O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Wilfried Hösl

Aktuelle Aufführungen

Musik oder Dichtkunst

CAPRICCIO
(Richard Strauss)

Besuch am
17. Juli 2022
(Premiere)

 

Bayerische Staatsoper München, Prinzregententheater

Wenn man Richard Wagner gefragt hätte, was in seinen Werken denn wichtiger sei, das Wort oder die Musik, dann hätte der große Meister sicher geantwortet, dass für ihn beides gleichrangig sei und seine Bühnenwerke als musikdramatische Gesamtkunstwerke zu verstehen sein. So musikalisch interessant ein Ring ohne Worte auch sein mag, das Werk ist und bleibt unvollständig. Andererseits gibt es, vor allem im italienischen Fach, Opern, die musikalisch hinreißend sind, wohingegen man über das Libretto lieber den Mantel der Nächstenliebe decken sollte. Und so ist es der alte Streitfall der Musikgeschichte, den Richard Strauss in seiner letzten Oper aufs Tableau bringt: „Wort oder Musik?“ Wem gebührt der Vorrang in der Oper? Mit seinem letzten Bühnenwerk gibt Strauss vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs seine durchaus nicht unumstrittene Antwort auf die Frage nach der Stellung des Künstlers in der Gesellschaft. Doch Capriccio, als „Konversationsstück mit Musik“ untertitelt, ist keineswegs langweilige Theorie, sondern ein farbenreiches, amüsantes Kammerspiel, in dem der Komponist über den gewitzten Dialogen aus der Feder des Dirigenten und Librettisten Clemens Krauss raffiniert auf 300 Jahre Musiktheater zurückblickt. Das Werk wurde zur Summe von Richard Strauss’ kompositorischem Schaffen und seinem Abschied von der Oper. Für ihn selbst, dem Komponisten von so großen Bühnenwerken wie dem Rosenkavalier, der Elektra, der Salome und der Frau ohne Schatten war dieses Werk überhaupt nicht für die große Bühne konzipiert.

In einem Brief vom 12. Oktober 1941 schrieb Richard Strauss an Clemens Krauss: „Vergessen Sie nicht: Capriccio ist kein Stück fürs Publikum, wenigstens nicht für ein Publikum von 1800 Personen pro Abend. Vielleicht ein Leckerbissen für kulturelle Feinschmecker, musikalisch nicht sehr bedeutend, jedenfalls nicht so wohlschmeckend, daß die Musik darüber hinweghilft, wenn sich das große Publikum für das Buch nicht erwärmen sollte. In Ihrer Mitarbeiterfreude überschätzen Sie freundlicher Weise, glaube ich, das Stück.  Buch und Musik zusammen (wenn man jedes Wort Text versteht, Sie die Philharmoniker dirigieren und Ihre Leibgarde singt), dürfte einen für bessere Leute angenehmen Abend ergeben – an die eigentliche Bühnenwirksamkeit im gewöhnlichen Sinne glaube ich nicht und an einen wirklichen Premierenerfolg im normalen Hoftheaterrahmen auch nicht“. Die Premiere von Capriccio fand schließlich unter der Schirmherrschaft des Reichsministers Joseph Goebbels am 28. Oktober 1942 im Münchner National-Theater statt und wurde dort bis zur Zerstörung des Münchner Opernhauses am 2. Oktober 1943 mit großem Erfolg gespielt. Jahrzehntelang war die Oper nicht mehr in München zu erleben. Nun wird sie im Rahmen der Münchner Opernfestspiele im Prinzregententheater gezeigt, als letzte Premiere, fast genau achtzig Jahre nach der Uraufführung. Es ist eine überarbeitete Neuauflage von Regisseur David Marton, die Produktion wurde schon in Brüssel und Lyon gezeigt. Die Handlung verlegt er in die Zeit der Uraufführung der Oper: 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg.

