O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Kirsten Nijhof

Aktuelle Aufführungen

Kammerspiel mit Amputationsschmerzen

LOHENGRIN
(Richard Wagner)

Besuch am
1. November 2020
(Premiere)

 

Oper Leipzig

Es sind nur noch knapp zwei Jahre bis zu den Opernfesttagen „Wagner 22“ im Sommer 2022. Bis dahin will die Oper Leipzig unter der Leitung von Intendant und Generalmusikdirektor Ulf Schirmer alle dreizehn Opernwerke Wagners im Repertoire führen und innerhalb von drei Wochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung zur Aufführung bringen. Ein Mammutprojekt und in seiner Form einzigartig. Mit der Neuinszenierung von Richard Wagners Lohengrin in der Inszenierung von Katharina Wagner sollte nach der umjubelten Premiere von Tristan und Isolde im Oktober letzten Jahres ein weiterer wichtiger Meilenstein auf diesem Weg gelegt werden. Doch in diesem Jahr ist es wie verhext. Zunächst musste im Frühjahr die Premiere Lohengrin am Gran Teatre del Liceu Barcelona, mit dem die Leipziger Inszenierung in Koproduktion entstehen sollte, aufgrund der beginnenden Corona-Pandemie abgesagt werden, und damit auch die Inszenierung von Wagner. Im Sommer konnte dann wieder unter Einschränkungen Theater gemacht werden, doch Katharina Wagner, Leiterin der Bayreuther Festspiele, erkrankte schwer und fiel längerfristig aus. An eine Inszenierung von Wagner, wie ursprünglich vorgesehen, war nicht zu denken. Sie sollte schon 2018 in Leipzig den Tannhäuser inszenieren, was jedoch aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten scheiterte. Nun war eine kreative Lösung gefragt, wollte man diesen Lohengrin unter den erschwerten Rahmenbedingungen und Auflagen, die eine „normale“ Inszenierung vor vollem Haus derzeit nicht möglich machen, auf die Bühne bringen.

Schirmer erarbeitete nun zusammen mit dem Chefdramaturgen Christian Geltinger und dem künstlerischen Produktionsleiter Patrick Bialdyga, der das Stück auch inszeniert, ein neues Konzept. Dabei soll die Musik im Vordergrund stehen, zumal die Oper Leipzig über eine Bühnenfläche verfügt, die es möglich macht, das Orchester in Originalbesetzung auf der Bühne zu platzieren. Auch der Chor soll zum Einsatz kommen, und den Bühnenraum sollen Motive des Bildhauers und Malers Klaus Hack bestimmen. Für diesen Lohengrin hat Schirmer nun eine Fassung entwickelt, die die großen musikalischen Szenen – etwa die Szene zwischen Ortrud und Telramund, das sogenannte Brautgemach mit dem einleitenden Brautchor oder die Gralserzählung – unangetastet lässt, sodass große Strecken des Werks trotz der erforderlichen Kürzungen zu erleben sind. Durch die Anordnung der Szene vor dem Orchester ist das Publikum darüber hinaus näher am Geschehen, was den neuen Leipziger Lohengrin zu einem fast schon intimen Kammerspiel machen soll. So war die Spannung und Vorfreude auf diese Neuinszenierung unter Corona-Bedingungen groß, bis zur avisierten Premiere am 7. November waren es noch zehn Tage.

