O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Tom Schulze

Aktuelle Aufführungen

Vollendet das ewige Werk

GÖTTERDÄMMERUNG
(Richard Wagner)

Besuch am
10. Juli 2022
(Premiere am 30. April 2016)

 

Oper Leipzig

Mit diesen Worten, voller Stolz und musikalisch untermalt mit dem Walhall-Motiv, verkündet im Rheingold Wotan seiner Gemahlin Fricka die Vollendung des Baus der Burg Walhall, wo die Götter für die Ewigkeit residieren sollen. Dieselben Worte darf man aber auch ohne falsches Pathos für den Leipziger Ring verwenden, der nun im Rahmen des Festivals Wagner22 an vier Abenden hintereinander über die Bühne gegangen ist. Die Premiere der Götterdämmerung vor gut sechs Jahren war auch gleichzeitig die Vollendung des ersten Leipziger Ring des Nibelungen seit vierzig Jahren. Zum Abschluss der Intendanz von Ulf Schirmer ist das Mammutprojekt Wagner22 mit der Aufführung von allen dreizehn Bühnenwerken Richard Wagners in chronologischer Reihenfolge, darunter den Ring an vier aufeinanderfolgenden Abenden eine logistische Meisterleistung aller Mitwirkenden der Oper Leipzig, auch und vor allem hinter den Kulissen, und eine ungeheure Kraftanstrengung. Schon vor Beginn der Aufführung ist die Spannung in der ausverkauften Leipziger Oper körperlich spürbar, und die vorrangigen Fragen für die Zuschauer aus aller Welt sind: Hat das Regieteam um Rosamund Gilmore sein Konzept weiterentwickelt, es sogar vollenden können? Was ist mit den mythischen Wesen, werden wir ihnen wieder begegnen? Was wird ihre Deutung des Endes, der Götterdämmerung sein? Verfall ins Chaos oder Hoffnung auf einen Neubeginn? Um es vorwegzunehmen, es gibt auf alle Fragen eine Antwort, die der einzelne Besucher für sich anders interpretieren mag, aber man darf sicher noch einmal Wotan zitieren, wenn man Wagners Ring des Nibelungen als ein Gesamtkunstwerk versteht: „Vollendet das ewige Werk.“

Rosamund Gilmore bleibt bei ihrem Konzept, Wagners Musik zu visualisieren und eine Geschichte zu erzählen, die nachhaltig ist und zum Nachdenken anregt. Die mythischen Wesen, die wir zum Teil schon aus den ersten drei Ring-Opern kennen, begegnen uns hier wie gute alte Bekannte. Das Pferd Grane, in der Walküre schon ein Schlüsselbild, wird hier noch mehr personifiziert, auch Dank der ausdrucksstarken Bühnenpräsenz von Ziv Frenkel. Grane ist mehr als nur ein Geschenk Brünnhildes an Siegfried. Es ist treuer Begleiter, Wächter und emotionaler Ausdruck seines Herren Siegfried. Das vielleicht bewegendste Bild im ganzen Ring ist die Szene, wenn Grane den toten Siegfried auf seinem Rücken zu den Klängen des Trauermarsches zu Gibichs Halle trägt. Hier verschmilzt die Symbiose aus Musik und erzählten Bildern zu einer visuell erlebbaren symphonischen Dichtung. Aber auch die anderen Wesen, seien es die Nornen-Schatten, die Wasserelemente des Rheins, das Gibichungen-Dienstpersonal oder die schon hinlänglich bekannten Raben Wotans, sie alle visualisieren Wort und Musik, geben der Geschichte eine neue Facette, ohne oberlehrerhaft den nichtwissenden Zuschauer den Ring erklären zu wollen. Großartig auch die Idee, die Göttererscheinungen auf die Bühne zu bringen. Seit dem Rheingold wissen wir, dass sie „ihrem Ende zu eilen“, wie Loge es trefflich formuliert hat. Und in der Walküre herrscht Krieg zwischen Wotan und seiner Gemahlin Fricka. Letztlich ist es dieser Ehezwist und Wotans fehlende Einsicht, was seine eigene Vertragstreue anbelangt, die das Ende der Götter schon frühzeitig beschließt. „Ein düstrer Tag dämmert den Göttern“ verkündet Erda schon im Rheingold, und es sind Wotans Worte an Brünnhilde in der Walküre, wenn er voller Verzweiflung prognostiziert: „nur eines will ich noch: das Ende …“ Und die Götter fürchten um ihr Ende. Obwohl keiner von ihnen mehr als Figur in der Götterdämmerung erscheint, geht es letztendlich um sie, um ihr Ende, und damit auch das Ende einer dekadenten Herrschaft. Gilmores Kunstgriff, mit Hilfe der Göttererscheinungen Wotan, Fricka, Freia, Froh und Donner als ängstlich beobachtende Gestalten, die auf ihr Ende warten, mehrfach kurz auf die Bühne zu bringen, ist nicht nur ein interessanter Regiekniff, es ist auch die immerwährende Mahnung, dass alles endlich ist, auch die Herrschaft der eigentlich unsterblichen Götter. Wenn am Schluss das Bühnenbild ineinander zerfällt, die Götter im wahrsten Sinne des Wortes untergehen, dann wird die Götterdämmerung wörtlich zitiert. Doch Gilmore erzählt nicht nur in fesselnden Bildern, sondern sie ordnet den Figuren auch eine dezidierte Rolle in diesem Gefüge zu, und bleibt damit ihrem bekannten Linienkonzept der ersten drei Werke treu.

