O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Christian Palm

Aktuelle Aufführungen

Packende Uraufführung

MARTIN HELMCHEN & MARIE-ELISABETH HECKER
(Diverse Komponisten)

Besuch am
13. Juni 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Stadthalle Mülheim an der Ruhr

In den Programmen des Klavier-Festivals Ruhr tauchen überwiegend klassische Werke bekannter Komponisten der Musikgeschichte auf. Doch auch die zeitgenössische Musik wird nicht vernachlässigt. In diesem Jahr werden im Rahmen von zwei Konzerten Tonschöpfungen von York Höller vorgestellt. Den Anfang macht in der Stadthalle Mühlheim an der Ruhr eine Uraufführung, die von der Stiftung des Festivals in Auftrag gegeben wurde: das rund 20-minütige, dreisätzige Doppelkonzert für Violoncello, Klavier und kleines Orchester.

Höller, 1944 in Leverkusen geboren, gehört mit zu der Generation, die sich in Westdeutschland ab den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts gegen die damals vorherrschende, von deren Vertretern zum Dogma erhobene, rein serielle Kompositionstechnik auflehnten. Diese strenge Methode ist eine Weiterentwicklung der Zwölftontechnik. Sie schreibt vor, dass nicht nur die zwölf Töne innerhalb einer Oktave, sondern auch Tondauer, Tonhöhe und Lautstärke gleichberechtigt sind. Zu den berühmten Protagonisten zählen Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Luciano Berio oder Luigi Nono. Namhafte Kollegen wie Wolfgang Rihm, Hans-Jürgen von Bose, Manfred Trojahn, Detlev Müller-Siemens und Wolfgang von Schweinitz gehören zu den Widerständlern. Bei den Darmstädter Ferienkursen 1978 beschrieb von Bose den Grund folgendermaßen: „Verbindend ist die Sehnsucht nach einer verlorengegangenen Schönheit und Inhaltlichkeit. Weiterhin die Ablehnung eines erheuchelten Fortschrittsglaubens und das Bedürfnis, der Situation möglichst realistisch gegenüberzutreten. Weiterhin der Glaube an Schönheit und Sinnlichkeit als Überträgersubstanz einer neu zu suchenden, für jeden neu und individuell zu formulierenden Inhaltlichkeit. Diese neue Inhaltlichkeit wird sich zunächst einmal zwangsläufig als Konsequenz des erschütterten Fortschrittsglaubens artikulieren.“

Unter ihnen gilt Höller als ein experimenteller Klangerfinder. Er negiert den Serialismus zwar nicht vollends, kombiniert mannigfaltige zeitgenössische Kompositionstechniken, lässt romantische Anklänge und klassische Strukturen zu. Doch eine Rückbesinnung auf Tonalitäten kommt für ihn nicht in Frage. Jenseits von Dur und Moll findet er dennoch Wege zu schönen Klangbildern. Er wird als Klangzauberer der Neuen Musik bezeichnet. Stellvertretend dafür ist das Doppelkonzert, das vor einem überschaubaren, aber neugierigen Publikum aus der Taufe gehoben wird. Die Klangsprache ist vielgliedrig. Ausgangsbasis ist ein vieltöniges Gebilde. Kleinste Motive entwickeln sich. Klangschichten überlagern sich oder werden aneinandergereiht. Gebrochene Vielklänge korrespondieren oder kontrastieren mit Skalen, Tonrepetitionen. Die sich verändernden Prozesse, die schnell und allmählich ablaufen, finden auf den drei Ebenen Cello, Klavier und Orchester statt, alternierend nacheinander oder kontrapunktierend. Es entstehen facettenreiche harmonische – nicht zu verwechseln mit tonalen – hochsensible kontemplative bis hin zu eruptive Klanggemälde, die in ihren Bann ziehen. Das Opus ist ein Paradebeispiel dafür, dass es für eine ergreifende Musik keiner grundtonalen, freitonalen Bezüge bedarf. Jeder Ton für sich steht für sich und spricht allgemeinverständlich.

Die beiden berühmten Solisten, Cellistin Marie-Elisabeth Hecker und Pianist Martin Helmchen, meistern ihre teils hochgradig schwer spielbaren Parts bravourös, als wären rasend schnelle, sich dynamisch ändernde, auf dem gesamten Griffbrett beziehungsweise der ganzen Tastatur verteilten Flageoletts, Pizzicati, Läufe oder Arpeggien eine leichte Selbstverständlichkeit. Auch das Kölner Kammerorchester zeigt sich unter der umsichtigen und präzisen Leitung von Christoph Poppen ebenfalls bestens präpariert, spielt sehr sauber selbst komplexe Strukturen klar durchhörbar. Bestens kommunizieren Hecker, Helmchen und das Orchester miteinander, fügen somit die drei musikalischen Ebenen trotz ihrer Mannigfaltigkeit zu einem harmonischen Ganzen.

Eingebettet ist das kompositorisch meisterhafte Werk in zwei Klassiker. Festlich geht es los mit Wolfgang Amadeus Mozarts Ouvertüre zu seiner Opera seria La Clemenza di Tito. Mit festem Zugriff und klar durchstrukturiert wird sie intoniert. Und für einen harmonischen Ausklang des kurzweiligen Abends sorgt die 90. Sinfonie in C-Dur aus der Feder von Joseph Haydn. Auch sie wird fein phrasiert und spannungsvoll zur Aufführung gebracht. Nur hätten sich die Blechbläser ruhig vorher noch einmal ins stille Kämmerlein zurückziehen können, um intensiver an ihren Noten zu feilen. Schön ist, wenn kurz vor Schluss die lange Pause – Fermate genannt – ausgiebig ausgekostet wird, damit der vom Komponisten beabsichtigte Trugschluss, das Stück sei bereits zu Ende, zum Tragen kommt und deswegen die Zuhörer frühzeitig zu applaudieren beginnen. Das ist an diesem Abend nicht der Fall. Bekanntlich konnte es Haydn faustdick hinter den Ohren haben. Ein populäres weiteres Beispiel für sein Raffinement ist seine 45. Sinfonie in fis-Moll, in der im Finalsatz die Musiker nach und nach aufhören zu spielen und gehen. Damit signalisierte der Komponist dem Brötchengeber Nikolaus I. Esterházy durch die Blume, dass sie urlaubsreif sind. Der Fürst hatte verstanden und gewährte die Ferien.

Sowohl das Doppelkonzert und Höller, als auch die Leistung der Solisten, des Kölner Kammerorchesters und seines Dirigenten ernten langanhaltenden Beifall. Wer neugierig auf die Musik York Höllers ist, kann am 15. Juni das Haus Fuhr in Essen-Werden aufsuchen. Dann stellt um 20 Uhr im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr Pianistin Hanni Liang neben Werken von Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Liszt einen Querschnitt seiner Klavierwerke vor.

Hartmut Sassenhausen