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Aktuelle Aufführungen
FAZIL SAY
(Diverse Komponisten)
Besuch am
14. Juni 2022
(Einmalige Aufführung)
Fazil Say in Monheim am Rhein? Da darf man ja erst mal Skepsis äußern. Für Ende März war sein Besuch angekündigt. Ausgefallen wegen Krankheit. Aha. Nun aber solle das Konzert stattfinden. Die erneute Absage bleibt aus. Am Mittag werde er in Monheim eintreffen und am Abend in der Aula am Ring auftreten, versichern die Monheimer Kulturwerke als Veranstalter. Vor dem Monheimer Kammermusiksaal, wie man die Aula des Gymnasiums mit Fug und Recht bezeichnen kann, haben sich bereits viele Menschen versammelt. Am Eingang ein kleiner Stau. Was ist hier? Maskenpflicht während der gesamten Veranstaltung? Das muss ein Irrtum sein. Später klärt Intendant Martin Witkowski auf. Zahlreiche Zuschriften hätten sich dankbar geäußert, dass die Monheimer Kulturwerke an der Maskenpflicht festhalten. Deshalb habe das Team beschlossen, die Maßnahme bis zum Ende der Spielzeit aufrechtzuerhalten. Also mit vierfacher Impfung bei sommerlichen Temperaturen noch einmal mürrisch die Atembremse vor die Nase gezogen. Dass allerdings das Saallicht hell bleiben wird, und die Platzanweiserinnen wie Security-Personal neben den Türen im Saal stehenbleiben, um unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass sie hier alles unter Aufsicht haben, ist dann des Guten vielleicht doch ein wenig zu viel. Gewiss, nicht nur in Monheim hatte das Personal in der jüngsten Vergangenheit andere Aufgaben, denen nicht jeder psychologisch gewachsen war. Menschen unter Generalverdacht zu stellen und zu überprüfen, ist eine andere Profession, als Konzertbesuchern zu helfen, ihre Plätze zu finden. Nun aber müssen auch diese Menschen wieder in ihre alten Rollen zurückfinden und dem Publikum Service statt Überwachung bieten. Und sich so auch nach Konzertbeginn diskret auf Stühle zurückziehen. Denn die ungeteilte Aufmerksamkeit kann jetzt nur noch einem gelten.
Foto © O-Ton
Er ist im türkischen Ankara geboren und hat in Ankara, Düsseldorf und Berlin studiert. Es gibt wohl kaum einen namhaften Konzertsaal dieser Welt, in dem er noch nicht als Pianist oder Komponist aufgetreten ist. Wegen seiner kritischen Äußerungen zu Politik und Religion wäre er in der Türkei um ein Haar im Knast gelandet. In einem Interview erklärte er, dass er sich mit solchen Äußerungen zukünftig zurückhalten wolle, um seine Familie nicht zu gefährden. Fazil Say wirkt auch in Monheim äußerlich eher unnahbar, wenn er im Designer-Anzug die Bühne betritt, sich kurz verbeugt und dann wortlos an den Flügel setzt. Intendant Witkowski und er sind befreundet. Im Vorfeld gab es ein Gespräch zwischen den beiden, das man sich im Internet anhören kann. Und das erklärt auch, wie Say nach Monheim am Rhein kommt.
