Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
MATTHÄUS-PASSION
(Johann Sebastian Bach)
Besuch am
5. März 2022
(Einmalige Aufführung)
Eigentlich ist Ekaterina Porizko gerade ausreichend beschäftigt. Neben ihrer Vollzeitbeschäftigung als Kantorin der evangelischen Kirchengemeinde Meerbusch-Büderich wirft das von ihr initiierte Festival Meermusik, das am 11. Juni dieses Jahres erstmalig stattfindet, seine organisatorischen Schatten voraus. An acht Auftrittsorten in Meerbusch werden dann Konzerte aufgeführt, die die Stadtteile zum musikalischen Leben erwecken. Was sie dabei nicht einkalkulieren konnte, war der Überfall Putins auf die Ukraine. Spontan hat sie sich entschieden, ein tägliches Friedensgebet zu absolvieren; wöchentlich gibt es eine zusätzliche musikalische Andacht in der Bethlehemkirche, ebenfalls in Büderich. In dieser Zeit unternimmt wohl jeder nach seinen Möglichkeiten irgendetwas, von dem er glaubt, es könne zum raschen Ende dieses wahnsinnigen Krieges beitragen.
Gerade hat der Oberbürgermeister der Nachbarstadt Düsseldorf bekanntgegeben, dass er die Städtepartnerschaft mit Moskau für die Dauer des Krieges einfrieren werde. Wieder mal ein völlig falsches Zeichen. Denn nicht die russischen Bürger führen Krieg. Viele von ihnen wissen nicht einmal, dass Diktator Putin die Ukraine überfallen lässt. Die Medien in Russland sind gleich-, regierungskritische Medien ausgeschaltet. Das Angstregime wird permanent ausgebaut. Eben noch hat die Duma, das russische Parlament, ein Gesetz verabschiedet, nach dem kritische Äußerungen über das russische Militär mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden können. Gerade jetzt ist wichtig, so paradox es klingt, nicht nur mit den Ukrainern, sondern auch mit den Russen näher zusammenzurücken. Porizko, die völlig unpolitisch den Frieden im Blick hat und seit Jahren daran arbeitet, Brücken zwischen Russen und Deutschen zu bauen, findet in ihrer weltoffenen Kirchengemeinde den nötigen Rückhalt. Gerade in der vergangenen Woche hat sie zusammen mit der Pfarrerin eine russisch-deutsche Andacht in der Bethlehem-Kirche veranstaltet, die bei den Gemeindemitgliedern tiefen Eindruck hinterlassen hat.
Sabine Pahlke – Foto © O-Ton
Was sich die sympathische Kirchenmusikerin in dieser Zeit nicht nehmen lässt, ist ihre Lebensfreude. Der Klavierbauer Marten Overath hat für sie einen Steinway-Stutzflügel generalüberholt und restauriert. Als sie das wunderbare Ergebnis dieser Arbeit hörte, beschloss sie spontan, eine Konzertreihe zu veranstalten, um ihre Freude über das „wiederbelebte“ Instrument mit anderen Musikliebhabern zu teilen. Heute findet der Auftakt mit einer Herzensangelegenheit der Musikerin in der Christuskirche statt. Hier hätte eigentlich längst ein russischer Chor zu Gast sein sollen – der Gegenbesuch, um auch in Deutschland die deutsch-russische Matthäus-Passion aufzuführen, die erstmalig in St. Petersburg unter Porizkos musikalischer Leitung erklang und dort glücklicherweise aufgezeichnet wurde. Erst verhinderten Regierungsmaßnahmen gegen das Corona-Virus die Reise, jetzt ist daran erst recht nicht zu denken. Aber gerade jetzt ist doch eigentlich der richtige Zeitpunkt, das Mammut-Werk Johann Sebastian Bachs aufzuführen. Schließlich ist es nur noch einen Monat bis Ostern. Also soll es wenigstens das von der Matthäus-Passion geben, was machbar ist.
Unglücklicherweise umfasst der Beruf des Kirchenmusikers nicht den Ausbildungsgang zum Marketing-Genie. Und so wird noch vor Beginn des Konzerts das größte Manko des Abends offenbar. Ein Zettel an der Kirchentür weist auf die Veranstaltung hin. Aber selbst hartgesottene Gemeindemitglieder suchen nicht täglich die Kirche auf, um nach neuen Veranstaltungshinweisen zu suchen. So bleibt der Publikumskreis an diesem Abend durchaus überschaubar, was diesem Kleinod der Kirchenmusik nicht gerecht wird. Die Begeisterung der Künstler beeinträchtigt das nicht.