Dann die nächste Hiobsbotschaft für alle Kulturschaffenden in Deutschland, nicht nur in Leipzig. Aufgrund der derzeit drastisch ansteigenden Infektionszahlen müssen alle Theater ab dem 2. November als Teil eines nicht wirklich nachvollziehbaren Lockdowns für vier Wochen schließen. Besonders die Theater hatten versucht, durch ein striktes Hygienekonzept den Betrieb zumindest rudimentär aufrechtzuhalten. Nun also der nächste Schock, die Lohengrin-Premiere vor dem Aus! Doch Schirmer ist keiner, der einfach die Flinte ins Korn schmeißt. Kurzerhand wurden alle Kräfte gebündelt, frei gewordene Kapazitäten genutzt und die Premiere kurzerhand um eine Woche auf den 1. November vorverlegt, mit einer Vorwarnzeit von gerade mal drei Tagen. Ein gewagtes, aber auch Respekt erzeugendes Unterfangen, dass die Spannung nochmal steigen lässt. Doch die Hiobsbotschaften rissen nicht ab. Zunächst erkrankte Kathrin Göring, die in der Generalprobe drei Tage zuvor als Ortrud noch glänzen konnte, ganz akut und musste die Premiere absagen. Doch mit der kurzfristigen Verpflichtung von Stéphanie Müther, die diese Partie schon mit großem Erfolg in Dortmund gesungen hat und auch als Brünnhilde in Chemnitz zu begeistern wusste, wird die Premiere gerettet.

Kurz vor Aufführungsbeginn dann wieder eine schlechte Nachricht. Der Corona-Inzidenzwert war in Leipzig aktuell auf über 50 gestiegen, was zur Folge hatte, dass die nächste Stufe der Einschränkungen in Kraft trat. Konkret hieß das, dass statt der ursprünglich zugelassen Zahl von 370 Zuschauern – in einem Haus mit 1.267 Plätzen – nur noch 238 Zuschauer ins Haus durften. Das wiederum bedeutete, weit über 100 Menschen am Einlass oder an der Abendkasse den Eintritt zu verweigern. Für alle Beteiligten eine schon fast unzumutbare Situation, die aber relativ geräuschlos gelöst werden konnte.

Mit zehn Minuten Verspätung öffnet sich dann endlich der Eiserne Vorhang, und das Vorspiel zum ersten Aufzug Lohengrin erklingt. Das Gewandhausorchester ist in Originalbesetzung für diese Partitur auf der Bühne versammelt, die Szenerie spielt sich auf der Vorderbühne ab. Drei große Tische, die immer von zwei ganz in schwarz gekleideten Statisten umgestellt werden, und fünf Stühle bilden das Hauptbühnenbild. Am rechten Bühnenrand sieht man zwei große, stilisierte Holzfiguren des Bildhauers Klaus Hack, es sind die nordischen Götter Wotan und Freia. In der Mitte der zu einer Tafel angeordneten Tische liegt eine überdimensionierte Krone als Zeichen des führerlosen Brabant. Elsa steht während des Vorspiels vor dieser Tafel, wie erschüttert, um sich dann wie ein verschrecktes und traumatisiertes Kind unter dem Tisch zu verstecken, nachdem ihr die omnipräsente Ortrud ein Paar Schuhe und eine Strickjacke vor die Füße geworfen hat, eindeutig ihrem vermissten Bruder Gottfried zuzuordnen. Friedrich von Telramund sitzt an der linken Kopfseite der Tafel, vor ihm ein großes Schachspiel. Aber Telramund ist blind. Sind es die Folgen einer möglichen Kriegsverletzung, der er sich im Kampfe „mit dem wilden Dänen“ zugezogen hat, oder ist er nur „blind“ für die Realität, dass Ortrud ihn benutzt und manipuliert. Diese Frage lässt Regisseur Patrick Bialdyga offen wie so vieles, was er nur andeutet. König Heinrich ist hier ein infantiler Kretin, der Seifenblasen aus einem dem Reichsapfel nachempfundenen Gefäß pustet und ansonsten alles tut, was ihm sein Adjutant, der Heerrufer, einflüstert oder vorlegt. Bleibt noch Lohengrin, der alles andere als romantisch in einem schmuddeligen Anzug mit Trenchcoat aus der Unterbühne hochfährt, den Schwan in einer großen Glaskugel. Das Spiel der Intrige und Macht hat begonnen, bei dem es, das ist zu diesem Zeitpunkt schon klar, nur Verlierer geben wird. Ortrud betreibt ihr Ränkespiel, indem sie Karten legt. Für Bialdyga ist sie die starke Figur im Hintergrund, die die anderen Figuren manipuliert und wie Marionetten bewegt, in Analogie zur Netflix-Serie House of Cards. Doch Ortruds Strategie geht nicht auf, bricht wie ein Kartenhaus zusammen. Lohengrin dagegen ist ein aggressiver Gralsritter, der Elsa schon beim Frageverbot so einschüchtert, dass von der hehren Romantik nichts zu spüren ist. Das Gottesurteil ist kein Kampf auf Augenhöhe, Telramund wird mit seinem Blindenstock niedergestreckt. Im Beziehungsgeflecht der Figuren untereinander geht alles Gefühl verloren. Die Brautgemach-Szene, mit weißen Blüten auf den Tischen, auf den Ortrud noch schnell ein paar Schwanenfedern hinzugefügt hat, wirkt kalt und steril, das Ende mit Schrecken vorprogrammiert. Zwar tanzt Elsa noch mit ihrem Brautschleier auf dem Tisch, doch wirkt diese Szene mehr als surreal, zumal im Hintergrund Ortrud alles mit Argusaugen überwacht. Nach der Gralserzählung erscheint der Schwan aus der Unterbühne, mit großen Flügeln, Schwert und Horn. Optisch sehr gut gelöst, denn dieses Konstrukt entpuppt sich tatsächlich als der verwandelte Gottfried von Brabant, der sich aus diesem Kostüm herausschält und zum Schluss die vakante Krone aufsetzt.

