O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Christina Iberl

Aktuelle Aufführungen

Stimmgewalt und Pathos

DER RING AN EINEM ABEND
(Richard Wagner)

Besuch am
18. März 2023
(Premiere)

 

Staatstheater Meiningen

Wagners große Tetralogie Der Ring des Nibelungen ist vor allem für Einsteiger eine Herausforderung. Vier Musikdramen an vier Abenden, etwa 15 Stunden Musik und lange Monologe, viele Menschen schreckt das einfach ab. Zu lang, zu schwer, zu laut, das sind die gängigen Vorurteile gegenüber Wagners Werken, insbesondere gegenüber dem Ring. Der eingefleischte Wagnerianer hat für solche Aussagen natürlich nur ein müdes Lächeln übrig und schwelgt in Musik und Gesang und genießt jeden Moment. Eine verkürzte Version? Geht gar nicht. Oder doch? Es gibt auch bei Wagner mehr als nur schwarz oder weiß, das gilt besonders für den Ring. Der großartige Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow, kurz Vicco von Bülow, besser bekannt als Loriot, hat vor knapp 30 Jahren bewiesen, dass man den Ring des Nibelungen gekürzt an einem Abend erzählen kann, ohne dabei darben zu müssen. Loriots Liebe zu den Werken Wagners war spätestens jedem klar, der den ausgefüllten Fragebogen aus der FAZ von 1982 gelesen hat. Auf die Frage, welche militärische Leistung er am meisten bewundere, war die Antwort des ehemaligen preußischen Offiziers und Kriegsteilnehmers eindeutig wie verblüffend: „Den Ritt der Walküren“. Und bei dem Namen „von Bülow“ dämmert es dem einen oder anderen. Altes mecklenburgisches Adelsgeschlecht, aus dem auch Hans von Bülow stammte, der erste Ehemann Cosima Wagners und Dirigent der Uraufführungen von Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg.

Vielleicht liegt es also an den Familiengenen, dass auch Loriot ein eingefleischter Wagnerianer war, der auf die Frage, wie er denn sterben möchte, geantwortet hat: „Morgendlich leuchtend im rosigen Schein“. Loriot war längst als Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller etabliert, als ihn der damalige Generalintendant des Mannheimer Nationaltheaters, Klaus Schultz, bat, für seine erste  Spielzeit 1992 einen Ring an einem Abend zu konzipieren, quasi als Einführung für den kompletten Ring des Nibelungen. Loriot entwarf einen dramaturgischen Plan, indem, so weit wie möglich, alle für das Verständnis wesentlichen Abschnitte der vier Musikdramen berücksichtigt wurden. Über sechs Monate lang arbeitete er an einer Schilderung des Ring, beschrieb die Handlung mit seinem treffsicheren und doch so feinsinnigem Humor, wie nur er sie beschreiben konnte, und es entstand ein Text, der ebenso genau wie liebevoll die verwickelten und verbundenen Elemente des Ring vorstellt, und das durchaus auch mit dem Blick auf die komischen Aspekte. Nach eigenen Angaben sollte dieser Abend auch dazu dienen, „Wagners Verehrern Lust auf das Ganze zu machen und seinen Gegnern, ihre haltlosen Vorurteile zu bestätigen.“ Dabei findet Loriot viel feine Komik in Wagners gewaltigem Weltuntergangsspektakel, bewahrt aber immer auch tiefen Respekt vor dem Personal und seinem Erschaffer. Zum Raub des Rheingoldes durch Alberich bemerkt Loriot, „wenn die Rheintöchter dem Alberich etwas mehr Entgegenkommen gezeigt hätten, hätte man sich drei weitere aufwendige Opern sparen können“. Der Ring an einem Abend in der Spielzeit 1992/93 in Mannheim mit Loriot als Erzähler auf der Bühne geriet zu einem überwältigenden Erfolg, so dass diese Fassung auch auf CD erschien, mit Ausschnitten aus der legendären Ring-Aufnahme der Berliner Philharmoniker und Herbert von Karajan aus den Jahren 1967 bis 1970.

Das Staatstheater Meiningen hat nun diese Loriotsche Fassung auf den Spielplan gesetzt, allerdings in einer orchestralen Fassung ohne Gesang. Das Arrangement der Orchesterfassung stammt von dem bekannten Komponisten und Arrangeur Andreas N. Tarkmann, der Wagners Partitur bearbeitet und die Orchestergröße auf ein moderates Maß reduziert hat, so dass sie für die Meininger Hofkapelle auch spielbar ist. Tarkmann hat auch schon Wagners Wesendonck-Lieder als Fassung für Kammerensemble mit Singstimme arrangiert.

