O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Christina Iberl

Aktuelle Aufführungen

Zwischen Traum und Wirklichkeit

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
(Richard Wagner)

Besuch am
16. Oktober 2021
(Premiere)

 

Staatstheater Meiningen

Nach der umstrittenen Inszenierung des Fliegenden Holländers in Bayreuth durch Dmitrij Tcherniakov in diesem Jahr darf man nun auf die Gestaltung dieses Frühwerks von Richard Wagner am Staatstheater Meiningen gespannt sein. Doch eigentlich ist diese Aufführung keine echte Premiere, denn Regisseur Kay Metzger hat die Inszenierung bereits 2017 als letztes Werk seiner Intendanz in Detmold und 2019 als Intendant am Theater Ulm auf die Bühne gebracht. Nun also die dritte Auflage in Meiningen, aber nicht als lauwarmer Aufguss, sondern als packendes psychologisches Kammerspiel mit einer pubertären Senta, die fixiert ist auf einen Filmhelden, der aus dem Plakat heraus in ihr einfaches und verträumtes Leben tritt.

Metzger verlegt die Handlung in ein etwas heruntergekommenes Kinofoyer der 1950-er Jahre. Es ist die Zeit des Vergessens und Verdrängens der Schrecken des Zweiten Weltkrieges, Heimatfilme verleihen die Illusion der heilen Welt, in die man flüchten kann. Bürgerliche Spießigkeit, der Traum vom trauten Heim, Frau am Kochherd und am Kinderbett. Damit entfloh die Nachkriegsgeneration dem zerstörerischen Trauma des so genannten Dritten Reiches und des Krieges, anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen und sie aufzuarbeiten. Genau hier knüpft Metzger sein Setting sehr intelligent an. Senta ist ein pubertierendes Mädchen, spießig gekleidet in grauem Faltenrock, weißer Bluse und gelber Strickjacke. Und Senta träumt von einem Helden, einem starken Mann, der sie aus der Tristesse und Spießigkeit ihrer Zeit befreit und entführt. Im Kino 1 lässt sich dieser Traum ausleben, denn dort läuft täglich der Film Fluch der Meere, eine witzige Anspielung auf die mehrteiligen Kinofilme der Fluch-der-Karibik-Serie. Vor dem Kino hängt ein großes Plakat mit dem Helden, vor dem Senta steht. Schon während der Ouvertüre wird klar, dass Sentas Kinobesuche fast schon rituelle Handlungen sind. Vor der Vorstellung starrt sie auf das Plakat, dann trinkt sie eine Tasse Kaffee und faltet ein kleines Papierboot. Dann betritt sie das Kino. Anschließend wird es dunkel auf der Bühne, während grelle Scheinwerfer ins Publikum leuchten. Als es hell wird, sitzt Senta wieder im Kinofoyer, trinkt Kaffee und faltet ein Papierboot. Diese Szene wiederholt sich während der Ouvertüre gleich viermal, so dass jedem Zuschauer klar sein muss, das ist keine normale Schwärmerei, das ist schon eine pathologische Fixation auf eine irrationale Figur.

Nachdem Senta nun zum wiederholten Mal im Kino ihrer Fantasie freien Lauf lässt, entwickelt sich die reale Welt am Bartresen des Kinofoyers. Daland ist ein abgehalfterter Seemann, dem Alkohol mehr als zugetan. Der Steuermann ist der Barkeeper hinterm Tresen, immer darauf bedacht, die Gläser zu polieren und hinter dem trunkenen Daland aufzuräumen. Metzger verliert sich aber nicht in psychologischer Überhöhung, sondern er überzeichnet die Charaktere sehr pointiert, immer mit einem Augenzwinkern, was dieser Inszenierung zusätzlich einen gewissen Witz und Charme verleiht. Manchmal übertreibt er es allerdings mit seinem etwas bösem Humor, so wenn der Steuermann bei der Wiederholung seines Liedes singt: „Ach liebes Mädel blas‘ noch mehr, mein Südwind …“. Es muss natürlich heißen „Ach lieber Südwind blas‘ noch mehr, mein Mädel …“. Dass das kein Patzer des Sängers ist, sondern als Zote bewusst eingebaut, kann man am eingeblendeten Text als Übertitel gut erkennen. Auch das Plakat ist mittlerweile ausgetauscht, im Kino läuft passend für die damalige Zeit der Ruf der Heimat. In der ersten Szene singt der Chor der Seeleute Dalands noch unsichtbar von der Hinterbühne. Der Auftritt des Holländer ist passend gelöst. Nach dem schon bekannten Wechsel von Dunkelheit auf der Bühne und grelle Scheinwerfer ins Publikum liegt der Holländer auf dem Boden, das Kinoplakat zeigt nur noch den Filmtitel ohne Konterfei. Der Holländer ist aus der Fiktion des Films aus dem Plakat scheinbar in die reale Welt Dalands gefallen, was Senta von ihrem Platz aus interessiert beobachtet. Der Holländer, mit einem schwarzen Ledermantel gekleidet, beginnt mit seinem Auftrittsmonolog. Um zu unterstreichen, dass er nicht sterben kann, schießt er sich mit einem Revolver eine Kugel in den Kopf, die er sogleich wieder ausspuckt, eine parodistische Anleihe an die Fluch-der-Karibik-Serie. Auch wenn die Szenerie immer wieder durchaus witzig erscheint, so ist der Grundtenor doch sehr ernst und lässt dem Assoziationsvermögen des Publikums viel Spielraum. Die reichen Schätze des Holländers sind viele dicke Banknoten, bei denen Daland natürlich sofort schwach wird. Man kommt ins Geschäft, und es wird reichlich Alkohol getrunken, der aber nur Daland beeinträchtigt.