Das Unfassbare des Abends ist, dass es im Saal zahlreiche leere Plätze gibt. Schon nach den ersten Klängen von Georg Friedrich Händels Suite in d-moll, HWV 437, wird klar, dass hier jeder einzelne leergebliebene Platz ein Grund zum Fremdschämen ist. Say nimmt sich die alten Meister vor und besitzt genügend Souveränität, ihnen seine eigene Sichtweise abzugewinnen. Er braucht keinen Seitenumwender, keine Notenblätter auf dem Flügel, sondern beherrscht die Werke des heutigen Abends so tiefgreifend, dass er sie nicht nachzuspielen braucht, sondern seine eigene Interpretation findet. Das wird auch dem letzten klar, wenn er die Mondscheinsonate von Ludwig van Beethoven aufführt. Für Puristen und Sesselpuper ist das nichts, für alle anderen wird es ein Genuss. Etwas gewöhnungsbedürftig seine Handbewegungen, die Noten in das Klavier schaufeln, um Eingebung bitten, auf besondere Abschnitte hinweisen oder sich zu Schwingen eines Adlers ausbreiten, um sich auf die Tastatur zu stürzen. Genial, wie er sich während des Spiels zum Publikum wendet, um scheinbar die Reaktionen zu beobachten. Aber eigentlich, um ehrlich zu sein, möchte man doch gar nicht hören, wie er alte Meister in die Gegenwart holt. Schließlich komponiert er selbst. Mehr als 70 Werke des heute 52-Jährigen sind bereits verzeichnet. Und mit Yeni hayat – neues Leben – erfüllt er endlich auch diesen Wunsch. Während seine Kollegen mal zaghaft und mit gehörigen Pausen in die Saiten greifen, hat er diesen Bestandteil des Instruments längt fest in sein Spiel integriert. Wie er überhaupt das Klavier nicht als Klaviatur für höhere Weihen, sondern tatsächlich als Arbeitsinstrument begreift. Es ist nicht Gegenstand sorgsamer Behandlung. Stattdessen benutzt Say es wie der Zimmermann seinen Hammer. Und kommt damit naturgemäß zu ganz neuen Ergebnissen. Nach etwa einer halben Stunde sind die Stücke abgearbeitet – und dann ist Zeit für Pause. Denn spätestens das letzte, sein eigenes Stück ist schweißtreibend.
Irgendjemand hat ihm in der Pause erzählt, dass es keinen Abendzettel, geschweige denn ein Programmheft gibt. Wenn auch nicht gerade ein Lorbeer für den Veranstalter, der glaubt, es reiche heutzutage schon aus, das Programm auf der Website zu veröffentlichen. Aber so kommt das Publikum in den Genuss einer persönlichen Ansprache. Eine getragene Stimme, in der Müdigkeit so mitschwingt wie die Lust auf das nächste Spiel. Und ganz zum Schluss, im Nachsatz, schwingt ein spitzbübischer Humor mit. Wunderbar. Mit diesem Menschen möchte man sich gern länger unterhalten. Aber dazu ist jetzt keine Zeit.
Foto © O-Ton
Denn es steht noch die Klaviersonate Nr. 21 B-Dur, D960, von Franz Schubert an. Nach den mitreißenden Interpretationen von Händel und Beethoven ist die Angst vor Schubert jetzt verloren. Vermutlich hat man die Klaviersonate so noch nie gehört. Aber damit hat man sie auch noch nie so authentisch, zeitgemäß und als Zusammenarbeit zweier Komponisten gehört. Geziertes geht verloren, Motive werden auf Kosten vorgegebener Tempi sorgsam herausgearbeitet und vollkommen neu erlebt. Say interessiert sich nicht für altertümliche Werktreue, sondern spürt seinen Entdeckungen im Werk nach. Er entreißt die Sonate den üblichen schwülstig-konservativen Darbietungen, seziert sie nicht, sondern filetiert sie, zeigt die kompositorischen Ideen neu – und spannender als einen Krimi. Als die letzte Note verklungen ist, hört man laut und deutlich das „Wow!“ im Saal. Der Applaus des Publikums ersetzt die Klangkulisse von tausend Leuten. Und es dauert nicht lange, bis der Ruf nach der Zugabe laut wird. Die hat Say versprochen und bleibt sie auch nicht schuldig.
Schon bei den ersten Akkorden brandet Jubel auf. Denn Say spielt Black Earth. Eine Eigenkomposition, die in türkischen Kinofilmen ebenso vorkommt wie in den dortigen Netflix-Serien. Großartig, wie sich hier Motive türkischer Musik in westeuropäische Elemente einfügen. Nach dieser Zugabe hätten sich Türken und Deutsche die Hände reichen mögen. Aber dann wäre es so etwas wie ein Gottesdienst geworden. Und da wollen wir ja auch nicht übertreiben. Beglückend ist der Abend auch so.
Übertrieben geht es möglicherweise in der kommenden Woche weiter. Denn dann startet zum ersten Mal die Monheim Triennale. Vom 22. bis zum 26. Juni wird es moderne Musik in einem zukunftsweisenden Konzept geben.
Michael S. Zerban