O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen

Kapuzinergruft und Wurstlprater

DIE FLEDERMAUS
(Johann Strauss)

Besuch am
7. April 2022
(Premiere)

 

Gärtnerplatztheater, München

Was erwartet ein Zuschauer heute, wenn er voller Erwartung eine Neuinszenierung von Johann Strauss genialer Operette Die Fledermaus besucht? Natürlich Champagnerlaune, sprühende Gags und ein musikalisches Schwelgen in den seit bald 150 Jahren unverändert zündenden Melodien. Kurzum, eine Herausforderung für jedes Theater, denn bittschön unterschätzt Die Fledermaus und das Genre Operette nicht. Nicht alles, was leicht und beschwingt klingt, ist auch leicht auf die Bühne zu bringen. Und gerade bei der Fledermaus ist die Gefahr groß, durch überzogene Gags, schrille Performance und oberflächliches Dirigat den Zauber dieses Meisterwerkes der Goldenen Operette zu konterkarieren.

Am Gärtnerplatztheater in München ist die Tradition der Operette groß, die Fledermaus erlebte hier ein Jahr nach der Uraufführung 1874 im Theater an der Wien ihre Erstaufführung. Seitdem stand das Werk in etwa einem Dutzend verschiedener Inszenierungen über 1.200 mal auf dem Programmzettel. Ein großes Erbe, dass Intendant und Regisseur Josef E. Köpplinger mit seiner Neuinszenierung antritt. Doch wer Köpplinger kennt, weiß um die Ernsthaftigkeit, mit der er ein neues Stück angeht. Seine Kurzinhaltsangabe verspricht Spannung und Witz: „Gutbürgerliche Familie in den zwanziger Jahren nebst dezent verlogenem Stubenmädchen erliegt einer Eskalation aufgrund eines rachsüchtigen Hausfreundes. Fortsetzung folgt – nicht.“ Köpplinger verlegt die Geschichte in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Monarchie hat abgedankt, es sind Zeiten des Umbruchs und politischer Instabilität. Ein gewisser Michael Hainisch ist zu dieser Zeit Bundespräsident der Republik Österreich, sein Foto hängt in der Amtsstube des Gefängnisdirektors Frank im dritten Akt. Gabriel Eisenstein ist ein aufgeblasener, von sich überzeugter Möchtegern und Weiberheld, der ins Gefängnis muss, weil er einen Amtsdiener geohrfeigt, obendrein den Richter beleidigt hat und dessen alte Verbindungen ihm nichts mehr genutzt haben. Sein Freund Dr. Falke, den er einst nach einem Ball sturzbetrunken in einem Fledermauskostüm auf dem Marktplatz liegen ließ und ihn so der Lächerlichkeit preisgab, inszeniert eine groteske Maskerade, um sich endlich für die Schmach zu rächen.

Er verschafft Eisenstein eine Einladung inkognito zu einer Party des reichen Prinzen Orlofsky, um ihn dort vorzuführen und bloßzustellen. Zu den Klängen der Ouvertüre erscheint ein Vorspannfilm wie in einem Kino, in dem die Protagonisten namentlich und durch dreidimensionale Figurinen vorgestellt werden. Ein netter Einfall, der von Meike Ebert und Raphael Kurig im Stile eines Stummfilms von vor 100 Jahren realisiert wurde. Der erste Akt spielt im Wohnzimmer der Familie Eisenstein. Der Raum ist schräg gebaut, wohl ein Hinweis auf die Schieflage der Gesellschaft und dass das Leben der Eisensteins bildlich aus den Fugen geraten ist. Die eine Wand in lindblau mit Hirschgeweihen, die andere Wand ist rot-grün gestreift, eine schon schrille Farbkombination. Drei kleine nervige Kinder werden, von einer Gouvernante begleitet, zum Skifahren weggeschickt. Sie sollen nicht mitbekommen, dass ihr Vater ins Gefängnis muss. Zum Haushalt gehört auch ein Mops, der zwar nicht sichtbar ist, aber mit lautem Gebell auf sich aufmerksam macht. Das Stubenmädchen Adele, die ebenfalls eine Einladung zum Ball erhalten hat, überdreht völlig, um Ausgang zu bekommen, nebenbei stibitzt sie der Dame des Hauses ein Ballkleid. Den ersten großen Brüller des Abends erntet sie mit den Worten: „Der Mops hat auf den Teppich gekackt“, in der Hand einen schwarzen Hundekackbeutel. Eisensteins Frau Rosalinde, eine ehemalige Sängerin an einem kleinen Theater, deren Mitleid für ihren Gatten sich in Grenzen hält, wird von ihrem Verflossenen Alfred, einem formidablen Tenor, umgarnt, der kurzerhand durch das Fenster einsteigt. Natürlich schmachtet sie erotomanisch für den strammen Sänger, der auch direkt ein paar Kostproben seines Könnens zum Besten gibt. Mit dem Beginn der Stretta des Manrico Di quella pira aus Verdis Troubadour macht er Rosalinde schwach, die als Violetta aus La Traviata antwortet. Ihr Kopf ist heiß, die Hand kalt, was Alfred mit Che gelida manina aus Puccinis La Bohème gnadenlos ausnutzt. Als Alfred sich kurzfristig aus dem Staub machen muss, da Eisenstein von seiner Gerichtsverhandlung zurückkehrt, intoniert er aus Beethovens Fidelio O namenlose Freude als Vorgeschmack auf das ihn erwartende Rendezvous mit der Ex-Geliebten. Dr. Falke, der Freund Eisensteins, überredet diesen, statt seinen Arrest anzutreten, ihn auf das Fest des Prinzen Orlofsky als „Marquis Renard“ zu begleiten. Die Aussicht, mit den dort anwesenden „Ballettratten“ ein kurzes amouröses Abenteuer zu erleben, macht ihm die Entscheidung leicht. Der Gefängnisdirektor Frank, begleitet von zwei Gefängniswärtern, möchte den Herrn Eisenstein persönlich arrestieren, und wird zunächst Opfer einer Beißattacke des Mopses. Alfred, mittlerweile nur noch in Unterwäsche, fällt grade über Rosalinde her und muss nun als Eisenstein herhalten und für diesen den Arrest antreten.