In zwei Stunden ohne Pause wird hier eine deutlich gekürzte Fassung präsentiert als Kammerspiel, fokussiert auf die Hauptprotagonisten und ihr kompliziertes Beziehungsgeflecht, ohne große Tableaus, ohne Chorszenen, der Chor singt von der Probebühne und wird per Lautsprecher eingespielt, was leider sehr blechern klingt und die Unnatürlichkeit der Szenerie noch verstärkt. Es sind die Massenszenen gestrichen, insbesondere die komplette dritte Szene des zweiten Aufzuges nach Telramunds Worten „So zieht das Unheil in das Haus.“ Und das ist das Hauptproblem dieser Aufführung. Bei allem Verständnis, eine Wagner-Premiere trotz aller Einschränkungen auf die Bühne zu bringen, kann eine auf zwei Stunden zusammengekürzte Fassung nicht das Gesamterlebnis ersetzen. Auch darf man trefflich darüber streiten, ob diese Kürzungen aus künstlerischer oder dramaturgischer Sicht legitim sind. Für einen Wagner-Einsteiger sicher reizvoll, um mal reinzuschnuppern, aber für Wagnerianer doch eher eine Zumutung, leidet er doch während der Aufführung an Amputationsschmerzen. Dennoch muss man der Oper Leipzig und ihrem Intendanten Schirmer zugutehalten, nicht vor dem neuen Lockdown kapituliert zu haben. Die Frage bleibt offen, inwieweit diese Inszenierung in einer Komplettfassung überhaupt greifen würde, und ob das Bühnenbild von Norman Heinrich dann erweitert würde. Die Kostüme von Jennifer Knothe sind auch kein großer Wurf. Lohengrin, Telramund und der Heerrufer erscheinen in Straßenanzügen, König Heinrich ist ganz in blau gewandet, lediglich Ortrud wirkt in ihrem Samtkleid elegant. Elsa in einem an ein Tennisdress erinnerndes Kleid ist auch nicht gerade der Hingucker.

