O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Der Welt abhanden

POETISCHER ABEND
(Diverse Komponisten)

Besuch am
15. November 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Klassik aber frisch im Alten Küsterhaus, Meerbusch

Der November ist der Monat der Besinnung. Findet Ekaterina Porizko. Sie hat mit Ekaterina Belowa dieses Jahr das Unternehmen Klassik aber frisch gegründet, um jungen Künstlern und dem Nachwuchs Anschubhilfen gewähren zu können. Dazu gehört an einem Mittwoch im Monat ein Konzert. Eine Aufführung, die nicht das übliche Format bietet, soll es sein. Das gehört zum Programm von Klassik aber frisch. Und so gibt es an diesem Mittwoch einen Poetischen Abend.

Im Alten Küsterhaus im Meerbuscher Stadtteil Büderich werden noch eifrig Stühle aus dem Keller nach oben getragen. Mit diesem Zuschauerandrang hatten die Veranstalter nicht gerechnet. Trotzdem kann die Aufführung pünktlich beginnen. So viel ist schon im Vorfeld bekannt. Es wird kein reiner Konzertabend. Dafür hat Stella Antwerpen gesorgt, die das Programm für den Abend zusammengestellt hat. Neben Liedern sollen auch Gedichte vorgetragen werden. Vorab waren die Besucher ausdrücklich aufgefordert, selbst Gedichte mitzubringen und sie vorzutragen. Die Resonanz darauf ist allerdings gleich Null. Und so beginnt nach einer freundlichen Begrüßung von Porizko Liv Permiakou mit dem Vortrag des Poems Herbstlied von Johann Ludwig Tieck. Schon an dieser Stelle sei gesagt, dass man gar weiß, wem man mehr Komplimente zukommen lassen muss. Antwerpen, die mit den vier Schülerinnen aus der neunten Jahrgangsstufe des örtlichen Mataré-Gymnasiums die Gedichte eingeübt hat, oder den Mädchen, die sich mehr als gelehrig zeigen. Alle vier werden ihre Gedichte zwar ablesen, was vollkommen in Ordnung geht, aber so gut intonieren, dass einem die Worte hier und da doch mal deutlich unter die Haut gehen. Hier klingt nichts nach „Reim dich, oder ich fress dich“, sondern vielmehr danach, dass die Schülerinnen ihre Texte durchdrungen haben. Das ist schlicht großartig.

Stella Antwerpen – Foto © O-Ton

Aber auch gesanglich gibt es schöne Überraschungen. Zur musikalischen Eröffnung hat Antwerpen Totengräbers Heimweh in der Vertonung von Franz Schubert aus dem Jahr 1825 nach einem Gedicht des österreichischen Dichters und Übersetzers Jacob Nikolaus Craigher de Jachelutta ausgewählt. Mit wunderbarem Alt erzählt die Mezzosopranistin von der Sehnsucht eines Totengräbers nach dem Tod. Jetzt weiß der letzte, dass der November da ist. Astrid Steffen liest Julius Levy Rodenbergs Das Leben der Nacht, das später noch eine Rolle spielen wird. Vorerst aber setzt Antwerpen ihren Liederreigen mit Ich bin der Welt abhanden gekommen fort. Das zugrunde liegende Gedicht stammt aus dem Zyklus Liebesfrühling von Friedrich Rückert aus dem Jahr 1821, das Gustav Mahler als drittes seiner Rückert-Lieder vertonte. Hier lohnt es, auf den Text zu hören, um zu erfahren, dass die Weltentrücktheit eigentlich ein wunderbarer Zustand des lyrischen Ichs ist, das seine Mitte gefunden hat.

Porizko, eigentlich für Klavierbegleitung und Moderation zuständig, lässt es sich nicht nehmen, ebenfalls ein Gedicht vorzutragen. Erich Maria Remarque und Hermann Hesse, erzählt sie, gehörten schon in der Heimat, damals in russischer Sprache, zu ihren Lieblingsdichtern. Warum sie sie später noch einmal auf Deutsch las, wird verständlich, wenn man hört, mit welcher Begeisterung sie Weiße Wolken von Hesse vorträgt. Und mit Hesse geht es weiter, wenn Hannah Meyer Stufen liest. Die Doppelung ist den beiden Damen zwar nicht recht, aber auch das Publikum findet, dass man durchaus zwei Stücke von Hesse hintereinander hören kann, zumal wenn Hannahs Vortrag so hervorragend gestaltet wird.

Ekaterina Porizko – Foto © O-Ton

Richard Wagner ist für Sängerinnen die große Herausforderung. Selbst, wenn es sich um die Wesendonck-Lieder handelt. Es ist wohl vor allem ein innerer Konflikt, der die Interpretation zur Herausforderung werden lässt. Bin ich schon so alt, dass ich Wagner singen kann? Hält die federleichte Mozart-Stimme, die mich all die Jahre getragen hat, dem stand? Antwerpen muss über solche Fragen eigentlich noch nicht nachdenken. Jedenfalls meistert sie den Engel, der gemeinhin als erstes der Wesendonck-Lieder gilt, ganz vorzüglich. Das Publikum ist zurecht begeistert. So wie es auch mit größter Konzentration hinhört, wenn Mila Chauduri Mascha Kalékos Was man so alles überlebt mit größtmöglicher Natürlichkeit liest.

Und während sich Mila noch über den gebührenden Applaus freuen darf, hat Porizko schon die nächste Überraschung im Gepäck. Kurz zuvor hat sie sich Das Leben der Nacht von Astrid geben lassen und sich einen kurzen Moment zurückgezogen. Nun tritt sie wieder an das Klavier und spielt zur Verblüffung des Publikums eine außerordentlich eindrucksvolle Vertonung des Gedichts. Dass sie trotz angeschlagener Stimme auch gleich noch singt, lässt die Besucher nur noch staunen. Kann man eine solche Leistung noch überbieten? Man kann, und das ist auch so gewollt. Als Höhepunkt und Finale hat Antwerpen ein Lied aus dem Zyklus Vier Lieder opus 27 von Richard Strauss ausgewählt. Der Text des 1894 entstandenen Liedes Morgen! stammt von John Henry Mackay. „Stumm werden wir uns in die Augen schauen, und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen“ endet das wunderbare Gedicht, das in der Interpretation von Antwerpen noch einmal an Glückseligkeit gewinnt. Danach ist alles gesagt und gesungen, finden die beiden Künstlerinnen.

Da ist das Publikum anderer Meinung. Der Abend ist bis dahin nicht nur atemberaubend kurzweilig, sondern mit einer guten Dreiviertelstunde auch kurz. Und so bittet ein Gast um Wiederholung des Wesendonck-Liedes. Die Bitte wird gewährt, und damit geben sich die Besucher dann auch beseelt zufrieden. Großer Applaus für die Schülerinnen und ihre Mentorinnen beendet einen von Anfang bis Ende beglückenden Abend.

Am 6. Dezember findet das nächste Konzert im Alten Küsterhaus statt. Auch dann, so viel steht fest, dürfen die Besucher sich wieder auf gelungene Überraschungen freuen.

Michael S. Zerban