Als der Vorhang sich zum zweiten Akt öffnet, brandet Szenenapplaus für das Bühnenbild von Rainer Sinell auf. Es ist ein winterlicher Garten vor dem Palais des Prinzen Orlofsky, in der Mitte eine weiße Statue von Johann Strauss, sicher eine Hommage von Köpplinger an den Komponisten der Fledermaus. Auch die Kostüme von Alfred Mayerhofer sind elegant, Orlofsky und sein ständiger Begleiter Iwan stechen in ihren komplett weißen Kleidern optisch aus der sonst schwarz gekleideten Menge heraus. Hat Köpplinger im ersten Akt Witz und Situationskomik dominieren lassen, inszeniert er den zweiten Akt mit einem für eine Operette ungewöhnlichen Tiefgang, was optisch und musikalisch zu einem außergewöhnlichen Ereignis wird. Insbesondere die Figur des Prinzen Orlofsky wird hier aufgewertet. Für Köpplinger ist die Liebe ein verrücktes Ding. „Da ist diese Leidenschaft da, diese Begierde, der große Anteil an Erotik und Sexualität, diese ganzen immer noch tabuisierten Themen“, sagt er. War die erotische Spannung zwischen Rosalinde und Alfred im ersten Akt eher frivol und triebhaft, ist die Sexualisierung im zweiten Akt deutlich subtiler. Orlofsky, eher manisch-depressiv veranlagt, ist ein Narzisst, dessen einziger Kick das russische Roulette ist. Seine latente Homosexualität, die er zu dieser Zeit natürlich nicht offen leben darf, und sein Gefühl für seinen Begleiter Iwan, die das andeutet, machen ihm so zu schaffen, dass er sich immer wieder einen Revolver an die Stirn hält und abdrückt, ohne dass sich ein Schuss löst. Er kompensiert die Spannungen, in dem er zu seinem Couplet Ich lade gern mir Gäste ein seinen Dienern Wodka zwangseinflößt. Die Statue von Johann Strauss übt auf Orlofsky eine starke Anziehung aus, sie wirkt fast wie ein Fetisch. Gefängnisdirektor Frank erscheint als Chevalier Chagrain, und Rosalinde als unbekannte und maskierte ungarische Gräfin begeistert die Menge mit ihrem Csárdás Klänge der Heimat und entlockt ihrem untreuen Gatten, der sie nicht erkennt, dessen Taschenuhr als corpus delicti. Höhepunkt der Szenerie ist, wenn Falke mit dem Chor zusammen das Dui-du anstimmt. Das Bühnenbild ist in ein tiefes Rot eingetaucht, alle Paare haben sich gefunden, und Orlofsky greift aus menschlicher Vereinsamung erneut zum Revolver.  Köpplinger sagt zu dieser Szene: „Das Dui-du, das ist für mich unerreichter Ausdruck einer antizipierten sinnlichen Hoffnung. Und da steckt für mich auch das darin, was eine Operette ausmacht. Von der Kapuzinergruft bis zum Wurstlprater ist die ganze Gefühlswelt drin.“ Diese sinnliche Hoffnung kumuliert in diesem Bild, selten hat man diese Szene so ergreifend und aufwühlend erlebt. Aufgelöst wird diese Szene mit der Schnellpolka Unter Donner und Blitz mit einer von Karl Alfred Schreiner grandios choreografierten Balletteinlage mit Tänzern in schrillen Fledermauskostümen. Der Rest ist bekannt, um 6 Uhr morgens verlassen der Chevalier Chagrin alias Gefängnisdirektor Frank und Marquis Renard alias Gabriel Eisenstein das Fest, um aus unterschiedlichen Gründen den Weg ins Gefängnis anzutreten.

