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Rettende Rituale

VIOLETTER SCHNEE
(Vladimir Sorokin)

Besuch am
14. Januar 2022
(Uraufführung am 13. Januar 2022)

 

Theater an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr

Die Situation ist bekannt: Personen verschiedener Herkunft werden in einen Raum gesperrt, aus dem es auf Zeit kein Entrinnen gibt. Spätestens seit Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft gehört der Rahmen zu den beliebten Ausgangssituationen für Bühnenhandlungen. Allerdings kam Sartre 1944 zu ganz anderen Ergebnissen als Vladimir Sorokin in seinem Stück Violetter Schnee, das ursprünglich als Opernlibretto geplant war, jetzt aber von Roberto Ciulli am Theater an der Ruhr als Sprechtheaterstück uraufgeführt wird. „Die Hölle sind die anderen“ lautete Sartres Quintessenz, die bis heute Gegenstand philosophischer Diskurse ist. Sorokin ist in Bykowo bei Moskau geboren, wurde Ingenieur, später Schriftsteller und Dramatiker. Heute gilt er als Vertreter des Moskauer Konzeptualismus und der russischen Postmoderne. Damit erscheint ihm nicht das fertige Stück wichtig, sondern die Idee dazu.

In Violetter Schnee wird eine Gruppe in einem eingeschneiten Haus in den Bergen eingeschlossen. Hilfe ist nicht in Sicht. Dank der Vorsorge von Nataschas verstorbenem Mann Alex, dem Besitzer des Hauses, gibt es einen Vorrat, der allerdings allmählich zur Neige geht. Neben Natascha sind die Bratschistin Silvia, deren Mann Jan, der ein Liebesverhältnis mit Natascha hat, Peter und Jacques zugegen. Anders als bei Sartre stehen aber nicht die Herkunft der Gäste und ihre – beabsichtigten – Beziehungen im Vordergrund, sondern wie die Akteure ihr Überleben gestalten. Da verfallen die einen in alte Rollenmuster, frönen ihren Süchten, andere verfallen in Selbstmitleid oder abstruse Ideen, die ihren Aufenthalt sinnvoll erklären sollen. Alle gemeinsam versuchen, neue Rituale zu entwickeln.

Ciulli sieht in dem Haus eine Metapher für Europa. Ein Europa, das sich in der Katastrophe befindet, aber durch neue Rituale gestärkt aus der Krise hervorgehen kann. Dass die Rituale nicht verfangen, wird im Bühnenbild von Elisabeth Strauß deutlich. Sie zeigt ein einfaches Ferienhaus, in dem immer wieder Feuerchen zündeln. Im Hintergrund ist ein Fenster eingebaut, das an ein Kirchenfenster erinnert. Rechts davor ein Herd. Glückwunsch an die Requisite, ein solches „Schätzchen“ noch gefunden zu haben. Im Raum verteilt ein Tisch, mehrere abgewrackte Stühle. Die Bohlenbretter des Fußbodens zeigen bereits erste Lücken, weil das Brennholz aufgebraucht ist, und das Haus Europa sich allmählich von innen her verzehrt. Bei den Kostümen zeigt Strauß vergehenden Glanz. Natascha als Geliebte darf sich erotisch zeigen. Jochen Jahnke seziert die Szene bis auf wenige Effekte im gleißenden LED-Weißlicht.

Die Figuren legt Ciulli überwiegend artifiziell an. Statt tiefergehender Dialoge gibt es starke Bilder der Ruhe, des Abwartens, interessante Regie-Einfälle. Und eben der Rituale. Dagmar Geppert gefällt als Natascha, die im allgemeinen Lebenskampf versucht, ihre Interessen durchzusetzen und dabei auch mal laut werden darf. Die Bratschistin am Ende ihrer Karriere zeigt Simone Thoma als vergeistigtes Wesen am Rande des Alkoholismus, das mit verzweifelten Gesten seiner Erinnerung anhängt. Albert Bork will und kann sich als Jan nicht auf die eine Frau festlegen. Der schwule Jacques, eben von seinem Lebensgefährten verlassen, wird von Thomas Schweiberer als der Hungernde stilisiert, der mit Genuss zum Hundefutter greift. Und Fabio Menéndez hat seinen großen Auftritt als Peter, wenn er in einer eigenen, großen Szene von der dunklen Materie fabulieren darf. Alle gemeinsam dürfen von einer großen Zukunft träumen, wenn der Schneefall endet, müssen aber erkennen, dass genau diese Zukunft ganz anders ist als erwartet. Denn der Schnee, der sich unter kristallblauem Himmel im Sonnenschein zeigt, ist violett.

Adriana Kocijan bettet den Abend in eine Klangcollage, in der unter anderem Musikeinsprengsel von Paul Hindemith, Max Richter, Johannes Brahms, Bernard Herrmann und Antonio Lucio Vivaldi Eingang finden. Die zusätzlich eingespielten Geräusche bleiben oft unmotiviert respektive unerklärlich, stören aber auch nicht oder untermalen gar hier und da die Atmosphäre.

Das spärlich erschienene Publikum hält geduldig knapp zwei Stunden durch und applaudiert nach Kräften. Das Bonmot von Roberto Ciulli sei an dieser Stelle nicht verschwiegen. „Die Sprache ist eine Verabredung, mit der wir es schaffen, wenn wir uns an sie halten, einen konstruktiven Diskurs mit unseren Mitmenschen zu führen. Sie ist ein prinzipielles Ritual. Wenn die Sprache – wie in der heutigen Zeit besonders auf politischer Ebene – verkommt, verkommen alle anderen Rituale.“ Das Zitat stammt aus einem Gespräch mit seinem Dramaturgen Markus Schlappig, das als Programmheft abgedruckt wurde, ehe Schlappig den Text mit ideologischen Sternchen zur Unleserlichkeit verunziert und damit zum Abbruch des Weiterlesens geführt hat. Manchmal bietet es Vorteile, das Programmheft erst nach der Aufführung lesen zu können – oder wie in diesem Fall: gar nicht erst zu lesen. Damit der Eindruck von der Intelligenz eines Theaterabends nicht von der sprachlichen Unwissenheit eines Wasserträgers zerstört wird, der sich zur neuen Sex-Elite der Kulturarbeiter zählt.

Michael S. Zerban