Die Meininger Hofkapelle ist auf der Bühne platziert, da ist kein Platz mehr für Requisiten, lediglich ein Notenpult für den Text ist neben dem Dirigentenpult platziert.  Philippe Bach, bis letztes Jahr Generalmusikdirektor des Staatstheaters Meiningen, kehrt als Gast an seine alte Wirkungsstätte zurück und eröffnet den Ring-Abend mit dem Vorspiel aus dem Rheingold, den 136 Takten in Es-Dur. Das Tempo ist langsam und getragen, einige Unsauberkeiten bei den Bläsern stören den ansonsten guten ersten Eindruck. Das Haus ist gut gefüllt, alles wartet auf den Erzähler. Dann kommt er, der Schauspieler, Regisseur, Autor und Intendant Matthias Brenner, gebürtiger Meininger. Im schwarzen Anzug, mit schwarzem Shirt und grünem Schal füllt er mit seiner Persönlichkeit und seiner Ausstrahlung die Bühne. Humorvoll begrüßt er das Publikum, die Enthusiasten, die Wagnerianer, und die, die mitkommen mussten. Die Reaktion des Publikums zeigt, das sind eine ganze Menge an diesem Abend, die wohl zum ersten Mal mit der Musik Richard Wagners in Berührung kommen. Brenner geht direkt zum Loriotschen Text über. Er versucht erst gar nicht, den feinsinnigen Tonfall des großen Künstlers, der im November seinen 100. Geburtstag feiern würde, zu imitieren, sondern beweist vom ersten Moment, dass er als Theaterschauspieler dem Text und damit dem ganzen Abend seinen eigenen Stempel aufdrücken wird. Zitat Loriot: „Die Täter im gewaltigsten Drama der Musikgeschichte sind doch eigentlich ganz nette Leute. Leider wollen diese netten Leute mehr besitzen, als sie sich leisten können und vernichten damit sich selbst und die Welt, aber zum Glück gibt es dergleichen nur auf der Opernbühne.“ Bei Loriot klingt das nach leichtem Florett, bei Brenner ist es ein schwergewichtiger Säbel.

Er deklamiert, er flüstert, er brüllt, zeigt alle stimmlichen Facetten eines Schauspielers und gibt dem Text mit viel Gestik und Mimik neuen Ausdruck und Gewicht. Sein Südthüringischer Dialekt blitzt immer dann auf, wenn er besonders viel Humor in die vokale Interpretation legt. Brenner ist alleine schon ohne die Musik das Eintrittsgeld wert. Er führt mit einem Augenzwinkern durch Wagners Heldenepos vom berühmten Vorspiel auf dem Grund des Rheins bis zum finalen Brand der Götterburg Walhall.

Eine der schönsten Zitate aus dieser Version ist die Szene, wenn Siegfried im dritten Aufzug Brünnhilde erweckt und ihr den Brustpanzer entfernt: „Kaum hat Siegfried das schwere Oberteil geöffnet, wölbt sich ihm der Busen eines hochdramatischen Soprans entgegen. Nachdem sich der Held von diesem Schock erholt hat, macht er eine durchaus richtige Beobachtung: Das ist kein Mann! Zum ersten Mal in seinem Leben empfindet er nackte Furcht und verhält sich wie alle jungen Männer in dieser Situation, er schreit nach seiner Mutter.“ Herrlicher und komischer, ohne Verfälschung des Inhaltes, kann man diese Situation nicht beschreiben. Loriot liebt seinen Wagner, und bei aller Ironie und Wortwitz bleibt der Respekt vor dem Schaffen des großen Komponisten immer erhalten. Und Brenner rezitiert diese Sequenzen so herrlich komisch, dass kaum ein Auge trocken bleibt. Ihm gelingt der Spagat, sich einerseits von dem großen Schatten Loriots zu lösen, ihn nicht zu kopieren, und gleichzeitig dem „Erzähler“ eine eigene Persönlichkeit zu geben.

