O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Neue Flötentöne

ETERNAL BREATH
(Diverse Komponisten)

Besuch am
24. September 2020
(Einmaliges Gastspiel)

 

Forum Leverkusen

Über die Provinz und ihren Konservatismus ist viel geschrieben und noch mehr an Klischees erzählt worden. Aber es wurde, gerade, was die Kultur angeht, in den letzten Jahrzehnten auch immer wieder der Gegenbeweis angetreten. In vielen Kleinstädten sind die Theater untergegangen, in anderen haben sie sich behauptet, sind dank überragender Leistungen gar über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden. Ein Beispiel der jüngeren Zeit war der Mindener Ring des Nibelungen. Nicht ganz so großartig läuft es im Konzertbetrieb. Orchester werden kleingespart oder gleich ganz wegrationalisiert. Und wie sich das in Zukunft weiterentwickelt, möchte man lieber gar nicht wissen. Programmperlen verlieren sich zwischen Kieselgarten-Vorgärten und Einheitsfußgängerzonen. Und die Angst, mit Programmen, die abseits des Repertoires liegen, das Publikum zusätzlich zu vergraulen, sorgt für eine Ideenarmut, die selbst eingefleischte Klassik-Liebhaber in die Großstädte treibt, in der irrigen Annahme, dort sei es besser.

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Gerade für Konzertgänger, die das Ungewöhnliche suchen, lohnt aber oft ein Blick in die Angebote von Kulturstätten in kleineren Städten. Vor allem in Zeiten, in denen Konzerte immer noch eher zur Mangelware gehören, ergreifen Künstler auch gerne die Gelegenheit, auf „kleineren“ Bühnen aufzutreten. Das Forum Leverkusen gehört zu den Bühnen, die sich längst einen Namen für ungewöhnliche und qualitativ höchstwertige Aufführungen gemacht haben. Ob im Bereich Musiktheater, Jazz oder auch Comedy, na gut, lohnt immer ein Blick in das Programm der Spielstätte, die vom Engagement ihrer Dramaturgen lebt. Und da kann man plötzlich in der Konzertreihe Grenzgänger einen Auftritt entdecken, der einen verwundert aufhorchen lässt. Dorothee Oberlinger gibt mit L’arte del mondo und Freunden ein Konzert unter dem Titel Eternal Breath – Ein Atem durch die Zeit. Ein Mini-Plakat am Eingang des Foyers im Forum Leverkusen weist darauf hin, und vermutlich sieht es in der Stadt nicht anders aus. Oberlinger gilt als „Königin der Blockflöte“, so ist sie tatsächlich schon bezeichnet worden, lehrt Alte Musik in Salzburg und tritt auch auf Bühnen auf, auf denen ihre wechselnden Ensembles gerade noch Platz haben. Dabei ist sie durchaus von einem gewissen Sendungsbewusstsein beseelt, was die Blockflöte angeht. Rund 100 nennt sie ihr eigen. Und die jeweils passenden bringt sie mit, um ihre oft außergewöhnlichen Programme zu präsentieren.

Ein außergewöhnliches Programm kann man Eternal Breath mit Sicherheit nennen. Von Steinzeitflöten ist die Rede, die sich in Uraufführungen einmischen und vom Doppelflötenspiel begleitet werden. Aber der Reihe nach. Als Oberlinger 1998 ihr erstes Album Peripheries veröffentlichte, wollte sie nach ihren Studien der Neuen Musik in Amsterdam und der mittelalterlichen Musik in Mailand die Vielfalt der Flötenmusik an „Eckpunkten der Musikgeschichte“ festlegen. Das neue Programm will diese Idee weiter entwickeln. Und so hat sie an Gästen nicht nur das Ensemble L’arte del mondo unter Leitung von Werner Ehrhardt, sondern auch die Steinzeitflöten-Spezialistin Anna Friederike Potengowski und den Perkussionisten Georg Wieland Wagner eingeladen.

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Steinzeitflöten? Ja, gibt es tatsächlich. Und nachdem Potengowski ihre Funktionalität am Beispiel des O Ecclesia von Hildegard von Bingen gezeigt hat, erzählt sie auch einiges über die Fundorte und Beschaffenheiten der Knochenflöten. Von der Steinzeit geht es allerdings gleich mal in die Gegenwart. Dorothée Hahne hat für Oberlinger das Stück commentarii III für Blockflöte und Elektronik geschrieben. Ein Stück, bei dem es der Komponistin ganz offenbar darum ging, Oberlinger alles an Virtuosität abzuverlangen, was niemandem anderen gelingt. Für die Blockflötistin anscheinend ein Spaziergang, immerhin mit Kopfhörer auf den Ohren.

Übergangslos geht es zurück ins 16. und 17. Jahrhundert. Mit Giorgio Mainerios Shiarazula Marazula und La lavandara Gagliarda und Dario Castellos Streicher-Sonate treibt das Konzert zur Uraufführung des Abends. Willi Merz, Jahrgang 1964, hat die Spiralia für Steinzeitflöten, Blockflöte, Streicher und Basso continuo komponiert. Dass der Komponist der Aufführung beiwohnt und kurz auf die Bühne kommt, wird vom Publikum besonders herzlich aufgenommen. Ein kurzes Gespräch mit ihm wäre vermutlich nicht schlimm gewesen, findet aber nicht statt. Sondern es geht nach einem kurzen Zwischenspiel weiter zu Potengowskis Eigenkompositionen Aare und Vogelimprovisation, bei denen natürlich auch die Steinzeitflöten im Vordergrund stehen. Partner von Potengowski ist der Perkussionist Georg Wieland Wagner, der nach einem Satz aus Antonio Vivaldis Konzert Il Giardellino sein Wadawishing Pade und in einer Neuvertonung für L’arte del mondo Mayuman – ein Gesang aus der Welt der unangemessenen Zeit erklingen lässt. Ob Merz oder Wagner: Beides klingt im Stil Neuer Musik ein wenig dünn, vor allem im Vergleich zu Vivaldis Konzert für Blockflöte, Streicher und Basso continuo, das nach einem Ausflug zu John Cages Dream folgt. Mit einem kleinen Epilog der Steinzeitflöte endet ein Programm, das an Virtuosität und Vielfalt kaum zu überbieten ist. Woher die Dramaturgie des Forums Leverkusen den Mut nimmt, solch ein Programm im Großen Saal aufführen zu lassen, erscheint unbegreiflich.

Wobei der Große Saal dieser Tage relativ zu betrachten ist. Er wird einfach stärker belegt, weil in anderen Räumen die Abstandsregeln nicht so leicht einzuhalten sind. Trotzdem ist eine gehörige Besucherschar zusammengekommen, die auch vor einem Bravo-Ruf nicht zurückschreckt und sich im Applaus überschlägt. Hier hat an diesem Abend ein Glanzlicht der Musik stattgefunden. Und vielleicht ist das der positive Aspekt der Corona-Krise, dass solche Programme häufiger stattfinden, die abseits des Repertoires Neues und Ungewöhnliches wagen. Zu begrüßen wäre es. Und so darf man gespannt sein auf das nächste Konzert. Das Neue-Musik-Ensemble E-Mex wird am Sonntag ein Gesprächskonzert in Leverkusen aufführen, das sich mit Original und Bearbeitung beschäftigt. Auch hier steht eine Uraufführung auf dem Zettel. Mitten im Niemandsland zwischen Düsseldorf und Köln. Großartig.

Michael S. Zerban