O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Tom Schulze

Aktuelle Aufführungen

Siegfrieds Märchenwelt

SIEGFRIED
(Richard Wagner)

Besuch am
9. Juli 2022
(Premiere am 30. Mai 2015)

 

Oper Leipzig

Es ist der dritte Abend in Folge, dass Zuschauer aus der ganzen Welt in die Oper Leipzig strömen. Im Rahmen des Festivals Wagner22 wird der Ring des Nibelungen an vier Abenden hintereinander gegeben, ohne Unterbrechung. Nun steht Siegfried auf dem Programm und die Fortsetzung der Ring-Tetralogie. Die spannende Frage ist für viele Zuschauer, die diese Produktion das erste Mal sehen, wie würde das Regieteam um Rosamund Gilmore die Geschichte weiterentwickeln? Welche Rolle werden die mythischen Wesen spielen, die Gilmore im Rheingold und in der Walküre als beobachtende Protagonisten eingeführt hat? Gibt es einen Zeitensprung in der Konzeption, und wie wird das ganze musikalisch aufgelöst? Viele Fragezeichen im Vorfeld, die nach der Aufführung nicht alle verschwinden. Zwischen der Premiere Walküre und Siegfried lagen seinerzeit knapp anderthalb Jahre, Zeit genug für eine Reflexion der bisher gezeigten dramaturgischen Elemente.

Siegfried ist in dieser Inszenierung ein pubertierender, kraftmeiernder Teenager, der Antworten sucht auf elementare Fragen. Wer war sein Vater, wer seine Mutter? Und was ist mit Mime, den er lange für seinen Vater hält? Die zögerlichen Antworten des Zwerges stoßen ihn in ein emotionales Chaos. Liebe, Geborgenheit, das sind abstrakte Begriffe für ihn, doch genau danach sehnt er sich. Mime kann ihm das nicht geben. Und hier greift Rosamund Gilmore erstmals ins Geschehen ein. Für sie ist Siegfried Teil der mythischen Wesen, die versteckt in einem gartenähnlichen Feld das Geschehen beobachten und mit ausdrucksstarkem Tanz kommentieren. Sie nehmen direkter als im Rheingold oder in der Walküre am Geschehen teil. Statt aktiver Schmiedeszene Siegfrieds nur eine imaginäre Andeutung der Kraft, das neu zusammengefügte Schwert Nothung wird ihm von den mythischen Wesen überreicht. Der ganze erste Aufzug wirkt karg und lieblos. Requisiten und Kostüme lassen auf die 50-er Jahre tippen, ein neuerlicher Zeitsprung im Vergleich zum Rheingold und zur Walküre.

Foto © Tom Schulze

Doch die entscheidenden Interaktionen zwischen Siegfried und Mime einerseits und Mime und dem Wanderer in der Wissenswette andererseits bleiben blass und entwickeln nicht die Spannung und Dynamik, die die Musik suggeriert. Mime und Siegfried beharken sich zwar, doch die notwendige aggressive Spannung bleibt aus. Auch der Wissenswette fehlt es an einer fühlbaren Intensität. Hier geht es um das Existenzielle, zumindest aber um Mimes Kopf. Und so plätschert der erste Aufzug ohne große Spannungsmomente vor sich hin. Das Gilmore aber Geschichten erzählen kann, sogar Märchen für Erwachsene, das zeigt sie im zweiten Aufzug. Fafner ist nun ebenfalls ein mythisches Wesen, ein Riesentroll, der sich reproduziert hat, und elf kleine Fafners versuchen wie ein triefendes Geschwür Siegfried davon abzuhalten, den Hort für sich zu gewinnen. Die Szene ist großartig grotesk, bunt und schillernd. Als Siegfried Fafner tötet, und mit ihm auch die kleinen Fafners in den letzten Zuckungen liegen, kommt wieder das emotionale Dilemma des tumben Jünglings zum Vorschein. Wie ein kleiner Junge schmiegt er sich an den toten Riesen, wieder eine Vaterfigur, die nicht taugt. In dieser Situation weiß Gilmore Abhilfe zu schaffen. Ein großer weißer Waldvogel erscheint, mehr Schwan als Vöglein, und nimmt Siegfried mit auf eine emotionale Reise, die ihn zu Brünnhilde führen soll. Das dann noch drei weitere große, weiße Waldvögel auftauchen, passt zu Gilmores kindlichem Hang zur Übertreibung.

