O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Vorhut der Klimakatastrophe

SUN AND SEA
(Lina Lapelytė)

Besuch am
17. Juli 2021
(Premiere)

 

E-Werk, Luckenwalde

Sommerzeit ist Ferienzeit ist Strandzeit!  Auch im heruntergekommenen – aber denkmalgeschützten – Stadtbad Luckenwalde außerhalb von Berlin. Seit 2017 betreiben Helen Turner und Pablo Wendel das 1913 erbaute Kraftwerk in der Kreisstadt von Teltow-Fläming als Kunstzentrum E-Werk. Seitdem werden da Strom und Ausstellungen produziert. 1928 entwarf Hans Hertlein, Architekt der Siemens-Bauten in Berlin, das Stadtbad Luckenwalde, um die Abwärme des danebenliegenden Kraftwerks zu nutzen. Seit mehr als 15 Jahren wird das Hallenbad nicht mehr genutzt und verfällt. Mittlerweile hat die Stadt erste Sicherungsmaßnahmen zum Erhalt des Gebäudes eingeleitet. Ein Strand in einem Schwimmbad?  Das geht – mit Hilfe von 70 Tonnen Sand, die das Stadtbad in eine Strandlandschaft verwandeln.

Hierauf tummeln sich ganz normale Menschen wie du und ich – eine Familie mit Kind, eine Dame mit Hund, ein verliebtes Pärchen, eine Gruppe von sportlichen Freunden. Die einen lesen, die anderen scrollen auf dem Handy, da wird Sonnencreme aufgetragen, dort wird eine Sandburg gebaut. Sie alle genießen das gute Wetter und die Sonne … und werden von den anwesenden Zuschauern, die ringsum auf der Empore stehen, beobachtet wie Tiere in einem Zoo oder unter einem Mikroskop.

Unmerklich singt etwa die Hälfte der Strandbesucher, mal Solo, mal im Chor, ganz ohne Dirigenten oder sonstige erkennbare Anleitung. Welcher Strandbesucher was singt, ist nicht erkennbar – hier geht es um ein Gruppenerlebnis. Unbemerkt auch die Quelle der Musik – die Vermischung von elektronischen Sounds, die aus vielen kleinen, strategisch platzierten Lautsprechern kommen und der Live-Gesang verschmelzen zu einem Klangteppich in dieser theatralischen Installation. Bei diesem Schwimmbad hat Ton-Ingenieur Romuald Chaloin Galiauskas sicher seine Freude gehabt, die Technik so auszutarieren, dass der Sound regelrecht schwebt.

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Oder sollte man es surreale Oper nennen? Der überdachte, imitierte Strand, der ein Porträt von ruhigen, spielenden, lesenden Sonnenanbetern malt, ist nur eine trügerische Vision. Der anfängliche Effekt von Sun & Sea – produziert von der Regisseurin Rugilė Barzdžiukaitė, Librettistin Vaiva Grainytė, Komponistin Lina Lapelytė und kuratiert von Lucia Pietroiusti – liegt irgendwo zwischen Big Brother und Operette, zwischen Reality-Show und Satire.

Doch je weiter das Werk voranschreitet, desto mehr setzt es sich mit einer der zentralen Fragen des Klimawandels auseinander: Wie können wir ein ökologisches Bewusstsein aufbauen? In die eindringliche Einfachheit der Situation schleicht sich ein stilles Lamento für das Zeitalter der planetarischen Krise ein. Dafür ist die Musik verträumt, verschwommen, monoton. Stilistisch erinnert sie an Philip Glass, Arvo Pärt und an traditionelle polyphone litauische Liedformen, die einen symmetrischen, wiederholenden Rhythmus aufweisen. Die elektronischen Melodien deuten Meereswellen, das Rauschen des Windes, das Bellen des Hündchens, das Rascheln von Chipstüten an. Wenn man im Raum verweilt, lernt man bald, sich nicht mehr darum zu kümmern, einer Erzählung zu folgen, und umso mehr sickert die alltägliche Monotonie der Meeresszene unter die eigene Haut. Die Musik selbst wird zu einer Quelle der Leichtigkeit.

Wäre da nicht das Libretto, das mit harmlosen, idyllischen Lyriken anfängt, aber dann die Umweltkrise beschwört und mit bedrohlichen Unterströmungen ausmalt: Eine Frau erzählt über ihren Ex-Mann, der im Meer ertrank, obwohl er ein exzellenter Schwimmer war; der Chor besingt die gelb-rote Flagge, die vor Strudeln und Strömungen warnt; eine reiche Frau freut sich, dass es am Großen Barrier Riff in Australien eine Bar gibt, wo man im Wasser, umringt von den Korallen, eine Piña Colada trinken kann, die im Preis inbegriffen ist; ein Philosoph kommentiert die Tatsache, dass Bananen am anderen Ende der Welt angebaut werden, nur, um uns einen Biss Glücksgefühl zu jeder Jahreszeit bescheren zu können; der Urlauberchor besingt das Meer, so grün wie noch nie, voller Algen, leeren Schneckenhäusern und Resten von toten Fischen und Plastik. Innerhalb dieser nur etwa eine Stunde dauernden Vorstellung mit gefährlich sanften Melodien gelingt es dem kreativen Team, ein weites Panorama zu zeichnen, dessen Geschichten sich zu einem Porträt einer apokalyptischen Klimakrise zusammenfügen, die so leicht untergeht wie ein Strandbesuch. Das Werk hat zurecht den Goldenen Löwen 2019 bei der Kunstbiennale in Venedig für Litauen gewonnen und geht jetzt auf Tour in Europa und demnächst auch nach Nordamerika. In Luckenwalde sind die Besucher jedenfalls begeistert und sich bewusst, dass die Vorstellungen vollständig mit 100 Prozent erneuerbarem Strom betrieben wurden – Kunststrom eben.

Zenaida des Aubris