Im Unterschied zu der Fassung mit Gesang, wo der Erzähltext in kleineren Portionen serviert wird, mit den entsprechenden musikalischen und sängerischen Begleitung, fungiert hier Brenner mehr als sprechender Opernführer. Nach dem Vorspiel Rheingold erzählt er den kompletten Inhalt des Vorabends der Tetralogie, während im Anschluss dann das Orchester eine etwa 15-minütiges Rheingold-Exzerpt spielt. Gleiches gilt für die Walküre und Siegfried,  deren Inhalt er komplett vorträgt, natürlich in der Fassung von Loriot, während dann das Orchester die Fassung von Tarkmann spielt. Das ist leider nicht immer glücklich, da der gesprochene Text an einem Stück einfach zu lang ist, und Brenner manchmal dazu neigt, etwas davonzugaloppieren, gleichzeitig sind die Schnitte und Übergänge der Orchesterfassung nicht ideal, da geht manchmal der Spannungsbogen verloren. An die stringente und nahezu perfekte Orchesterfassung Der Ring ohne Worte von Lorin Maazel reicht diese Fassung jedenfalls nicht heran. Bei der Götterdämmerung gibt es etwas mehr Interaktion zwischen Erzähler und Orchester. Brenner rezitiert zunächst das Nornen-Vorspiel, bleibt dann am Pult stehen, während das Orchester das Zwischenspiel zur Szene auf dem Walkürenfelsen erklingen lässt. Dann erzählt Brenner den finalen Teil des Ring, den anschließend das Orchester in einer längeren Sequenz musikalisch übernimmt.

Die Meininger Hofkapelle unter der Leitung von Philippe Bach spielt einen durchweg hörenswerten Wagner, leider sind einige Unsauberkeiten vor allem bei den Blechbläsern unüberhörbar. Hier merkt man schon, dass Wagner, und vor allem der Ring, nicht zu ihrem Standardrepertoire zählt. Auch die reduzierte Orchesterfassung lässt Klangtiefe vermissen. Dennoch ist es unter dem Strich eine ordentliche Leistung der Musiker. Herausragend das Cello-Solo in der Walküre, beim Walkürenritt ist die harte Arbeit der Musiker besonders gut sichtbar. Den Schluss des ersten Abends der Tetralogie dirigiert Bach schon fast zärtlich. Bei Siegfrieds Rheinfahrt in der Götterdämmerung erklingen die Hornrufe fehlerfrei, nachdem sie zuvor im Siegfried nicht ganz sauber waren. Idyllisch erklingt das Waldweben, der Schluss des Siegfried ist dann voller Emotionalität. Die Rheinfahrt geht nahtlos in den Trauermarsch über, den Bach mit viel Pathos anschlägt. Aus dem Trauermarsch heraus folgt der direkte Übergang zum großen Finale „Fliegt hoch ihr Raben“, das die Meininger Hofkapelle mit großer Dramatik spielt, um in der Schlusssequenz wieder zur Ruhe kommen.

Bach dirigiert das Orchester mit energischem Duktus, präzisem und gut lesbarem Schlag, wechselt aber öfters die Tempi, was dem Fluss nicht immer gut bekommt. Am Schlussakkord der Götterdämmerung, als der Weltenbrand durch den über die Ufer tretenden Rhein gelöscht wird, bevor die Musik sich beruhigt und die Hoffnung auf eine neue Weltenordnung entstehen kann, befindet sich in der Partitur eine Fermate, eine kleine Pause, die aber einen Rieseneffekt hat. Bach nutzt diese etwa zwei Sekunden Pause, so dass der Zuhörer Atem schöpfen kann, um den Effekt des Wandels von der Zerstörung zur Erneuerung aufzuzeigen.

Nach einer gefühlten Pause von mehr als fünf Sekunden brandet der Jubel auf, das Publikum im Meininger Staatstheater erhebt sich unisono. Loriots Idee, „Wagners Verehrern Lust auf das Ganze zu machen und seinen Gegnern, ihre haltlosen Vorurteile zu bestätigen“ scheint an diesem Abend aufgegangen zu sein. Diese Version der gekürzten Fassung von Wagners Ring mit den begleitenden Worten Loriots ist für Freunde des fein- und tiefsinnigen Humors genauso ein Muss wie auch eingefleischte Wagnerianer sich knapp drei Stunden an einem verkürzten Ring erfreuen können. Und vielleicht hat einer von denen, der an diesem Abend mitkommen musste, Lust auf Wagner und seine Werke bekommen.

Andreas H. Hölscher