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EUROPA
(Lars von Trier, Charlotte Beradt)
Besuch am
14. April 2022
(Premiere am 30. Oktober 2021)
Dieses Stück ist nichts für Weicheier. Und schon gar nichts für Menschen, die ins Theater gehen, um sich unterhalten zu lassen. Schon der Titel verwirrt. Europa oder die Träume des Dritten Reichs müsste richtig Europa, Epidemie und die Träume des Dritten Reichs heißen. Denn Regisseur Philipp Preuss und Dramaturg Harald Schäfer verweben gleich drei Werke zu einem höchst komplexen, zweistündigen Theaterstück.
1984 begann Lars von Trier mit seinem Film The Element of Crime seine Europa-Trilogie, ohne es damals schon zu wissen. 1987 folgte Epidemic, in dem zwei Filmemacher ein Drehbuch schreiben wollen. Kernidee ist, dass Dr. Mesmer bei Ausbruch der Pest das schützende Spital verlässt, um den Menschen im Land zu helfen. Was er nicht weiß, ist, dass er mit seinen verunreinigten Instrumenten dafür sorgt, dass die Infektion sich viel rascher ausbreitet. Mit Europa schloss von Trier 1991 seine Trilogie. Hier kommt der Amerikaner Leopold Kessler 1945 nach Deutschland, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Er bekommt eine Anstellung als Schlafwagenschaffner bei „Zentropa“. Der Besitzer des Unternehmens, Max Hartmann, ist ein linientreuer Nationalsozialist, seine Tochter, die Kessler später heiratet, gehört den Werwölfen an, einer besonders üblen Gruppe von Nazi-Ideologen. Kessler wird zum Spielball verschiedener Gruppierungen, ehe er selbst einen Zug in die Luft sprengt. Als sei es nicht schon genug, die Inhalte der beiden Filme zu mischen, ergänzen Preuss und Schäfer das Geschehen um Texte aus dem Buch Das Dritte Reich des Traums von Charlotte Beradt, die wie eine Vorhersage der NS-Ideologie wirken. Ja, es macht Sinn, die Ausbreitung eines Virus mit der Verbreitung einer Ideologie zu vergleichen. Und bietet den interessanten gedanklichen Ansatz, dass, wenn man die Reise eines Virus mit ganz praktischen Maßnahmen unterbinden kann, es vielleicht auch Möglichkeiten gibt, Ideologien auf diesem Wege zu stoppen.
Im Theater an der Ruhr fällt es an diesem Abend allerdings ziemlich schwer, Gedankengängen zu folgen. Ständige Ebenenwechsel erfordern höchste Konzentration, und dann möchte man schließlich auch die Bilder genießen, die teilweise opulent daherkommen.
Foto © Franziska Götzen
Schon das Entrée ist überwältigend. Ramallah Aubrecht hat in die Bühnenmitte sieben hintereinanderstehende Lichtbögen gestellt, die Tunnel, Schlafwagen oder andere Orte darstellen. Außerdem gelingen Joachim Jahncke hier großartige Lichteffekte. Die Seitenbühnen bieten Platz für die Auftritte der Drehbuchschreiber und für Kleiderstangen. Inmitten dieser Lichtbögen steht Gabriella Weber blutüberströmt in einem historischen Kleid. Die Kostüme hat Eva Karobath entworfen, die ihrer Fantasie hier freien Lauf gelassen hat. Das ist nicht immer ganz schlüssig, trägt aber zu Bildern bei, die schön bis eindrucksvoll anzuschauen sind. Preuss versteht es, das Personal in immer wieder interessanten Konstellationen zusammentreten zu lassen. Ein paar Videoprojektionen von Konny Keller werden geschickt und überraschend eingebaut.
Als Sprecherin und Seherin hat Petra von der Beek die schwierige Aufgabe, die Hypnose glaubhaft zu machen. Das gelingt ihr mühelos, als ruhender Pol bringt sie Linie in das oft rasch wechselnde Spiel. Alexander Gier als Niels und Fabio Menéndez als Lars, die beide auch noch andere Rollen übernehmen, spielen überzeugend die Drehbuchschreiber. Die schwierigste Rolle ist sicher die des Leo Mesmer, den Preuss permanent ins Abseits verweist. Albert Bork besitzt ausreichend Ausstrahlung, um die ständige Isolation gut zu überstehen. Mit Max Hartmann hat Felix Römer eine harte Nuss zu knacken, wenn er aber blutüberströmt im Bühnenhintergrund zurückbleibt, hat er auch den letzten Zuschauer überzeugt. Die Rolle der Katharina Hartmann ist nicht immer konkludent, aber Dagmar Geppert überspielt das lässig. Und trägt die gruselige Perücke mit Würde. Steffen Reuber gewinnt zuvörderst in der Darstellung des Colonel Harris, und Klaus Herzog könnte als Mesmers Onkel grantiger nicht sein. Herrlich. Rupert J. Seidl geht als Udo Kier etwas unter.
Bei der Musik setzt Kornelius Heidebrecht auf filmmusikalische Effekte und das auch gern laut und kaskadierend, endet aber allzu oft recht abrupt. Da fehlt es an Harmonie, ohne dass die Brüche zur Stille wirklich Stilmittel wären.
Insgesamt ist Europa oder die Träume des Dritten Reichs ein etwas überambitioniertes Stück, das mit starken Bildern und einem hochengagierten Ensemble unbedingt einen Besuch lohnt. Wer sich dazu entschließt, sollte unbedingt auch ein Programmheft erwerben, das ganz ohne Geschlechterspaltung auskommt, aber vertiefende Gedankengänge enthält, die deutlichen Mehrwert bieten. Das spärlich erschienene Publikum des Abends versucht mit Macht, die Anzahl der „Vorhänge“ zu erhöhen, aber nach der dritten Verbeugung wird auch dem letzten klar, dass der Applaus trotz aller Begeisterung spärlich klingt.
Michael S. Zerban