Der dritte Aufzug gelingt dann fast zur ganz großen Wagner-Oper. Wanderer Wotan ruft Erda hervor, noch einmal will er das Schicksal wenden. Erda, wie schon im Rheingold mit den drei Nornen auftretend, wickelt ihn in seilartiges Tuch, aus dem er sich noch einmal befreien kann für seine letzte Mission, diesen ungeheuerlichen Jungen aufzuhalten. Die Geschichte ist bekannt. Siegfried zerschlägt Wotans Speer, dessen Macht ist endgültig gebrochen, und für den jungen Siegfried gibt es auf dem Weg zu seiner ersten weiblichen Eroberung kein Zurück mehr. Dass er sich auf dem Felsanstieg unsichtbar fürs Publikum einmal schnell umzieht, geschenkt. Das weiße Hemd war im kleinen Koffer Wotans, den dieser die ganze Zeit mit sich rumgetragen hatte und rein zufällig am Walkürenfelsen für Siegfried deponiert hat.

Dass aber Brünnhilde auf dem Felsen jetzt im Nachthemd, nur mit einem Brustpanzer geschützt, liegt, na ja. Hat Gilmore eigentlich vergessen, wie sie Brünnhilde am Schluss der Walküre auf den Felsen abgelegt hat? In voller Kampfmontur mit Lederkleid, Ledermantel und Stiefel. Wunderbare Metamorphose nach gefühlten 20 Jahren Schönheitsschlaf. Wenn Siegfried tolpatschig versucht, Brünnhilde den Brustpanzer zu entfernen und dann erkennt, dass sich dahinter eine Frau verbirgt, dann hat das schon was von Slapstick. In dieser Szene muss man sofort an die Interpretation des großen Loriot in seinem Ring an einem Abend denken. Eines der schönsten Zitate aus dieser Version: „Kaum hat Siegfried das schwere Oberteil geöffnet, wölbt sich ihm der Busen eines hochdramatischen Soprans entgegen. Nachdem sich der Held von diesem Schock erholt hat, macht er eine durchaus richtige Beobachtung: Das ist kein Mann! Zum ersten Mal in seinem Leben empfindet er nackte Furcht und verhält sich wie alle jungen Männer in dieser Situation; er schreit nach seiner Mutter.“ Herrlicher und komischer, ohne Verfälschung des Inhaltes, kann man diese Situation nicht beschreiben. Brünnhildes Erwachen ist mehr Geburt der Venus, ein erotisches Verlangen, dass den pubertierenden Knaben ganz schön überfordert. Das wäre alles noch akzeptabel gewesen, weil auch schön anzuschauen. Doch da war ja noch was. Die mythischen Wesen, die freundlichen Begleiter Siegfrieds in seinen jungen Jahren, dürfen am Schluss nicht fehlen. Und mitten im taumelnden Jubel um „leuchtende Liebe“ und „lachenden Tod“ sind sie da, freuen sich mit Siegfried und Brünnhilde und rauben dem Zuschauer die Illusion von echter hehrer Liebe.