Der dritte Akt ist wieder ganz klassisch, mit einem Gefängnisaufseher Frosch, wie ihn schon einst der legendäre Otto Schenk charakterisiert hat. Er, dem Slibowitz zugetan, ist ein österreichischer Beamter alter Art, der nur den Dienst nach Vorschrift kennt. Dementsprechend stapeln sich in der Amtsstube des Direktors die unerledigten Akten. Natürlich gehören zum Frosch auch Anspielungen auf tagesaktuelle Dinge, und so sinniert er über die durch Corona bedingten Zustände in seinem Gefängnis. Und er mag die Republik nicht. Kurzerhand dreht er das Foto des Bundeskanzlers Hainisch um, und es erscheint das Konterfei des längst verstorbenen Kaisers Franz-Josef I. von Österreich. Es lebe die Monarchie!

Natürlich singt Alfred in seiner Gefängniszelle wieder, und da darf das Nessun dorma nicht fehlen, was sogar das Orchester aufgreift und dafür Szenenapplaus erhält. Gefängnisdirektor Frank ist nach der Ballnacht fast im Delirium, sieht weiße Mäuse und stürzt akrobatisch so zu Boden, dass man als Zuschauer Angst bekommt. Auch das Stubenmädchen Adele, die als angehende Künstlerin Olga dem Herrn Chevalier die Augen verdreht hat, darf mit dem frivol lasziven Couplet Spiel ich die Unschuld vom Land den immer noch betrunkenen Gefängnisdirektor Hoffnung auf ein amouröses Abenteuer machen. Der Schluss dieser Operette ist ein großes Tohuwabohu auf der Bühne, in dem sich alles klärt, Falke mit seiner Inszenierung der „Rache der Fledermaus“ nun endlich persönliche Genugtuung gefunden hat und Orlofsky sich persönlich als Mäzen für Adele verwendet. Rosalinde verzeiht zwar nach außen ihrem untreuen Gatten, aber der formale Handschlag verheißt nichts Gutes für die weitere Zukunft der beiden, während alle anderen in Champagnerlaune den Schlussvorhang erleben.

Köpplinger hat für diese Inszenierung eine neue Textfassung geschrieben, die deutlich gestrafft ist, ohne dass Pointen oder Zuspitzungen fehlen. Mit seiner Fassung und Inszenierung hat er es geschafft, die Operette zu entstauben, sie witzig und schrill auf die Bühne zu bringen, ohne den Kern des Werkes zu verändern. Selten hat man soviel gelacht und geschmunzelt, ohne dass dafür platte Zoten nötig wären. Und selten hatte eine Fledermaus so viel Tiefgang wie bei dieser Inszenierung. Köpplinger, der schon viele Operetten inszeniert hat, hat hier erneut ein Meisterstück vorgelegt, dass durch die großartige musikalische und sängerische Umsetzung gekrönt wurde. Daniel Prohaska gibt den Gabriel von Eisenstein mit rauem Charme und kraftvollem Tenor. Jennifer O’Loughlin als Rosalinde überzeugt spielerisch mit viel Situationskomik, und liefert mit dem Csárdás Klänge der Heimat einen der musikalischen Höhepunkte des Abends ab. Ilia Staple als Adele brilliert mit Wiener Schmäh, kokettem Spiel und betörenden Koloraturen.

Lucian Krasznec begeistert als Alfred nicht nur mit draufgängerischem Spiel, sondern vor allem mit seinem schönen Belcanto-Tenor. Daniel Gutmann gibt den Dr. Falke mit noblem Bariton. Eine spielerische und sängerische Glanzleistung liefert Emma Sventelius als Prinz Orlofsky ab, die mit kräftigem und dunkel timbriertem Mezzosopran und ausdrucksvoller Gestaltung dieser Figur einen so noch nie gesehenen Tiefgang verleiht. Reinhard Mayr gibt den Gefängnisdirektor Frank mit kraftvollem Bass und markantem Spiel, Juan Carlos Falcón den stotternden Advokaten Dr. Blind mit überzeugendem Charaktertenor. Michael Dangl ist mit der klassischen Darstellung des Gefängnisaufsehers Frosch eine Idealbesetzung. Florine Schnitzel als Adeles Schwester Ida und Alexander Jürgens als Orlofskys Begleiter Iwan fügen sich nahtlos in das überragende Ensemble ein.

Auch musikalisch ist der Operettenabend ein Hochgenuss. Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter der Leitung von Anthony Bramall spielt einen beschwingten Strauss, mit Dynamik und Leidenschaft. Schon die Ouvertüre kommt schmissig, und man muss als Zuschauer an sich halten, um nicht mit den Füßen im Takt mitzutanzen. Bramall lässt die Sänger immer im Vordergrund, und im Dui-du im zweiten Akt erzeugt er mit transparentem Klang und filigranem Dirigat eine ganz besondere Stimmung. Dovilė Šiupėnytė hat den spielfreudig agierenden Chor bestens eingestellt.

Nach knapp drei Stunden senkt sich der Vorhang über eine denkwürdige Vorstellung, und das Publikum im ausverkauftem Gärtnerplatztheater bejubelt das gesamte Ensemble über mehrere Minuten. Die frische, spritzige und witzige Inszenierung, die am kommenden Sonntag ihre B-Premiere erlebt, hat alles, um  zu einem langjährigen Dauerbrenner zu avancieren.

Andreas H. Hölscher