Sängerisch und musikalisch sind die zwei Stunden dagegen ein Hochgenuss.   Jennifer Holloway gibt die naive, unschuldige Elsa mit einem klaren Sopran, der in den Höhen Leuchtkraft besitzt, ohne zu vibrieren. Von den reinen, klar tragenden, leisen Tönen ihrer Traumerzählung zu Beginn bis hin zur Brautgemach-Szene, mit den wunderbar vom Lyrischen ins leicht Dramatische gesteigerten Phrasierungen. Michael Weinius legt die Partie des Lohengrin mit großem Heldengestus an. Sein kräftiges Fundament ist eine sichere Stütze für die Ausbrüche im großen Duett des Brautgemachs Höchstes Vertrau’n. Dabei entwickelt die Stimme, basierend auf einer warmen Mittellage mit leicht baritonalem Timbre die nötige Strahlkraft, die diese Partie verlangt. Die Gralserzählung geht Weinius sehr dramatisch an, was zu seiner unromantischen Rolle in diesem Kammerspiel gut passt. Stéphanie Müther, kurzfristig für die erkrankte Kathrin Göring eingesprungen, ist stimmlich und spielerisch stark präsent. Ihr hochdramatischer Sopran besticht mit wuchtigem und scharfem Furor in den Ausbrüchen, insbesondere in der Schlüsselszene der Partie: Entweihte Götter im zweiten Aufzug, wo sie zwischen den stilisierten Götterfiguren genau diese anruft. Ihr Ausdrucksrepertoire und die vor allem in der Mittellage variable Stimme skizziert diese Ortrud als Charakterstudie von großer Intrige und Heuchelei. Simon Neal gibt den Telramund mit dramatischem Bariton und entwickelt so einen souverän gestalteten Charakter, der zum Opfer von Ortruds List und Täuschung wird.  Genaue Artikulation ist auch bei ihm eine Selbstverständlichkeit, ebenso wie eine technisch sichere, variable Gestaltung einzelner Phrasen. Randall Jakobsh überzeugt als König Heinrich mit wuchtigem und gleichzeitig balsamischem Bass. Mathias Hausmann ist als Heerrufer mit schmeichelndem Heldenbariton, sicher gesetzten Tönen und markanten Ansagen eine exzellente Besetzung der Partie.

Der Chor der Oper Leipzig, eingestimmt von Thomas Eitler-de Lint, kann diesmal nicht wie gewohnt reüssieren, da die Übertragung und Einspielung per Lautsprecher so blechern daherkommt, dass es den musikalischen Gesamteindruck trübt. Dafür erklingt das Gewandhausorchester auf der Bühne unter Leitung von Ulf Schirmer besonders klar und brillant. Das Vorspiel zum ersten Aufzug erklingt filigran, ja, fast kammermusikalisch ertönt es von der Bühne, zart und innig die Motive Elsas, bis die Spannung immer weiter aufgebaut wird und das Fragemotiv drohend und schicksalhaft symphonisch erschallt, um dann wieder in fast sphärische Klänge zu transkribieren.  Schirmer baut immer wieder die großen symphonischen Momente auf, bis die Spannung sich explosionsartig löst.

Das Vorspiel zum dritten Aufzug erklingt dynamisch und kraftvoll, noch deutet nichts auf die schicksalhafte Wendung hin. Sauber intonieren die Bläser, und die Leitmotive werden scharf akzentuiert herausgearbeitet. Schirmer wechselt die Tempi, um besonders große Spannungsbögen zu erzeugen, und trägt dabei die Sänger förmlich durch die Partie. Eine musikalisch höchst ansprechende Darbietung.

Nach zwei Stunden senkt sich der Vorhang über eine in jeder Hinsicht einzigartige Vorstellung. Das Publikum, das sich im Übrigen in diesen zwei Stunden höchst diszipliniert verhalten hat, reagiert mit großem Jubel, und auch das Regieteam wird mit Applaus bedacht. Ein weiterer Schritt in Richtung „Wagner 2022“ ist gemacht, dann hoffentlich wieder unter „normalen“ Bedingungen. Die große Frage ist, ob dann der Lohengrin in einer kompletten Fassung präsentiert werden kann. Dem Werk und dem Publikum wäre es zu gönnen.

Andreas H. Hölscher