O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bernd Possardt

Aktuelle Aufführungen

„Wir sind eine große Band!“

NUTCRACKER REIMAGINED
(Diverse Komponisten)

Besuch am
12. November 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Stadthalle Mülheim an der Ruhr

Nach wie vor spaltet es die Gemüter: Ist es legitim, sinfonische Werke in ihre Bestandteile zu zerlegen? Zum Beispiel, um etwas im Sinne der Popmusik-Produktion zu „remixen“? Kristjan Järvi, Chefdirigent des Baltic Sea Philharmonic, sieht so etwas denkbar unverkrampft: Um neuen Freiheitsdrang im Musikbetrieb geht es. Es braucht eine neue Lebendigkeit, damit Konzerte „Menschlichkeit und Glücksgefühl“ erzeugen, wie er im Gespräch bekundet. „Seriöse“ Werk-Aufführungen kann und will das neue Konzept des Baltic Sea Philharmonic nicht ersetzen. Für frischen Wind sorgt so etwas allemal – auch beim Konzert in der Stadthalle Mülheim.

Freiheit geht beim Baltic Sea Philharmonic nicht ohne Ehrgeiz. Den brauchte es allein, damit sich sämtliche Musiker des Orchesters schon vor Jahren von Notenständern befreien konnten. Das komplette Auswendig-Spiel eines ganzen Orchesters fordert maximale Achtsamkeit füreinander und eröffnet unbegrenzte Möglichkeiten in Sachen Bühnenpräsenz und Interaktion. Es beeinflusst sogar das Hörerlebnis. So mancher „Selbsttest“ mit geschlossenen Augen belegt das regelmäßig.

Das aktuelle Programm Nutcracker Reimagined hatte vor knapp einem Jahr Premiere und ist damit jetzt schon fast ein „Klassiker“, der sich aber noch ständig weiterentwickelt. Also liegt auf der Hand, dass der Sound dieses „Remixes“ jetzt schon wieder ein anderer ist. Etwas weg vom spektakulär-collagenhaften, dafür spürbar lyrischer, verinnerlichter, manchmal fast getragener. Aber auch mit erfrischend temperamentvollen Anreicherungen aus der Gegenwart. So wirkt das Spiel dieses etwas anderen Orchesters in der Mühlheimer Stadthalle.

Gabrielė Bekerytė – Foto © Bernd Possardt

Dem Eintauchen in die kompositorischen Tiefen von Tschaikowsky, Grieg, aber auch Elgar und Arvö Pärt kommen solche Veränderungen durchaus zugute, um die programmatische Idee des estländischen Dirigenten zu erfüllen: „Es geht hier überhaupt nicht darum, Inhalte über den Haufen zu werfen. Aber es kommt auf eine zeitgemäße Form an.“ Untermalt von farbenreicher Lichtregie eröffnet die von Järvi selbst komponierte Ouvertüre Ascending Swans das sinnliche Spektakel. Es lebt von der Kunst geschmeidiger Übergänge. Es kommt auf den richtigen Moment an, damit Musiken, die original nicht zusammengehören, ohne Reibungsverlust zueinander finden. Tschaikowskys – fast allzu – populäre Ballettmusik wurde von Järvi als „Dramatische Sinfonie“ neu arrangiert und damit zu einer tragenden Säule, um anderes, auch Neues zu integrieren. Eine kleine Wendung im richtigen Moment zwischen zwei Phrasen reicht, um den lyrischeren Gegenpol, nämlich, Griegs Klavierkonzert einzufügen – sozusagen als „neues Thema“ in einer übergeordneten sinfonischen Struktur. Gabrielė Bekerytė am Piano spielt mit hohem Gespür fürs atmende empfindsame Ganze des Orchesters, was in den Passagen des Grieg-Konzertes wie ein Funke überspringt. Ein getragenes Schwanenlied von Arvo Pärt, Teile aus Edvard Elgars Enigma-Variationen fungieren als weitere Bausteine, ebenso wie ein neues, temperamentvolles Stück des Moldaviers Marius Malanețchi sowie das treibende Precision des Filmkomponisten Johnny Klimek, mit dem Järvi für die Filmmusik zur Kultserie Babylon Berlin zusammenarbeitet.

Die Musiker in der Mülheimer Stadthalle spielen das so, als wäre alles genau für eine solche Kombination vorgesehen. Järvi ist in seinem Element, streift im ganzen Orchester umher, traktiert selbst auch mal ein Perkussionsinstrument und feuert die jungen Leute an. Irgendwann mal hockt er sich symbolträchtig zur Percussion-Gruppe auf die Bühne, wo einer gerade das rhythmische Geschehen durch eine Rahmentrommel anführt. So sieht Führungskompetenz ohne Dominanzgehabe aus.

An Selbstbewusstsein mangelt es Järvi nicht. „Es überrascht mich nicht, was heute passiert. Es war klar, dass, wenn wir mit einem offenen Konzept in die Zukunft gehen, auch Überraschendes entstehen würde. Der springende Punkt bei allen Experimenten ist, ob sie etwa nur vom Intellekt her oder wirklich von Herzen kommen“, sagt er. Als Zugabe in der Mülheimer Stadthalle setzt das Baltic Sea Philharmonic mit einer knackigen Trance-Pop-Nummer noch eins drauf, bei der zwei Musikerinnen aus dem Orchester ihre Gesangsstimmen attraktiv zum Einsatz bringen. Schon vorher ist das ganze Orchester phasenweise mal zu seinem eigenen Chor mutiert.

Zum Publikum des Abends gehören Schüler der Mülheimer Gesamtschule Saarn, die auf Initiative ihres Lehrers Stephan Glagovsek-Adam im Rahmen eines Musikunterricht-Projektes das Konzert miterleben dürfen. Mehr Bewusstseinserweiterung fürs Konzertpublikum der Zukunft geht kaum. Nämlich dafür, dass ein sinfonisches Konzert etwas ganz anderes sein kann als ein steifes, von Konventionen und Schwarzweißlook beherrschtes Stillsitz-Ritual.

Am 16. Dezember führt das Baltic Sea Philharmonic dasselbe Programm in der Kölner Philharmonie auf. Solistin am Flügel ist dann Olga Scheps, die auch die Uraufführung in Hamburg spielte.

Stefan Pieper