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DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
(Richard Wagner)
Besuch am
16. Oktober 2023
(Premiere am 26. Februar 2006)
An der Bayerischen Staatsoper München steht die Wiederaufnahme von Richard Wagners Der Fliegende Holländer für insgesamt vier Vorstellungen auf dem Programm. Die Inszenierung von Peter Konwitschny, etwas in die Jahre gekommen, scheint aber über 17 Jahre nach der Premiere immer noch zu zünden, auch wenn die Bayerische Staatsoper an diesem Abend nicht ganz ausverkauft ist. Dass Konwitschny ein Altmeister des Regietheaters ist, der einerseits mit Wagners Werken kritisch, aber immer am Werk orientiert umgeht, ist bekannt. Umso verblüffender ist der Beginn des Werkes. Bei der Ouvertüre bleibt der Vorhang zu, kein von der Musik ablenkendes Nebengeschehen auf der Bühne, wie es heute leider so üblich ist. Dem Kenner des Werkes fällt sicher auf, dass das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Lothar Koenigs die Urfassung spielt, also ohne das Erlösungsmotiv am Schluss der Ouvertüre und dem Finale des dritten Aufzuges. Deutet sich hier schon die Intention Konwitschnys an, den Holländer aus seiner Verdammnis nicht zu erlösen? Als der Vorhang sich zum ersten Aufzug öffnet, muss man sich erst mal verwundert die Augen reiben. Eine düstere wild-romantische Szenerie bietet sich da auf der Bühne. Ein großes gemaltes Bild im Hintergrund zeigt das wild aufgepeitschte Meer, es stürmt und pfeift aus allen Löchern auf der Bühne. Zwei angedeutete Felsen symbolisieren die Bucht Sandwike, eine Landungsbrücke deutet das Schiff Dalands an. Daland, der Steuermann, und die Matrosen sind eher zeitlos gekleidet, aber der Auftritt des Holländers ist der nächste Clou. Gekleidet wie ein Edelmann aus dem 16. Jahrhundert, mit einer Zigarre im Mund. Das soll eine Inszenierung von Konwitschny sein? So klassisch, fast schon kitschig-romantisch, sowas hat man lange nicht mehr auf der Opernbühne gesehen. Doch wer Konwitschny kennt, der weiß, dass da noch was kommen muss, denn für diesen Inszenierungsstil ist der Regisseur nun wahrlich nicht bekannt.
Foto © Wilfried Hösl
So erscheint sein Holländer einerseits als romantisches Theaterstück, andererseits ist das Werk für Konwitschny eine Oper mit dramatischem Stoff im herkömmlichen Sinn, dass die Jenseits-Sucht von Holländer und Senta erörtert. Und so steht ein Psychogramm zweier zerstörter Seelen im Vordergrund der Inszenierung. Einerseits der Holländer, der sich nach dem Tod, dem Nichts, als Erlösung sehnt, und auf der anderen Seite Senta, die in ihrer Seelenverwandtschaft zum Holländer das Gleiche sucht und mit ihm eine Schicksalssymbiose eingeht. Sie unterscheiden sich in ihren Gesten und Kostümen fundamental von allen anderen Protagonisten. Senta beschwört in ihren seelischen Abgründen den Holländer hervor, der sich nach dem Ende, der Annihilation, dem Nichts sehnt. Konwitschny ist dafür bekannt, seine Charaktere sehr differenziert zu skizzieren und die psychologischen Beziehungsebenen der Protagonisten untereinander scharf herauszuarbeiten. Und er bringt eine junge Frau in einem weißen Kleid mit weißer Rose in der Hand ins Spiel. Ein Vorgriff auf die Sehnsucht des Holländers nach Erlösung, nach einer liebenden Frau, soll das etwa schon Senta sein? Nein, diese junge Frau spielt mit dem Holländer, nimmt ihn nicht ernst. Sie steht symbolisch eher für die vielen unglücklichen Frauen, die dem Holländer ein Treueversprechen gaben, es brachen und zu ewiger Verdamnis verurteilt wurden. Großartig, dass nach der Auftrittsarie des Holländers seine mit ihm verfluchten Matrosen, ebenfalls in mittelalterlichem Gewande, auf die Bühne kommen. Normalerweise sieht man die Mannen nicht, ihre Stimmen kommen aus dem Off. Doch Konwitschny lässt hier nicht nur zwei Mannschaften aufeinander los, es sind verschiedene Zeiten und Welten, die aufeinanderprallen. Ein alter Schatzkoffer voller Gold, Perlen und Juwelen lässt den raffgierigen Daland schwach werden, flugs verkauft er seine Tochter Senta an den Holländer, die monetären Argumente sind einfach zu stark.