Foto © Wilfried Hösl

Das „Konversationsstück“ hat nicht nur die grundlegende Streitfrage um Wort oder Musik zum Inhalt, denn natürlich geht es dabei auch um Liebe und Gunst, um Hingabe und Zurückweisung, und so wird aus einer Streitfrage schon sehr bald ein existenzielles Spiel um Macht, um Erfolg und Niederlage. Anlässlich der Vorbereitungen ihrer Geburtstagsfestlichkeiten hat die junge, verwitwete Gräfin Madeleine den Komponisten Flamand und den Dichter Olivier in ihr Schloss in der Nähe von Paris geladen. Beide beobachten, wie die Gastgeberin hingebungsvoll einem Streichsextett lauscht, das Flamand für sie komponiert hat. Beide, Komponist und Dichter, lieben die Gräfin und ereifern sich über die Frage, ob Wort oder Musik den Vorrang habe: „Prima le parole, dopo la musica oder Prima la musica, dopo le parole“. Der Theaterdirektor La Roche, der während des Konzerts geschlafen hat, hält nichts von solchen Auseinandersetzungen. Er ist auf dem Schloss, um ein Schauspiel von Olivier für die Festlichkeiten in Szene zu setzen. Madeleine tritt, begleitet von ihrem Bruder, dem Grafen, dazu. Auch sie weiß nicht, welcher Muse sie den Vorzug geben, ob sie sich für Flamand oder Olivier entscheiden soll. Der Graf hat es dagegen leichter, er liebt die berühmte Schauspielerin Clairon, die an diesem Tag zu einer Probe erwartet wird. Clairon und der Graf wetteifern im wechselseitigen Rezitieren eines Sonetts aus Oliviers neuem Schauspiel. Flamand wiederum fühlt sich durch die Worte zum Komponieren inspiriert und enteilt, während Olivier die Gelegenheit nutzt, um der Gräfin vergebens eine Liebeserklärung zu machen. Flamand kehrt zurück und trägt Oliviers vertontes Sonett vor. Madelaine ist begeistert und nimmt es als Geschenk beider an. Olivier wiederum besucht die Einstudierung seines Stückes durch den Theaterdirektor La Roche. Nun erklärt Flamand seinerseits Madeleine seine Liebe und wird zu einem Rendezvous am nächsten Tag um elf Uhr in die Bibliothek bestellt. Nachdem sich alle wieder im Salon versammelt haben, präsentiert La Roche dem erlesenen Kreis eine junge Tänzerin sowie ein italienisches Sängerpaar. Die Diskussion um die Vorherrschaft der Künste flammt wieder auf.  Mit großer Emphase plädiert La Roche dafür, dass sich alle Künste auf der Bühne der Inszenierung unterzuordnen haben; außerdem fehle es an Werken, die echte und wahre Menschen darstellen.

In seiner Ansprache Holà! Ihr Streiter in Apoll entwickelt La Roche seine Vision eines wahrhaftigen wie lebens- und kraftvollen Theaters – und teilt auch gleich noch die Inschrift, die einst auf seinem Grabstein stehen werde, mit. Der Graf macht zur Überraschung aller den Vorschlag: „Schildert euch selbst! Die Ereignisse des heutigen Tages – was wir alle erlebt.“ Flamand und Olivier erhalten den Auftrag, eine entsprechende Oper zu verfassen. Die Künstler sind begeistert und brechen zur Heimreise nach Paris auf, der Graf begleitet Clairon und Madeleine bleibt allein zurück. Ihr Urteil bleibt vage: „Ihre Liebe schlägt mir entgegen, zart gewoben aus Versen und Klängen. Soll ich dieses Gewebe zerreißen?“ Als der Haushofmeister meldet, dass Olivier am folgenden Tag um elf in der Bibliothek auf sie warte, fällt ihr ein, dass sie Flamand um dieselbe Zeit dorthin bestellt habe; für wen soll sie sich entscheiden? „Wählt man einen, verliert man den anderen.“

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In der Münchner Neuinszenierung von David Marton ist das heitere Konversationsstück als Kammerspiel im Theater zu erleben. Das Bühnenbild von Christian Friedländer besteht aus einem kleinen Theater mit Parkettstühlen, Logen und einer kleinen Bühne, die unten offen ist, wo man schon zu Beginn Monsieur Taupe sieht, den einsamen Souffleur. Auch drei Tänzerinnen, ein junges Mädchen, eine junge Frau und eine ältere Dame sind die Spiegelbilder der Gräfin. Ein schöner Einfall, wenn das junge Mädchen unter einem Tisch verschwindet und die junge Frau dann wieder hervorgekrochen kommt. Dass die drei dann zwischenzeitlich als Kriegsflüchtlinge dargestellt werden, ist auch der einzige Hinweis auf das Jahr 1942. Normalerweise wird der Einakter ohne Pause gegeben, bei dieser Inszenierung gibt es eine Unterbrechung. Nach der Pause werden auf der kleinen Theaterbühne viele Pflanzen aufgestellt, so dass ein schon fast romantischer Garten auf der Bühne entsteht. Dass beim Schlussbild die acht Diener alle als Monsieur Taupe in den Logen aufgereiht sind, ist mehr ein Gag denn tiefgründige Regie. Auch die Unart, die neuerdings wieder in die Theater einzieht, dass die Protagonisten auf der Bühne rauchen müssen, kann man sich schenken, weil es für die Geschichte nichts bringt und für die Sänger eher eine Zumutung ist. Ansonsten ist die Inszenierung ganz nah am Original. Die Kostüme wurden von Pola Kardum sehr stilvoll an die Zeit adaptiert, insbesondere die beiden Kleider der Gräfin sind elegant und üppig. Regisseur Marton lotet die Personengeflechte und ihre Beziehungsebenen untereinander sehr sorgfältig aus. Natürlich steht die Gräfin Madeleine im Mittelpunkt. Es sind aber nicht nur die beiden Künstler Flamand und Olivier, die sich in ihrem Werben mit ihren Künsten gegenseitig übertrumpfen möchten, aufgestachelt von dem selbstgefälligen Theaterdirektor La Roche, dem typischen Prinzipal vergangener Zeiten. Es sind auch die Nebenfiguren, wie Madeleines Bruder oder die Schauspielerin Clairon, deren Rollen deutlich aufgewertet werden. Am Ende ist es dann doch die Symbiose aus Wort und Musik, die die Oper erst zu dem macht, was alle an ihr lieben. Und so ist diese Inszenierung nicht einfach nur heiter und kapriziös, sondern Marton verleiht ihr den Tiefgang und die Doppelbödigkeit, die wir auch in der Musik finden, die ja teilweise bewusst auch gegen den Text komponiert wurde.

