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L’ELISIR D’AMORE
(Gaetano Donizetti)
Gesehen am
16. April 2020
(Video on demand)
Wäre nicht Dulcamaras Zaubertrank, dieses Medium der Verwirklichung aller verwunschenen Träume in Donizettis Melodramma giocoso, exakt der geeignete Stoff, die heutige Opernszene aus den Klauen der Pandemie zu befreien? Doch bedauerlicherweise steht dieser Satz im Konjunktiv, und noch bedauerlicherweise wird in der 1832 in Mailand uraufgeführten Oper die Idee eines Wundermittels für und gegen alles als Illusion entlarvt. Der Wunderdoktor, der vorzugsweise an törichte Landbewohner vom Typ Nemorino Rotwein als Allheilmittel verkauft, ist nichts anderes als ein pfiffiger Scharlatan. Und die Imagination einer plötzlich befreiten Kunstszene eine Schimäre. Noch bevor sich die Video-on-Demand-Wiedergabe dieser Aufzeichnung von L’Elisir d’Amore aus dem Jahr 2015 auf der Webseite der Bayerischen Staatsoper starten lässt, erscheint eine virtuelle Spendenaufforderung: „Wir möchten Sie bitten, diejenigen zu unterstützen, die die Corona-Krise ganz besonders trifft: Die Künstlerinnen und Künstler der Freien Szene.“
Gewiss, eine Geste der Solidarität im arg mitgenommenen Musiktheaterbetrieb. Zugleich aber auch ein Fall von Ernüchterung. Der pure Genuss, der sich üblicherweise mit einem der perfektesten Buffo-Werke des Belcanto-Meisters aus Bergamo einzustellen pflegt, kann im besten Falle nur eine halbe Sache werden. Zu eklatant ist die Diskrepanz zwischen einem live erlebten Opernabend und der virtuellen Vermittlung eines solchen Abends dank der TV- und Digitaltechnologien. Schon das aus dem Parkett im Münchner Nationaltheater aufsteigende Gebrummel zeitgleich zur Nennung der Namen der Akteure auf dem Bildschirm macht diesen strukturellen Unterschied bewusst. Es ist dieses bange Gefühl eines akuten Verlustes jetzt und womöglich in der Zukunft, das die gut zwei Stunden „Oper im Guckkasten“ begleiten wird, diffus und doch wirkmächtig.
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Es gibt gute Gründe, warum das von Buffo-Esprit sprühende, angeblich in dreizehn Tagen komponierte Meisterwerk zum Kernrepertoire vieler Opernhäuser zählt. Das Libretto Felice Romanis bot ja auch dem gerade 34-jährigen Donizettis eine Vielzahl an Gelegenheiten, seinen Stil des musikalischen Witzes und der melodiebetonten Eleganz zumal in den Ensemblenummern weiterzuentwickeln. Es gibt allerdings ebenfalls gute Gründe, diese Produktion aus dem VoD-Archiv der Bayerischen Staatsoper zu erleben, nachzuerleben. Wie geht Regisseur David Bösch seine Sache an? Wie schlagen sich die drei männlichen Protagonisten, allen voran Matthew Polenzani in der Tenor-Partie des liebestollen jungen Bauern, die alle großen Tenöre im italienischen Fach seit Caruso gesungen haben? Wie zeichnet die Besetzung der Adina, das Objekt der Sehnsucht Nemorinos, ihre Wandlung von der koketten Kindfrau hin zu einer ernstzunehmenden Persönlichkeit?
Schon die comicartige Betitelung auf dem Bühnenvorhang während der schmissigen Ouvertüre lässt ein spezielles Spektakel erwarten. Für Bösch ist die Geschichte um eine beinahe verfehlte Liebe, die in der Sage von Tristan und Isolde ihren Urgrund hat, eine urmenschliche Komödie. Der Regisseur lässt sie in einer Arena der Fantasie spielen. Einfache Bilder, die aus Fellinis La Strada stammen könnten, wechseln sich mit Motiven vom Zirkus oder einem beliebigen Rummelplatz. Alles ist ernst, und alles ist heiter. Im Finale des ersten Aufzugs überlässt der Sergeant Belcore seinem Nebenbuhler, dem verdutzten Nemorino, sogar seine Pistole, bevor er mit Adina von dannen zieht, vorerst jedenfalls.
Patrick Bannwarts Bühnenbild nimmt zu Beginn mit einem einfachen Dorfplatz für sich ein. Nicht einmal ein Strauch, geschweige ein Baum hat auf dem Pachthof der wohlhabenden Adina eine Chance. Luftballons, die gleich nach der Ouvertüre in den Theaterhimmel verschwinden, sorgen für einen winzigen farblichen Akzent. Dafür begrenzt seitlich ein Telegrafenmast die Szene, an dem ein Telefon mit Wählscheibe angebracht ist. Adina und Nemorino agieren in ausgesessenem Gestühl. Die Verzückung des jungen Tolpatsch, die sich mit Quanto e bello melodiös Bahn bricht, bedarf keiner besonderen Ausstattung. Das ändert sich spektakulär mit der fünften Szene. Dulcamara fährt mit einem zischenden und knatternden Etwas vor, halb Ufo, halb U-Boot, ständig wie eine Lokomotive Rauch und Nebel ausstoßend.