Konwitschny verliert sich nicht in psychologischer Überhöhung, sondern er überzeichnet die Charaktere durchaus pointiert, mit einem leichten Augenzwinkern, was der Inszenierung zusätzlich einen gewissen Witz und Charme verleiht. Manchmal übertreibt er es allerdings mit seinem etwas deftigem Humor, so wenn der Steuermann bei der Wiederholung seines Liedes singt: Ach liebes Mädel blas‘ noch mehr, mein Südwind … Es muss natürlich heißen Ach lieber Südwind blas‘ noch mehr, mein Mädel … Dass das kein Patzer des Sängers ist, sondern als Zote bewusst eingebaut, kann man am eingeblendeten Text als Übertitel gut erkennen. Diesen Scherz hat übrigens Kay Metzger in seiner Meininger Neuinszenierung von 2022 auch eingebaut.
Nach dem starken ersten Aufzug öffnet sich dann der Vorhang nach der Übergangsmusik zum zweiten Aufzug, und alle, die schon an Konwitschny gezweifelt haben, können sich entspannt zurücklehnen. Auf der Bühne ist ein Fitnessstudio für Damen zu sehen. Statt Spinnstube und Spinnräder gibt es Indoor-Bikes, auf denen sich die Chordamen abstrampeln dürfen. Gekleidet in grellbunten Sportoutfits ist das wie eine Wiederbelebung der Jane-Fonda-Fitnessfilme der achtziger Jahre. Mary ist die Physiotherapeutin des Studios. Sie verteilt Energydrinks und kümmert sich auch um einzelne Damen, die es mit dem Workout übertrieben haben.
Foto © Wilfried Hösl
Als Senta dann im Sportdress das Studio betritt, mit einem großen Bild des mittelalterlichen Holländers in der Hand, und anhebt, ihre große Ballade vorzutragen, da schwingt die gute Mary sich aufs Ergometer und strampelt so fix, als wolle sie bei der kommenden Tour de France antreten. Für Heiterkeit im Publikum ist da ausreichend gesorgt.
Nach der Ballade, als die Damen von Mary sanft aus dem Studio herauskomplimentiert worden sind, erscheint Erik, Sentas Verlobter, der verzweifelt um ihre Liebe kämpft. Wie zu erwarten, nicht in der ihm eigentlich zugeordneten Jägerskluft, sondern in einem weißen Bademantel mit Adiletten, als komme er gerade aus der Sauna. Erik regt sich gerade furchtbar über Sentas abweisendes Verhalten auf, stößt sie dabei auch schon mal unsanft zu Boden, was ihre fragile Beziehung weiter schwächt. Es folgt der Auftritt des Holländers in seiner mittelalterlichen Tracht im Fitnessstudio der modernen Zeit. Ein krasser Gegensatz, ein komisches wie aber auch geniales Bild. Man muss sich nur verdeutlichen, dass der Holländer seit Jahrhunderten auf den Meeren herumstreift, nur alle sieben Jahre an Land gehen darf, um Erlösung zu suchen, die ihm bisher nicht vergönnt war. Insofern kann man das durchaus so darstellen, Konwitschny nimmt Wagner dabei ziemlich wörtlich. Der Holländer hat ein altes, opulentes Hochzeitskleid mit Schleier direkt mitgebracht, und aus der etwas spröden, zickigen Senta wird eine Frau, die sich ganz mit Haut und Haaren dem Holländer verschreiben will, ihn von seinen Sehnsüchten und seelischen Qualen erlösen möchte. Das hat was von Cosima, die ähnliches für ihren Meister Richard empfunden haben mag.
Im dritten Aufzug befinden wir uns wieder im klassisch-romantischen Setting des ersten Aufzuges. Johannes Leiacker hat mit Bühnenbild und Kostümen den perfekten Rahmen für Konwitschnys konträre Darstellung der Handlung gefunden. Die Lichtregie von Michael Bauer mit stroboskopischen Effekten sorgt für viel Atmosphäre. Wieder sind beide Chöre auf der Bühne. Die Seeleute Dalands und die Frauen feiern heftig, da fließt viel Alkohol, der die Zungen löst und die Seeleute des Holländers, die apathisch um eine große Tafel sitzen, bis aufs Blut reizt. Der Matrosenchor Steuermann, lass die Wacht ist einer von mehreren musikalischen Höhepunkten des Abends.
Kurz vor der Eskalation erscheinen Erik und Senta. Senta im Hochzeitskleid, bereit, alles für den Holländer aufzugeben, und Erik nun in der klassischen Jägertracht mit Gewehr. Seine Cavatine singt er vergeblich, aber der Holländer hat sie mitbekommen und will Senta freigeben. Doch sie will in ihrem Wahn dem Holländer ihre „Treue bis zum Tod“ beweisen. Mit einer Fackel entzündet sie ein Ölfass auf der Bühne, es gibt eine riesige Explosion, bühnentechnisch raffiniert und brillant gelöst, dann ist es dunkel und still auf der Bühne. Der Schluss der Musik kommt vom Band, nicht mehr aus dem Orchestergraben. Das Werk verklingt ohne das später von Wagner nachträglich hinzugefügte Erlösungsmotiv, alles ist im Nichts untergegangen.