Zum Schluss des ersten Aufzugs tritt dann der Chor der Seeleute auf, alle gleich gekleidet wie der Barkeeper-Steuermann, mit weißem Hemd, Hosenträger, schwarzem Hut und Brille. Herrlich choreografiert, wenn die zwanzig Herren gleichzeitig ihre Gläser polieren, das hat schon was von Slapstick. Die Mehrfachspiegelung und Projektion einer Figur wird dann im zweiten Aufzug noch verstärkt, wenn der Damen-Chor als zwanzigfache Ausgabe Sentas im selben Outfit, gleicher Frisur und mit Stricknadeln bewaffnet die Assoziation bei Senta und wohl auch beim Publikum hervorruft: Baby-Strampler sind ihr drohendes Schicksal. Aus dem Chor der Spinnerinnen wird so mal eben der Chor der Strickerinnen. Mary, die Amme, ist ebenfalls mit Stricken beschäftigt, sie tritt aber im selben Outfit wie der Steuermann auf. Damit ist Marys Nähe mehr zu Daland als zu Senta gegeben. Und Erik, der vergeblich um sie wirbt, ist auch nicht der Held ihrer Träume. An dieser Stelle wird die Inszenierung leider unterbrochen, und mitten im zweiten Aufzug gibt es eine Pause. Die ist allerdings nicht den Hygieneverordnungen geschuldet, denn diese Pause hat Metzger auch schon in Detmold und Ulm eingebaut. Für Wagner-Puristen ist diese künstliche Pause natürlich ein Bruch des Geschehens, aber der psychologischen Spannung tut sie keinen Abbruch.

Im zweiten Teil nähern sich der Holländer und Senta an. Vor ihrem Vater Daland scheint sich Senta zu fürchten oder zu ekeln, seine körperliche Nähe zu ihr führt zu massiver Ablehnung bis hin zum extremen Kratzen ihrer Arme. Deutet Metzger da ein zurückliegendes Kindheitstrauma bei Senta an, eventuell einen Missbrauch? Im Gegensatz zur drastischen Vorgeschichte Tcherniakovs in Bayreuth geht Metzger aber über vage Andeutungen nicht hinaus und überlässt dem Publikum den Spielraum für Interpretationen. Nach der Verlobung gibt es Sekt, und man setzt sich zusammen an den Tisch und spielt eine Runde „Mensch ärgere dich nicht“, an der Senta aber eher apathisch teilnimmt. Das war doch nicht das, was sie sich erträumt hat. Der Matrosenchor, oder besser gesagt der Chor der Barkeeper im dritten Aufzug, ist komplett betrunken und taumelt und tanzt zu der bekannten Melodie, während die Matrosen des Holländers nur akustisch eingeblendet werden. Auch Erik ist volltrunken, und fordert sein Recht, da Senta ihm ja schon ihre Treue geschworen hat. Der Holländer erkennt, dass er sein Spiel verloren hat, und will von dannen ziehen. Senta entwindet ihm den Revolver und hält sich diesen an den Kopf. „Preis deinen Engel und sein Gebot – Hier steh ich treu bis zum Tod!“ Die Erlösung des Holländers durch Sentas Tod, folgerichtig wartet das Publikum darauf, dass sich Senta in den Kopf schießt und alles beendet.

