. Manacorda geht nicht oberflächlich über die Partitur drüber, sondern wühlt in den dunklen Tiefen und betont die Dämonie der Partitur. Dabei ist sein Schlag präzise, sein Dirigat sängerfreundlich und unprätentiös. Lediglich ein paar kleine Patzer im Bayerischen Staatsorchester trüben den ansonsten großartigen Gesamteindruck. Zum Schluss gibt es keinen Applaus, es ist beim Livestream kein Publikum zugegen. Der ansonsten beim Freischütz gewohnte Szenenapplaus fehlt ebenfalls und führt dadurch zu unüblichen Pausen auf der Bühne. Kameraführung, Licht und Ton sind professionell. Nach gut zweieinviertel Stunden ohne Pause bleibt am Ende ein bitterer Nachgeschmack. Der Transfer des Werkes in die heutige Zeit will trotz einiger raffinierter Effekte nicht klappen. Der gesungene Text passt nicht in die von Tcherniakov ersonnene Gesellschaft. Lediglich der traumatisierte, mit seinen Dämonen kämpfende Kaspar, wirkt überzeugend. Das ist aber für eine Gesamtinszenierung einfach zu wenig. Diese Aufführung ist in den nächsten 30 Tagen als Video on Demand kostenfrei verfügbar.
Andreas H. Hölscher