Als es dann wieder etwas heller auf der Bühne wird, steht das komplette Ensemble bereits in der Applausordnung auf der Bühne. Und als der letzte Ton vom Band verklungen ist, dauert es einen Moment, bis das Publikum realisiert hat, dass das Werk auf eine sehr ungewöhnliche Art zu Ende gegangen ist. Hier hat Konwitschny wieder mal auf intelligente Art gezeigt, wie Regietheater funktionieren kann. Etwas konfrontativ, etwas provokant, aber immer am Werk orientiert und nicht gegen den Strich gebürstet. Konwitschny kennt Wagner nur allzu gut, und er geht mit Respekt an seine Inszenierung.
Foto © Wilfried Hösl
Es ist nicht nur ein Abend der kontrastierenden Bilder, es ist auch musikalisch und sängerisch durchaus eine Sternstunde Wagnerscher Darstellung. Mit dem Ausdruck der zerstörten, nach Erlösung suchenden Seele legt Iain Paterson in einer seiner Paraderollen die Gestaltung des Holländers an. Mimik und Gestik zeigen die innere Zerrissenheit der Figur. Sein Auftrittsmonolog Die Frist ist um im ersten Aufzug besticht durch ein kräftiges Fundament in der Tiefe und starken Höhen in den dramatischen Ausbrüchen. Sein Ausdruck und sein Gestus bei seiner ersten Begegnung mit Senta sind von einer derartigen Intensität, dass die Qualen, von denen er singt, förmlich sichtbar werden. Das große Duett mit Senta im zweiten Aufzug ist der sängerische Höhepunkt der Aufführung, die beiden Stimmen scheinen fast zu verschmelzen, denn in Jennifer Holloway hat Iain Paterson die ideale Senta an seiner Seite. Ihr jugendlich-dramatischer Sopran ist von einer unnachahmlichen Leuchtkraft geprägt. Überzeugend ist ihre dramatische Stimmführung, in der Ballade im zweiten Aufzug wechselt sie vom zärtlichen Piano in furienhafte Ausbrüche, und im großen Duett mit dem Holländer harmoniert ihre Stimme mit Paterson so wunderbar, dass die Seelenverwandtschaft der beiden Figuren auch gesanglich zum Ausdruck kommt. Ain Anger gibt den aalglatten Daland, der für Reichtum sogar seine Tochter verkauft, mit wohltönendem Bass und großer Textverständlichkeit. Eric Cuttler in der Partie des Erik zeigt, dass er die Kraft für einen jungen Heldentenor hat, mit sicherer Stimmführung, strahlenden Höhen und dabei immer noch sehr textverständlich. Seine Cavatine im dritten Aufzug intoniert er mit großer Leidenschaft. Tansel Akzeybek überzeugt als Steuermann mit kultiviertem und gefälligem Charaktertenor. Sein Auftrittslied im ersten Aufzug zeigt Durchschlagskraft und lyrische Qualität zugleich, versprüht dabei Spielwitz und Charme. Victoria Karkacheva ist eine Mary mit resolutem Mezzosopran und starker physischer Präsenz.
Chor und Extrachor der Bayerischen Staatsoper sind von Christoph Heil hervorragend eingestimmt und begeistern durch saubere Intonation und Intensität. Insbesondere die Tenöre, die im Steuermannchor so dominant sein müssen, sind stark präsent. Auch der Damenchor präsentiert sich vorzüglich, und neben der großen Spielfreude beeindrucken vor allem die Textverständlichkeit und der sängerische Ausdruck und geben dieser Chor-Oper die besondere Würze. Das Bayerische Staatsorchester überzeugt an diesem Abend durch eine beeindruckende Klangmalerei, aus der die Bläser dominant sauber hervorstechen. Die Ouvertüre in der Urfassung ist dramatisch kraftvoll und dynamisch, das Holländer-Motiv ist stark akzentuiert, während das Senta-Motiv eher zart und verletzlich klingt. Lothar Koenigs leitet das Bayerische Staatsorchester mit klarem Gestus und großem Engagement. Er wechselt klug die Tempi und begleitet die Sänger, besonders im großen Duett von Holländer und Senta, mit Fingerspitzengefühl. Am Schluss gibt es großen Jubel für alle Beteiligten aus dem Publikum, besonders Iain Paterson, Jennifer Holloway, Chor und Orchester werden enthusiastisch gefeiert.
Auch nach so langer Zeit weiß solch eine spannend und intelligent gemachte Inszenierung zu begeistern, und bei dem Erfolg gibt es wohl auch keinen Grund, die Produktion aus dem Repertoire zu nehmen.
Andreas H. Hölscher