O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Milonga der Extraklasse

CUARTETO TANGO PARA TI
(Diverse Komponisten)

Besuch am
3. August 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Rheydter Musiksommer, Evangelische Hauptkirche, Mönchengladbach

Rheydter Musiksommer – das klingt erst mal so, als feiere ein ganzer Stadtteil, in dem Fall von Mönchengladbach, ein rauschendes Fest. Eine eigene Netzseite dazu gibt es nicht. Aber mit ein wenig Recherche findet man heraus, dass die Größenverhältnisse doch nicht ganz so großartig ausfallen. Man könnte wohl eher von klein, aber fein sprechen, was ja auch nicht verkehrt ist. Die evangelische Kirchengemeinde Rheydt veranstaltet während der Sommerferien sechs Konzerte in der Evangelischen Hauptkirche Rheydt. Für das Programm zeichnet Kantor Pascal Salzmann verantwortlich. Von der Klassik über Jazz bis zum Tango reicht die Auswahl.

Und mit dem Tango endet der diesjährige Musiksommer. Bereits zum zweiten Mal eingeladen worden ist das Cuarteto Tango Para Ti, also das Quartett Tango für dich, weil es beim Publikum im vergangenen Jahr so viel Anklang fand. Zwar sind die Bänke im Kirchenschiff dicht besetzt, aber nach Sommerferien sind das weniger aus. Schulpflichtige Kinder sucht man hier vergebens. Eher wirkt es so, als seien die letzten verbliebenen Gläubigen, die in ihrem Alter nicht mehr aus der Kirche austreten wollen, zusammengekommen. In der Besucherschar gibt es allerdings eine Besonderheit, die sich erst später erschließen wird.

Besonderheiten hält auch das Quartett bereit. Zunächst eröffnen die Musiker mit La viruta, was so viel wie der Holzspan heißt. Stefan Thomas, der auch das eine oder andere Arrangement besorgt, nimmt am Klavier Platz. Leider ist der Raum für das Ensemble knapp bemessen, so dass er für einen Großteil des Publikums nicht sichtbar ist. Im Hintergrund hat sich heute anstelle von Volker Höhmann Thomas Falke mit dem Kontrabass aufgestellt. Vor ihm steht Wolfgang Richter, der sonst im Kölner Gürzenich-Orchester die Erste Geige spielt. Das für den Tango gefühlt wichtigste Instrument spielt Henrik Albrecht. Das Bandoneon hat er von dem Berliner Instrumentenbauer Klaus Gutjahr. Gern vergleicht er es von der Qualität mit einem Bösendorfer Flügel. Albrecht, im Hauptberuf Komponist, beschäftigt sich mit dem Instrument, das ursprünglich von Heinrich Band in Krefeld entwickelt wurde, seit seinem Abitur. Aufenthalte in Argentinien vertieften sein Verständnis des Tangos. 1990 erfand er den Rheinischen Tango, von dem später noch die Rede sein wird.

Henrik Albrecht – Foto © O-Ton

Nach dem Einstand wird klar, warum die Musiker nur die eine Hälfte des Altarraums zur Verfügung bekommen, während die andere Hälfte frei bleibt. Albrecht fordert nämlich die Besucher auf, zur Musik mitzutanzen. Selbstverständlich dürfe man auch sonst in der Kirche überall tanzen. Da schleicht sich ein mildes Lächeln über das Gesicht. Da klettern jetzt wohl Dutzende von Tänzern auf das Podium, um Tango zu tanzen. Das Lächeln schlägt schnell in großes Staunen um, als die Musiker Quartito azul, einen Tango von Mariano Mores aus dem Jahr 1939, anstimmen. Als hätten sie nur auf das Signal gewartet, füllen die Besucher blitzschnell und vollständig sowohl das kleine Areal vor der Kanzel als auch den Raum hinter den Bänken. Ist ja sofort jedem klar, dass die Tangoschule Rheydt-Mitte eingeladen worden ist. Das Problem: Es gibt keine Tangoschule in dem Stadtteil. Jeder, der dort mehr als die Grundschritte eines Tangos lernen will, muss ins benachbarte Düsseldorf. Erst nach dem Konzert klärt einer der Tänzer auf, dass es ein Netzwerk gibt, das auch eigene Milongas veranstaltet. Da reichte dann ein Aufruf, um die tangoverrückten Tänzer in die Kirche zu treiben. So bekommen die restlichen Besucher an diesem Abend nicht nur wunderbare Musik zu hören, sondern auch die Bilder von Tangotänzern, die sich begeistert mehr oder minder im Takt wiegen, zu sehen.

