O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Andreas Tamme

Aktuelle Aufführungen

Berührender Barbesuch

FREMDE IN DER NACHT
(Hajo Fouquet)

Besuch am
7. Oktober 2020
(Premiere am 1. Oktober 2020)

 

Theater Lüneburg, Großes Haus

Das Theater Lüneburg kann man durchaus als typisches Stadttheater bezeichnen. 1946 gegründet, bezog es 1961 das ehemalige Kino der britischen Besatzungstruppen. Das Gebäude wurde seither regelmäßig erneuert und erweitert. Es ist beileibe kein Schmuckstück, sondern glänzt eher durch hanseatische Zurückhaltung. Ein unauffälliger Backsteinbau, der von außen auch als Stadtbücherei durchgehen könnte, solange man den Theaterturm nicht sieht. Im Innern kein übertriebener Pomp, aber alles freundlich und adrett. Das Große Haus verfügt über rund 540 – bequeme – Plätze. Eine Studiobühne und eine Spielstätte für junges Theater komplettieren das Angebot. Seit 2010 verantwortet Intendant Hajo Fouquet die künstlerischen Geschicke des Hauses und ist stolz darauf, alle gängigen Sparten anbieten zu können. Schauspiel-, Musiktheater- und Ballettensemble müssen sich dabei auf hohem Niveau permanent bewähren, denn Bremen, Lübeck oder Hamburg beispielsweise sind mit dem Auto von Lüneburg aus gut für eine Abendveranstaltung zu erreichen.

Auch am Lüneburger Theater gehen die Corona-Auflagen nicht vorüber. Eine Abendkasse gibt es ebenso wenig wie das Theatercafé, das großzügig, aber verwaist neben dem Foyer liegt. Trotzdem haben die Verantwortlichen alles unternommen, um ihren Besuchern den Besuch des Theaters so sicher und angenehm wie möglich zu machen. Es gibt abgegrenzte Wege, ein Farbsystem regelt den Zugang des Publikums, so dass auch ein geordneter Zugang im Saal möglich ist. Die Abstandsregel ist hier sehr großzügig ausgelegt. Zwei Plätze bleiben zu beiden Seiten ebenso frei wie die Reihe vor und hinter den belegten Plätzen. Das ist luxuriös und sicher schmerzhaft für das Ensemble, aber so können die Masken am Platz abgenommen werden, wenn man will. Hauptsache Spielen und dem Publikum dabei die nötige Sicherheit vermitteln, scheint die Devise der Hausleitung. Und das Haus ist gut besucht, auch wenn noch Plätze verfügbar sind. Was dem Programm nicht gerecht wird. Große Oper ist derzeit auch hier nicht angesagt, aber deshalb soll das Musiktheater nicht verstummen. Fouquet hat mit Fremde in der Nacht – Bar der Sehnsucht einen „musikalischen Theaterabend“ entwickelt und auch gleich selbst inszeniert. Nein, klassisches Musiktheater ist das nicht, aber eben auch nicht der derzeit allerorten abgespulte Arien-Abend.

Alexander Tremmel – Foto © Andreas Tamme

So einen Abend kann man mit An-, Ab- und Zwischenmoderationen ordentlich aufpeppen, aber das geht alles bei einer Stunde Spielzeit zu Lasten des Gesangs. Fouquet vertraut auf die assoziative Kraft des Theaters und verzichtet auf allen Schnickschnack. Den gibt es bei Bühnen- und Kostümbildner Sebastian Rieckhoff. Dem ist es gelungen, eine wundervolle Bar auf die Bühne zu bringen, die längst vergangene, dekadente Eleganz ausstrahlt. Die Rückwand zieht sich schief von links vorne nach rechts hinten. Davor hat ein langgezogener Tresen Platz. In der Mitte der Bühne steht der Flügel. Dahinter ein Podium mit einer Sitzgruppe. Rechts ist Platz für eine weitere Sitzgruppe. Die Rückwand birgt ein Geheimnis, das erst im zweiten Teil gelüftet wird. Das ist ohne richtig großen Aufwand liebevoll und stimmig gestaltet, so dass die Figuren, die Fouquet ins Rennen schickt, großartig wirken können. Da gibt es den Barkeeper, der jedem Klischee genügt – und zu Beginn erst mal die Bühne ordentlich desinfiziert, einschließlich der Hände des Pianisten. Ihm zur Seite die junge Frau im kecken Kleid, von der man nicht genau weiß, welche Rolle sie in seinem Leben spielt. Und all die andern Typen, die man in jeder Bar dieser Welt trifft und die den Abend in solchen Bars so einzigartig und weltentrückt machen. Schon beim Eintritt erklingt diese vertraute Bar-Musik vom Flügel her, und sogleich sind die Assoziationen eigener Besuche, das Wohlsein und die Sehnsucht in der Fremde da. Dirk Glowalla beweist dabei ein glückliches Händchen für das Licht, das intime Situationen schafft, ohne die großen Auftritte mit der rechten Aufhellung zu verpassen. Nicht ganz so perfekt gelingt Wolfgang Ziemer der Ton, wenn es um die Zuordnung der Microports geht. Aber es hält sich im erträglichen Rahmen, und so gibt es an diesem Abend vor allem zu genießen: Gesang, Sehnsucht, Wehmut, Liebe und schöne, schlanke Musik.