Carl Friedrich Oberle hat sich mit seinem Bühnenbild genau dieser Regieordnung gefügt. Im ersten Aufzug dominiert das merkwürdige Gartenfeld, und einige wenige Requisiten wie Amboss und diverse Schwerter erinnern den Zuschauer daran, dass er sich in der Ring-Tetralogie befindet. Riesentroll Fafner mit seinem Konglomerat sitzt auf einem riesigen roten Sofa, das in die Tiefe absenkbar ist, während die umgestürzte Brücke an der Neidhöhle dem Rheingold entstammt. Da waren die Götter nämlich darüber nach Walhall eingezogen. Grandios dagegen das Bild im dritten Aufzug mit einer formidablen Lichtregie von Michael Röger. Der dunkle Walkürenfelsen von hinten, mit Nebel durchzogen, und nach der Drehung das stilisierte Schlussbild aus der Walküre mit der schlafenden Brünnhilde. Und hier wird das Geschehen wieder zum Märchen für träumende Erwachsene. Nicola Reichert unterstützt das mit ihren Kostümen, die ihr dann am besten gelingen, wenn es um die Fantasie geht, insbesondere bei Fafner, den ganzen mythischen Wesen und bei Brünnhilde. Siegfried in seiner hochwassertauglichen Verkleidung ist kein großer Wurf. Mimes Arbeitskleidung entstammt irgendeiner Fabrik, passt aber zu seinem kleingeistigen Habitus. Alberich mit Trenchcoat und Brille sieht aus wie ein kleinkarierter Finanzbeamter, der Wanderer mehr wie ein Fischer auf dem Trockenen.

Foto © Tom Schulze

Doch große Oper gelingt erst wirklich durch die Musik und den Gesang. Und dafür sorgen an diesem Abend die erstklassigen Sänger. Allen voran Stephen Gould, der die Partie des Siegfried in diversen Inszenierungen interpretiert hat und derzeit als der „Ironman“ der Tenöre gilt. In Bayreuth wird er in diesem Jahr neben dem Tristan und dem Tannhäuser den Götterdämmerungs-Siegfried verkörpern und insgesamt neunmal mit diesen Mammutpartien auf der Bühne stehen. Wer nun denkt, dass Gould in Leipzig vorsichtshalber den Schongang einlegt, der kennt den sympathischen Sänger nicht. Gould, mittlerweile im 60. Lebensjahr, gibt immer alles. Er überzeugt durch seinen strahlkräftigen Tenor, doch lässt ihm die Regie Gilmores zu wenig spielerische Gestaltungsmöglichkeit. Sein Schmiedelied vermag nicht wirklich zu zünden, wie auch ohne Schmiedeszene. Zu großen Taten und gesanglicher Hochform schwingt er sich dann aber im dritten Aufzug auf. Zunächst das gesangliche Kräftemessen mit dem sängerisch ebenbürtigen Wanderer, um dann mit dem wunderbaren finalen Liebesduett mit Brünnhilde sein emotionales Chaos in einem tenoralen Jubelausbruch zu sortieren.

Doch auch ein Stephen Gould ist keine Maschine, und die dramatischen Höhen im Finale des zweiten Aufzuges wackeln doch etwas, und auch im Liebesduett mit Brünnhilde sind leichte Ermüdungserscheinungen nicht zu überhören. Bei dem insgesamt angebotenen sängerischem Niveau wäre es Beckmesserei, hier noch ein Haar in der Suppe zu suchen. Auch für Daniela Köhler ist die Partie der Brünnhilde eine Art Generalprobe für ihr Debüt im neuen Bayreuther Ring in derselben Rolle. Sie weiß durch einen klaren und strahlenden, jugendlich-dramatischen Sopran zu betören, auch wenn Ihre Höhen etwas scharf und schneidend klingen. Ihr „Heil dir Sonne, heil dir Licht“ erklingt wie eine Offenbarung. Für die Siegfried-Brünnhilde eine Idealbesetzung, für die Walküre oder die Götterdämmerung hat es da noch Zeit. Das finale Duett mit Stephen Gould entwickelt sich zu einem überschäumenden, ja, schon fast orgiastischen sängerischen Wettstreit, bei dem Köhler, die an dieser Stelle noch ausgeruht ist, leichte Vorteile hat.