Nach der Romance del Bario hält das Quartett eine weitere Überraschung bereit. Andreas Durban, Schauspieler, Dozent an der Kölner Musikhochschule und künstlerischer Leiter der Literaturoper Köln ist ebenfalls angereist. Als Sprecher wird er gern zu Lesungen eingeladen. Für das Tango-Ereignis hat er thematisch passende Texte zusammengetragen und sie mit Moderationen angereichert. „Muss man sich da wundern, dass die Vorstädte eine spezielle Form der musikalischen Melancholie erfinden?“ weist er den Weg in die eigentümliche Stimmung des Tangos. Mag sein, es ist das passende Licht, in dem er auftritt, vielleicht beflügelt ihn der „Chor“ der Tänzer zu seiner Linken, heute Abend übertrifft er sich selbst. Auch wenn er die Zettel in Händen hält, liest er nicht, sondern erzählt, malt mit Worten, entwirft das Bild aus Zeiten, als der Tango seinen Anfang nahm. Fast möchte man den Lärm aus den Hafenspelunken hören, die Geräusche, die der Überlebenskampf in den Vorstädten von Buenos Aires verursacht. „Der Tanz, mit dem man den traurigsten Gedanken tanzen kann“ – noch so ein Satz, den Durban dem Publikum unvergesslich ins Hirn stanzt.

Andreas Durban – Foto © O-Ton

Die Musik schreitet weiter voran. El Choclo, Oblivion, La Torcacita, Mi Refugio oder Buscandote – es ist nicht bekannt, wie viel man davon in Argentinien vielleicht als reine Folklore begreifen würde, in Rheydt lassen sich die Hörer ganz in den Bann der Musik ziehen. Wenn der letzte Café serviert wird, begleitet Albrecht Durban bei der Geschichte von der Trennung zweier Liebender und schafft damit einen weiteren Höhepunkt, ehe das Ensemble Argentinien verlässt und ins Rheinland kommt, eingeleitet von der Rezitation der Lore-Ley, dem Gedicht von Heinrich Heine aus dem Jahr 1824, das bis heute den Höhepunkt der Rhein-Romantik darstellt. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ intonieren die Musiker instrumental im gelungenen Arrangement von Thomas. Da werden die Klippen des Kitsches elegant umschifft, während die Besucher die bekannten Klänge genießen. Albrecht treibt den Rheinischen Tango noch weiter, indem er das Lied En nuestro bario ankündigt. Auch hier eine gelungene Übersetzung in den Tango, wenngleich der Rheinländer sich wünscht, ein wenig mehr Töne von der Hymne auf den Zusammenhalt En unserem Veedel in Köln von den Bläck Fööss zu hören. Gleichzeitig träumt Albrecht davon, noch mehr vom Verfall der Veedel, also der Stadtviertel, heraushören zu wollen. Da ist die letzte Fassung möglicherweise noch nicht geschrieben.

Vor den Zugaben verabschiedet Durban sich mit einem Text über den Wandel der Kulturen, wenn sie von anderen Gesellschaften übernommen werden. Da werden die philosophische Schwere und Diskussionswürdigkeit von der Parodie abgelöst, die er dann auch selbst darstellt. So darf der Abend fröhlich enden. Zum Bedauern der Tänzer, für die eine eineinviertelstündige Milonga nur ein kurzes Vergnügen darstellt. Aber das Publikum bedankt sich verzückt. Und es sollte nicht verwundern, wenn schon beim Wein zum abschließenden Gedankenaustausch erste Wünsche nach einer Wiederholung dieses Ereignisses laut werden.

Wer sich selbst von der außerordentlichen Qualität des Ensembles überzeugen will, hat dazu am 26. August Gelegenheit, wenn die Musiker bei einer Freiluftveranstaltung im Innenhof der Bochumer Pauluskirche auftreten.

Michael S. Zerban