Wenn man einen Abend mit Welthits bestreitet, ist eigentlich schon im Vorfeld klar, dass man nur alles falsch machen kann. Schließlich hat jeder Besucher die eigene Version im musikalischen Gedächtnis tief eingebrannt. Was diesen Abend besonders macht: Schon vom ersten Lied an ist zu spüren, dass sich jeder Sänger sehr intensiv mit einer eigenen Interpretation auseinandergesetzt hat. Tenor Alexander Tremmel fragt sich als Barkeeper schon bei der Reinigung der Bar, ob denn Liebe Sünde sein kann. Und er macht das so gelungen, dass man die Version von Zarah Leander glatt für einen Moment vergisst. Wobei auch der Rollentausch, den es an diesem Abend häufiger gibt, ein bisschen den Ruch der gewollten Diversität hat, aber vielleicht, hoffentlich, ist es einfach nur ein kleiner Spaß, den sich das Ensemble hier erlaubt. Franka Kraneis gefällt mit jugendlichem Esprit, zeigt nicht nur ihr sängerisches Können in dem fröhlichen Duett mit Tremmel Anything you can do, I can do better von Irving Berlin, sondern begleitet die Kollegen an passenden Stellen auch gekonnt mit dem Akkordeon. Einen nicht ganz so glücklichen, weil wenig spektakulären Einstand findet Signe Heiberg als vom Partner verlassene Geschäftsfrau mit Je t’ai dans la peau – Ich habe dich unter der Haut – von Louis Guglielmi. Umso stärker trumpft Tenor Karl Schneider mit dem Jacques-Brel-Hit Ne me quitte pas – Verlass mich nicht – auf, dem er auch noch eine deutsche Strophe beifügt. Warum Ulrich Kratz ausgerechnet die englischsprachige Version von Kurt Weills Mackie Messer bringen muss, erschließt sich nicht ganz, zumal die deutschsprachige Version doch spritziger daherkommt. Mit Send in the clowns – Schickt die Clowns herein – von Stephen Sondheim gelingt es Kraneis, die Menschen anzurühren. Schneider bleibt bei Brel und legt noch einmal gründlich mit Amsterdam nach. Da kommt schon viel von der Originalversion rüber. Obwohl es über die sängerische Qualität keinerlei Diskussion gibt, mag man auch bei Heibergs Interpretation von Weills Surabaya Johnny unterschiedlicher Ansicht sein. Mit seiner Auffassung von Strangers in the Night – Fremde in der Nacht – dem Welterfolg von Bert Kämpfert, beschließt Kratz den ersten Teil.

Karl Schneider – Foto © Andreas Tamme

Auf ein Zeichen Tremmels geht der bislang bläulich schimmernde Vorhang der Rückwand nach oben und gibt den Blick auf die dahinter sitzende kleine Besetzung der Lüneburger Symphoniker frei. Die interpretieren Cy Colemans Big Spender. Auch dieses Arrangement stammt wie alle anderen dieses Abends von Thomas Dorsch und darf als äußerst gelungen bezeichnet werden. Trotzdem kann sich gerade bei diesem Lied doch manche Stimme außerordentlich profilieren. Soll nicht sein. Also weiter mit Weills Kanonensong in einer schönen Version von Kratz und Schneider. Nächster Höhepunkt ist Theo Macklebens Nur nicht aus Liebe weinen, mit dem Heiberg noch einmal brillieren darf, ehe Tremmel mit Macklebens Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da ein weiteres Mal zu großer Form aufläuft. Im Finale tragen alle fünf Sänger gemeinsam My Way vor. Schon ist eine Stunde um, in der das Publikum nach jedem Lied applaudierte.

Jetzt ist auch die Zeit gekommen, sich ausführlich bei Phillip Barczewski zu bedanken, der die Lüneburger Symphoniker im Blindflug mit dem Spiel von Ulrich Stöcker am Flügel hervorragend abglich und begleitete. Auch die Leistung der Sänger wird vom Publikum noch einmal ausführlich gewürdigt.

Besonderes Lob gebührt zudem einem ordentlichen Programmheft, das auch die deutschen Übersetzungen der fremdsprachig gesungenen Titel liefert. Es geht also doch. Dann heißt es, den Saal geordnet wieder zu verlassen. Fouquet ist ein außerordentlicher Abend gelungen, der ganz auf Arien verzichtet und trotzdem das Publikum auf beste Weise zu unterhalten vermag. Musiktheater kommt in einer neuen Qualität daher. Ob es so weitergehen kann, darüber möchte man gern an diesem Abend noch in irgendeiner Bar mit den Sängern philosophieren. Zur Bar-Musik am Flügel mit Whisky und sicher bis zum frühen Morgen. Aber das wird wohl nichts. Nur die Sehnsucht bleibt.

Michael S. Zerban