O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Mit viel Tempo

BERNSTEIN CELEBRATION
(Jon Lehrer)

Besuch am
20. Januar 2022
(Einmaliges Gastspiel)

 

Forum Leverkusen, Großer Saal

Um die gute Nachricht gleich vorwegzunehmen, die Dramaturgin Claudia Scherb verkünden kann: Der Besucherschwund im Forum Leverkusen scheint überwunden. Zwei Studioaufführungen ausverkauft, die heutige Veranstaltung sehr gut besucht und der Auftritt des Israel Ballet am 8. Februar ist so gut wie voll besetzt – selbstverständlich alles bei den amtlich begrenzten Platzangeboten, aber für Scherb ist der erfreuliche Trend klar. Klar ist auch, dass das nicht an abnehmender Vorsicht des Publikums liegt, sondern in erster Linie am exzellenten Programm, das das Forum in bewährter Qualität anbietet. Den Beweis dafür liefert der heutige Abend, an dem die Jon Lehrer Dance Company aus New York eingeladen ist. Aber ehe es dazu kommt, steht die nächste Katastrophe an. Das Unheil kommt in kleinen Schritten. Draußen bildet sich ein gewaltiger Rückstau vor der Tiefgarage, das gefährdet den pünktlichen Beginn der Veranstaltung. Nichts Ungewöhnliches, also Ruhe bewahren. Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass sich die lange Schlange gebildet hat, weil die Schrankenanlage des Parkhauses nicht funktioniert. Techniker sind weit und breit nicht in Sicht, der Betreiber verkündet ein technisches Problem, an dem man arbeite. Die Nachricht kommt um 19.15 Uhr, Aufführungsbeginn ist um 19.30 Uhr. Da mag so mancher Veranstalter mit den Schultern zucken, schließlich ist das nicht sein Problem. Nicht so in Leverkusen. Hier unternimmt das Team im Hintergrund alles Menschenmögliche, um 440 Menschen wenigstens halbwegs pünktlich in den Großen Saal zu bringen. Das kleine Wunder gelingt. Um 19.35 Uhr sitzen alle auf ihren Plätzen. Das Ganze wird noch ein Nachspiel haben, aber jetzt gilt es zunächst, sich auf das Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren.

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Jon Lehrer war 19 Jahre alt, als er den Bühnentanz für sich entdeckte. Ein Alter, in dem ihm jeder vernünftige Ausbilder so etwas sagt wie „Wenn Du die Bühne liebst, schau sie Dir von vorne an“. Der Wunderknabe beginnt eine geradezu berauschende Tänzerkarriere, entwickelt sich zum hochgelobten Choreografen, wird berühmt und vielfach ausgezeichnet für seinen eigenen Tanzstil, der Jazz- und Modern Dance kombiniert, und gründet 2007 die lang erwartete eigene Kompagnie mit Sitz in Buffalo, New York. „Tanz soll Emotionen hervorrufen“, ist sein Credo.

In Leverkusen ist seine Kompagnie mit einem besonders attraktiven Programm angekündigt. Der charismatische Choreograf hat eine Bernstein-Hommage erarbeitet. Und seine Europa-Tournee unter Einsatz aller Möglichkeiten durchgesetzt. Tägliche Tests, B-Besetzungen für jeden einzelnen der acht Tänzer sind Grundvoraussetzungen, um überhaupt reisen zu können. Ist es schon für Solisten in diesen Tagen außerordentlich beschwerlich zu reisen, ist es für eine ganze Truppe eher so etwas wie ein Himmelfahrtskommando. Schließlich droht überall und jederzeit eine Quarantäne, die sämtliche Pläne über den Haufen werfen kann. Jon Lehrer und sein Ensemble hat es riskiert und mit Bernstein Celebration immerhin bis Leverkusen damit geschafft.

Bis heute wird die geniale Musik von Leonard „Lennie“ Bernstein viel zu selten auf deutschen Konzertpodien gespielt. Da muss man jede Gelegenheit nutzen, die sich bietet. Und wenn die Musik auch nur von der Festplatte kommt, um in einer Choreografie eine Rolle zu spielen. Unglücklicherweise kommt die Musik etwas dünn aus den Lautsprechern, so dass sich keine direkte Verbindung zwischen Tanz und Musik herstellen will. Auch die Kostüme hat Laura Vanner auf Wunsch von Lehrer bewusst nicht mit den gespielten Stücken in Verbindung gebracht. So hört also das Publikum die grandiose Musik, während die Tänzer in mehr oder minder passenden Kostümen die Bühne bevölkern. Aber das spielt keine Rolle. Denn es gelingt den vier Tänzerinnen und vier Tänzern von der ersten Sekunde an, das Publikum zu fesseln. Besonders Christiana Cavallo und Gabrielle Dinizo stechen aus dem insgesamt hervorragenden Ensemble immer wieder hervor.

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Beginnend mit Make Our Garden Grow und der Ouvertüre aus Candide, schließen sich die Divertimenti für Orchester an. Mit den drei Tanzepisoden The Great Lover, Lonely Times und Times Square geht es weiter zu Prelude, Fugue and Riffs for solo clarinet and jazz-ensemble. Fehlt noch was? Na klar. Die West Side Story. Und auch hier gibt es ein Best of mit Maria, Somewhere und Tonight. Das hätte man natürlich gern gesungen gehört. Zuletzt gibt es mit Dialogues for Jazz Combo and Orchestra die Hommage an Bernstein von Howard Brubeck. Abgesehen von einer kleinen Zugabe, in der plötzlich ganz andere Klänge ertönen. So wird ein breiter musikalischer Bogen über die Bühne gespannt, unter dem sich die tänzerischen Qualitäten des Abends entfalten.

Lehrer setzt bei der Umsetzung auf zwei Erfolgsfaktoren: Raumgefühl und viel Tempo. Er ist ein Meister in der Raumaufteilung. Selbst beim Pas de deux gelingt es ihm noch, das Gefühl zu vermitteln, die Bühne sei gefüllt. Schnelle Auf- und Abgänge, Hebungen und eindrucksvolle Sprünge vervollständigen das komplexe Bild, das ohne Dauerläufe und Dunkelheit auskommt. Großartig, wie er an die Verfilmung der West Side Story von Robert Wise und Jerome Robbins aus dem Jahr 1961 erinnert, ohne die legendären Tanzszenen zu imitieren. Was nach den Verbeugungen des Ensembles gemeinsam mit Jon Lehrer vor stehendem und frenetisch applaudierendem Publikum passiert, müssen die Besucher der folgenden Europa-Stationen selbst entdecken. So viel sei verraten: Da macht jeder noch mal ganz große Augen.

Einmal mehr hat das Forum bewiesen, dass es Treffpunkt für den internationalen Spitzentanz ist. Und wenn die Stadt demnächst wieder erlaubt, eine Cola oder ein Glas Wein während einer Kulturveranstaltung zu trinken, weil das vielleicht doch nicht ganz so gefährlich ist, wie so mancher Bundesgesundheitsminister glaubt, könnte man sich fast schon wieder in „alte Zeiten“ zurückversetzt fühlen.

Als die Besucher sich in den Treppenhäusern auf dem Weg zum Ausgang befinden, gibt es noch eine Durchsage. Die Ausfahrt aus dem Parkhaus ist offen, es braucht niemand für das Parken zu bezahlen. So geht das im Forum Leverkusen.

Michael S. Zerban