Wie schon im Rheingold als Wotan hinterlässt Michael Volle erneut einen überwältigenden Eindruck als Wanderer. Er begeistert mit seinem kräftigen und ausdrucksstarken Bariton und überzeugt auch durch sein Charakterspiel, insbesondere bei der Wissenswette mit Mime im ersten Aufzug. Da erinnert in Gestik und Mimik vieles an den Hans Sachs, auch wie er mit einer kleinen Handbewegung den Zwerg Mime kommandiert, das hätte auch der Lehrbub David sein können. Aus der eher spannungsarmen Inszenierung macht Volle allein durch seine Bühnenpräsenz ein Event. Zweifellos ist Volle nicht nur der führende Hans-Sachs-Interpret in Wagners Meistersingern, er ist momentan auch der Wotan schlechthin, weil er neben Ausdruck und Stil im Gesang auch eine saubere und kultivierte Aussprache pflegt. Das zeigt er neben dem dramatischen Abgang, nachdem Siegfried ihm den Speer zerschlagen hat, besonders in der Erda-Szene zu Beginn des dritten Aufzuges. Wunderbares Pendant dazu ist Marina Prudenskaya in der Partie der Erda, die diese Figur wie schon im Rheingold  ausdrucksstark und mit warmem Mezzosopran gestaltet.

Dan Karlström, mittlerweile seit über zwanzig Jahren im Ensemble der Oper Leipzig, darf man sicher zurecht als Idealbesetzung des Mime bezeichnen. Sein fokussierter Charaktertenor, seine Körperstatur und sein listiges Spiel geben dem Sänger alles mit, was man für die Darstellung des kleinen Giftzwerges benötigt. Doch auch hier verhindert Gilmore, dass Mime wirklich gefährlich rüberkommt. Lediglich in der Wissenswette mit Wotan darf Karlström zeigen, was für spielerische Möglichkeiten er hat. Auch Tuomas Pursio, der Wotan im Rheingold bei der Premiere 2013 und ebenfalls seit zwei Jahrzehnten im Dienste der Leipziger Oper, gibt den Alberich mit kraftvollem und markantem Bariton, und Randall Jakobsh verleiht dem Riesentroll Fafner einen voluminösen schwarzen Bass. Mit einem schönen und textverständlichen Koloraturgesang leiht Daniela Fally im Orchestergraben dem Waldvogel ihre Stimme.

Ulf Schirmer führt das Leipziger Gewandhausorchester mit facettenreichem Spiel durch die schwierige Partitur. Präzise werden die vielen Leitmotive herausgearbeitet, und die Bläser spielen akzentuiert, nur ganz kleine Unsauberkeiten sind da zu vernehmen. Ein Sonderlob haben sich Iveta Hylasova-Bachmannova am Englischhorn mit Siegfrieds Flötenversuch im zweiten Aufzug, Jens Hentschel am Horn für seine Solo-Rufe und Ole Heiland an der Tuba verdient. Besonders im schon fast kammermusikartigen Waldweben erzeugt Schirmer ein musikalisches Siegfried-Idyll. Er begleitet die Sänger sicher durch die Partie, die gefährlichen Forte-Stellen der Partitur hat er souverän im Griff.  Das Tempo ist relativ langsam, trotzdem mit schnellen Anzügen und expressiven Ausbrüchen, aber insgesamt sehr sängerfreundlich. Mit etwa 1 Stunde und 25 Minuten ist der dritte Aufzug schon sehr langsam, aber er bleibt musikalisch trotz der Längen spannend. Es scheint, als wolle Schirmer jede verbleibende Minute im Orchestergraben zum Ende seiner Amtszeit auskosten.

Am Schluss gibt es großen Jubel und Bravo-Rufe für alle Sänger sowie für Ulf Schirmer und das Gewandhausorchester. Das Publikum, das wie auch schon bei der Walküre durch notorische Huster und Handyklingeln mal wieder kein Ruhmesblatt abgibt, hat diesen Ring und vor allem seine erstklassige Besetzung gut angenommen. Bleibt die Frage für alle, wie wird die Geschichte am vierten Abend weitergehen? Eine Götterdämmerung in der Jetzt-Zeit oder in der Zukunft? Werden die mythischen Tanzwesen am Ende überleben und für einen Neuanfang stehen? Eine Nacht drüber schlafen, dann wird es die Antwort geben.

Andreas H. Hölscher