Johann Sebastian Bach hat die Geschichte von der Kreuzigung Jesu aus dem Matthäus-Evangelium mit Chorälen und erbaulichen Dichtungen von Christian Friedrich Henrici in freien Chören und Arien ergänzt und so zu einem beachtlichen Höhepunkt protestantischer Kirchenmusik wachsen lassen. Solisten, zwei Chöre und zwei Orchester traten am 11. April 1727 in der Leipziger Thomaskirche an, um das imposante Werk uraufzuführen. Porizko kommt heute Abend mit ihrem schönen kleinen Flügel, zwei Sängerinnen und einer Erzählerin aus. Ein interessanter Versuch, der bei entsprechender Vorankündigung vermutlich schon für den Besuch sämtlicher Kirchenmusiker im Umkreis gesorgt hätte. So also bleibt es ein kleiner, intimer Kreis, der gebannt den kommenden zwei Stunden folgen wird.
Ekaterina Somicheva und Stella Antwerpen – Foto © O-Ton
Sabine Pahlke, Ehefrau des Pfarrers Wilfried Pahlke, Optikerin und hoch engagiertes Gemeinde-Mitglied, übernimmt den Part der Erzählerin. Rhetorisch gewandt und mit einer wunderbaren Alt-Stimme ausgestattet, fesselt sie das Publikum von der ersten bis zur letzten Sekunde mit einer allzu bekannten Geschichte. Sie hätte vermutlich auch Kochrezept aufsagen können, aber so wirkt es mystischer. Von der ersten Stunde an beim „Matthäus-Projekt“ dabei ist Altistin Stella Antwerpen, die mit dem Rezitativ Du lieber Heiland und der Arie Buß und Reu den Anfang der sängerischen Auftritte macht, die zwischen die erzählerischen Abschnitte eingestreut werden. Schon bei den ersten Klängen wird klar, warum sich Porizko in das überarbeitete Instrument unter ihren Händen verliebt hat. Ein warmer Klang, in dem die hellen Töne nicht schrill werden, ist ein Genuss für die Begleitung, die hier in angenehmer Lautstärke erstrahlt. Auch am heutigen Abend dürfen sich die Besucher an der Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit erfreuen, mit der Porizko die Sängerinnen begleitet.
Ekaterina Somicheva, die mittlerweile eine feste Größe im musikalischen Geschehen der Kirchengemeinde darstellt und bei der eben erwähnten russisch-deutschen Andacht einen herzergreifenden Beitrag leistete, begeistert zunächst mit der Arie Blute nur, ehe sie das Rezitativ Wiewohl mein Herz und die Arie Ich will dir mein Herze schenken anschließt. Im Duo So ist mein Jesus nun gefangen zeigen sich beide Sängerinnen in Ausdruck und Farbvielfalt ebenbürtig.
Das Erbarme dich von Antwerpen birgt viel Inbrunst, ohne künstlich überzogen zu wirken. Somicheva lässt ihr Er hat uns allen wohlgetan als Rezitativ nachhaltig wirken, um Aus Liebe will mein Heiland sterben zu höherem Glanz zu bringen. Zwei weitere Auftritte von Antwerpen, bei denen Somicheva von der Empore sekundiert, runden einen wundervollen Abend ab, der in seiner Intimität die Intensität des Leidenswegs unglaublich steigert. Dass sich die Damen in festliche Ornate gewandet haben und viel Wert auf würdevollen Auf- und Abgang legen, wirkt zu Beginn zunächst ein wenig übertrieben, unterstreicht aber letztlich die Intensität des Abends und die liebevolle musikalische Gestaltung. Die Geschichte endet an diesem Abend mit der Aufstellung der Wache am Grab Jesu. Und Porizko erlöst das Publikum aus dem Bann, wenn sie daraufhin hinweist, dass es die Fortsetzung der Geschichte an Karfreitag gibt. Die wird dann wohl unter dem Titel Leiche weg – was nun? stattfinden. Humorvoll befreit, bedankt und verabschiedet sich das Publikum persönlich von den Künstlern. Hier geht so mancher ergriffener nach Hause als nach einem hochsubventionierten Konzert in einer Philharmonie. Kann man drüber nachdenken.
Michael S. Zerban