Wie fragt die unentschiedene Gräfin zum Ende ihr Spiegelbild? „Kannst du mir helfen, den Schluss zu finden für ihre Oper? Gibt es einen, der nicht trivial ist?“ Es ist zweifelsohne der Abend der Diana Damrau, die ihr Rollendebüt in der Partie gibt. Ihr strahlend hoher Sopran ist von einer großen Tragfähigkeit, der mit weit gesponnenen Bögen und leuchtenden Höhen eine lyrische Leichtigkeit erzeugt, und doch von großer Durchschlagskraft ist. Ihre Darstellung und ihre Ausstrahlung sind geprägt von einer natürlichen Grandezza. Pavol Breslik gibt mit wunderbar lyrischem Tenor und Belcanto-Gesang den Komponisten Flamand, während Vito Priante mit noblem Bariton die Künste des Dichters Olivier preist. Wie ein Fels in der Brandung wirkt der mittlerweile 71-jährige Kristinn Sigmundsson als Theaterdirektor La Roche. Mit seinem kräftigen und markanten Bass ist er stimmlich wie optisch ein beeindruckender Künstler, und den La Roche gibt er nicht nur mit viel Leidenschaft und Nachdruck, sondern auch mit sauberer und schöner Deklamation. Tanja Ariane Baumgartner zeigt mit der Rolle der Schauspielerin Clairon, dass sie nicht nur über einen ausdrucksstarken Mezzosopran verfügt, sondern auch in punkto Rezitation und Deklamation keinen Vergleich zur sprechenden Zunft scheuen muss. Michael Nagy in der Besetzung des Grafen darf mit seinem edlen Bariton schon als Idealbesetzung angesehen werden. Deanna Breiwick überzeugt mit leichtem und hellem Sopran als italienische Sängerin, während Galeano Salas mit schönem Tenor ihren italienischen Counterpart darstellt. Toby Spence als Monsieur Taupe und Christian Oldenburg als Haushofmeister reihen sich gesanglich in das hohe Niveau des Ensembles ein.

Lothar Koenigs am Pult des Bayerischen Staatsorchesters hatte vor wenigen Wochen bei seinem Tristan-Dirigat gezeigt, was für ein exzellenter Fachmann er ist. Was er jetzt aus diesem Werk, aus dieser sinfonischen Klangmalerei an Schönheit und Tiefgang herausarbeitet, das ist von allerhöchster Güte. Angefangen mit dem wunderbaren Streich-Sextett zu Beginn der Oper über das dahinperlende Parlando, den scheinbar schwerelosen Gesprächston, Fuge, Sonett und Oktett bis hin zum poetischen Mondscheinstück und dem sentimental-ironischen Finale: Sein Dirigat ist differenziert, jeder Schlag nachvollziehbar, und er nimmt große Rücksicht auf die anspruchsvollen Gesangspartien, so dass die Sänger bei ihm im Vordergrund stehen. Koenigs kann schwelgen, aber er beherrscht genauso die großen kammermusikalischen Momente der Partitur, die er dann filetiert und punktiert herausarbeitet und symphonische Tondichtung, orchestrale Opulenz und kammermusikalische Intimität an einem Abend gleichermaßen anbietet. Und das Bayerische Staatsorchester setzt seine Vorgaben mit Brillanz und großer orchestraler Klanggewalt um.

Das Publikum im ausverkauften Prinzregententheater ist nach dreieinviertel Stunden begeistert und bejubelt das Ensemble lautstark, allen voran darf Diana Damrau die Ovationen entgegennehmen, und auch das Regieteam wird gefeiert. So ist dieser Abend ein musikalischer Hochgenuss, und die Frage „Wort oder Musik“ stellt sich nicht, oder um mit Wagner zu sprechen: Es ist das Gesamtkunstwerk, was zählt.

Andreas H. Hölscher