Doch Metzger hat noch eine letzte Überraschung in petto. Wieder wird es dunkel auf der Bühne, die Scheinwerfer blenden ein letztes Mal das Publikum. Als es wieder hell wird, steht Senta in derselben Pose da, ohne Revolver. Der Holländer ist verschwunden, stattdessen ist das Kinoplakat vom Fluch der Meere wieder mit seinem Konterfei, und Daland sitzt betrunken am Tresen. Es war alles nur eine Einbildung, ein pubertärer Wahn, und sie ist wieder angekommen im bürgerlichen Mief ihrer Zeit. Ganz zum Schluss sieht man Senta als alte Frau aus dem Kino 1 kommend, und immer noch läuft der Film, und immer noch hängt Senta ihren Träumen nach. Metzger hat mit seiner Inszenierung einen zwar nicht neuen Regieansatz gewählt, aber er ist stringent und schlüssig, ein Attribut, was man in heutigen Wagner-Inszenierungen nur noch selten findet. Das Bühnenbild und die Kostüme wurden von Petra Mollérus entworfen, die natürlich auch schon in Detmold und in Ulm an Metzgers Seite war.

Der Abend ist auch musikalisch und sängerisch ansprechend. Mit dem Ausdruck der zerstörten, nach Erlösung suchenden Seele legt Shin Taniguchi die Gestaltung des Holländers an. Mimik und Gestik zeigen die innere Zerrissenheit dieser Figur. Sein Auftrittsmonolog Die Frist ist um im ersten Aufzug besticht durch ein kräftiges Fundament in der Tiefe und starken Höhen in den dramatischen Ausbrüchen. Sein Ausdruck und sein Gestus bei seiner ersten Begegnung mit Senta sind von großer Intensität. Das große Duett mit Senta im zweiten Aufzug ist der sängerische Höhepunkt der Aufführung, die beiden Stimmen scheinen fast zu verschmelzen, denn in Lena Kutzner hat Taniguchi eine ebenbürtige Senta an seiner Seite. Ihr jugendlich-dramatischer Sopran verfügt schon über den notwendigen Stahl in der Stimme und einer beeindruckenden Leuchtkraft. Überzeugend ist ihre Stimmführung, in der Ballade im zweiten Aufzug wechselt sie bruchlos vom Piano in dramatische Ausbrüche. Tomasz Wija gibt den trunksüchtigen Daland, der für Reichtum sogar seine Tochter verkauft, mit hohem Bass-Bariton und großer Textverständlichkeit. Michael Siemon in der Partie des Erik zeigt, dass er die Kraft für einen jungen Heldentenor hat. Seine Cavatine im dritten Aufzug intoniert er mit großer Leidenschaft. Rafael Helbig-Kosta überzeugt als Steuermann mit lyrischer Darbietung. Tamta Tarielashvili ist eine Mary mit resolutem Mezzosopran und starker physischer Präsenz.

Chor und Extrachor des Staatstheaters Meiningen sind von Manuel Bethe gut eingestimmt und überzeugen durch saubere Intonation und Intensität. Insbesondere die Tenöre, die im Steuermannchor so dominant sein müssen, sind stark präsent. Auch der Damenchor präsentiert sich vorzüglich, und neben der großen Spielfreude beeindrucken vor allem die Textverständlichkeit, der sängerische Ausdruck und geben dieser Chor-Oper die besondere Würze.  Die Meininger Hofkapelle überzeugt an diesem Abend durch eine beeindruckende Klangmalerei, aus der die Bläser dominant sauber hervorstechen.  Die Ouvertüre in der Konzertfassung ist dramatisch kraftvoll und dynamisch, das Holländer-Motiv ist stark akzentuiert, während das Senta-Motiv eher zart und verletzlich klingt. Philippe Bach leitet die Hofkapelle mit dem sicheren Gespür für die Tücken der Partitur. Er wechselt klug die Tempi und begleitet die Sänger, besonders im großen Duett des Holländers und Senta, mit Fingerspitzengefühl.

Am Schluss gibt es großen Jubel für alle Beteiligten aus dem Publikum, und besonders Lena Kutzner, Sin Taniguchi, Chor und Orchester werden gefeiert. Auch das Regieteam darf viel Applaus und Jubel entgegennehmen, die Inszenierung ist angekommen beim Meininger Publikum. Immerhin durften 500 Zuschauer im 728 Plätze umfassenden Theater dieser Premiere beiwohnen, und leider hat die Corona-Pause nicht dazu beigetragen, dass gewisse Disziplinlosigkeiten wieder Einzug gehalten haben. Handyklingeln, lautstarkes Kommentieren, unsensibles Husten, all das beeinträchtigt den Hörgenuss. Aber das ist auch das Einzige, was es an diesem Abend zu bemängeln gilt. Vor allem bleibt aber mal wieder die Erkenntnis, dass man Wagner modern und psychologisch inszenieren kann, ohne dabei am Werk vorbei zu inszenieren. Metzger hat es mit seiner Inszenierung nun schon am dritten Haus mit Erfolg gezeigt.

Andreas H. Hölscher