Falko Herolds Kostüme tun ein Übriges, den Geist aus der Flasche des Quacksalbers zu beschwören. Vermitteln die Schnitter noch das malerische Ambiente der toskanischen Ländereien, verschreckt die Soldateska des Belcore mit ihren Uniformen und Gewehren. Doch der martialische Aufzug täuscht. Wer sie in Wahrheit sind und was sie wirklich fühlen, wird am deutlichsten in der Interaktion mit dem Chor Liete concenti der Frauen im Finale des ersten Aufzugs. Hier verschmelzen beide Seiten jenseits allen Waffenklirrens zu einem beschwingten Ringelrein. Einzig Adina darf einen Hauch von upper class verbreiten. Sie bewegt sich im vornehmen, lilafarbenen Kostüm, das sie im zweiten Aufzug standesgemäß gegen ein weißes Hochzeitskleid tauscht. Eine drollige Studie in Komik gibt Evgeniya Sotnikova als Giannetta ab, die mit bunt-wilder Frisur, Rucksack und Kopfhörer über die Bühne quirlt, ständig in Aktion, quer zum Stellenwert ihrer eigentlich kleinen Rolle, dabei stimmlich bella figura macht.
Vor der Uraufführung notiert Donizetti in einem Schreiben an Romani: „Leider muss ich hier mit einer deutschen Primadonna, einem stotternden Tenor, einem Buffo mit der Stimme einer Ziege und einem französischen Bass, an dem nicht viel dran ist, arbeiten.“ In München verfügt die Staatsoper bei der Besetzung der Sängerrollen über weitaus bessere Bedingungen, um nicht zu sagen: glänzende. Polenzani, den das Münchner Publikum beispielsweise aus der Donizetti-Seria La Favorite kennt, ist eine Bank in der Rolle des verliebten Jungbauern. Sein ausdrucksstarker, je nach Situation eleganter oder lyrisch-schmelzender Tenor erlaubt es ihm, die ganze Palette vom Romeo bis zum Harlekin in feiner Legatokultur durchzudeklinieren. Subtil die Belcanto-Phrasierungen, sicher die Stimme im Passagio, dynamisch im Ringen mit den Widersachern und vor allem mit sich selbst.
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Der arme Junge muss sich gar gefallen lassen, von Belcores Soldaten malträtiert zu werden. Trotzdem singt Polenzani noch jede Menge Spitzentöne. Spätestens bei der populären Romanze Una furtiva lacrima beweist der an der Lyric Opera Chicago ausgebildete Sänger seine fulminanten spielerischen Fähigkeiten. Er klettert auf den Telegrafenmasten, schmachtet in halber Höhe seine Liebesschwüre, begleitet von einigen Luftballons, die so traurig wirken wie diese herzzerreißende Arie. Ein betörender Moment dieser Aufführung! In der TV-Adaption überblendet die Kamera in langsamer Bewegung von der Totalen auf die Großaufnahme, auf Polenzanis erfüllten Gesichtsausdruck. Aufbrandender Szenenapplaus, zu Recht.
Ailyn Pérez rundet als Adina die vokalen Glücksmomente dieses Opernabends. Mit Charme, Spielfreude und quirligen Koloraturen darf die Sopranistin ihren sozialen Aufstieg von der Extravaganz – Che capriciosa io son – hin zur Erwachsenenwelt ausspielen. Wenn das Liebespaar nach dem komplizierten Parcours endlich zueinander findet und sich küssend am Boden wälzt, scheint die Diskrepanz zwischen Bühne und Realität eingeebnet. Ja, die beiden könnten glücklich werden. Das (Ehe-)Glück ist zwar dem Belcore Mario Cassis nicht hold. Doch gehört schon mit der Auftrittskavatine Come Paride vezzoso sein farbenreicher Bariton zu den Pluspunkten dieser Produktion. Als Dulcamara schließlich ist der Bass Ambrogio Maestri ein ganz besonderes Pfund, und das auch im wahrsten Sinne des Wortes. Tritt er auf, beherrscht seine Bühnenerscheinung die Szene. Häufig reicht hierfür ein murmelndes Parlando, eine angenehme Grundierung etwa im Duett Quanto amore mit Adina. Erst recht in beiden Quartetten, in denen die Qualität dieser Buffo-Crew noch einmal manifest wird. Nicht zuletzt zeigt sich das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Asher Fisch bestens aufgelegt und für die Sängerdarsteller als einfühlsamer Begleiter. Gerade in den Ensemblenummern wird das plastisch, die Donizetti mit jener Leichtigkeit komponierte, die seinem Rivalen Bellini nicht lag oder von diesem bewusst gemieden wurde.
Was bleibt nach einem solchen speziellen Erlebnis außerhalb klassischer Opernöffentlichkeit? Von der Aufführung, die übrigens aus produktionstechnischen Gründen, wie es heißt, ohne Untertitel daherkommt? Von einer Rezeption on screen? Gewiss manches. Vielleicht ununterdrückbar die Vorstellung möglicher elementarer Verluste in der Welt der Oper, die bei sehr lang anhaltender Pandemie kaum vermeidbar erscheinen.
Ralf Siepmann