Foto © Tom Schulze

Im Zentrum steht Hagen, Alberichs Sohn. Ein Antiheld, gefühlskalt und von Hass beseelt. Sein ausschließlicher Sinn ist es, den Ring, der unendliche Macht verheißt, von Siegfried zu gewinnen. Nicht für Alberich, sondern für sich. Hagen ist eine eigenständige Persönlichkeit, der in seinem strategischen Denken seinen Vater Alberich um Längen überragt und ein Meister der Manipulation ist. Seine Halbgeschwister Gunther und Gutrune, die Gibichungen, sind da nur schwache, willfährige Objekte. Die Gibichungen sind eine reiche, verwöhnte, dekadente, aber verweichlichte Gesellschaft, die von Hagen nur allzu leicht gelenkt werden kann. Gunther wirkt wie ein kokainsüchtiger Managertyp, der auf Entzug ist. Hypernervös, fahrig mit zwanghaftem Verhalten, wenn er sich dauernd durch die Haare fährt. Gutrune wirkt verklemmt, beziehungsunfähig, ohne eigene Meinung, komplett von Hagen beherrscht. Auch Siegfried wird sein Opfer mit Hilfe des Vergessenstrunks. Mit der gesponnenen Intrige, dass Siegfried zwar Brünnhilde für Gunther in dessen Gestalt bezwungen, aber letztendlich Brünnhildes Gatte ist und damit seine vermeintliche Verlobte Gutrune entehrt habe, rechtfertigt Hagen das Todesurteil gegen Siegfried. Ihm geht es aber nicht primär um den Tod Siegfrieds, er ist lediglich Mittel zum Zweck, den Ring zu erbeuten, den er vom lebenden Siegfried nicht gewinnen kann. Siegfried ist der Naturbursche, etwas naiv, auf seine Kraft und Stärke vertrauend, der eher das Gute im Menschen sieht und zu spät realisiert, welch furchtbarer Intrige er zum Opfer fällt. Brünnhilde ist nicht mehr die starke, unbezwingbare Walküre, sie hat den Wandel zur liebenden menschlichen Frau vollzogen, die sich betrogen fühlt, die auch Rachegelüste hat, um am Ende zu erkennen, dass ihr Opfer einem höheren Zwecke dient. Mit diesem klaren Duktus erzählt Gilmore die Geschichte zu Ende.

Waren die Bühnenbilder von Carl Friedrich Oberle in den ersten drei Werken noch in Zeitsprüngen verwandelt worden, so entsteht in der Götterdämmerung ein völlig neues Bild. Wir sind in der Jetztzeit angekommen. Die Halle der Gibichungen wirkt wie eine große moderne Atelierwohnung, wie man sie heute als Loft in umgebauten Fabrikhallen finden kann. Fünf große Säulen stehen im Zentrum, sie sind Pfeiler und Versteck oder Zutritt zur Halle gemeinsam. Am Schluss erfahren wir, dass die Zahl fünf hier eine besondere Bedeutung hat, denn die fünf Götter, als stumme, beobachtende Figuren dargestellt, werden am Ende mit jeweils einer Säule untergehen. Eine große Fensterfront öffnet den Blick auf den Rhein, und diese Front ist dank des grandiosen Lichtdesigns von Michael Röger mal Wasser, mal Erde, mal Feuer.  Rechts oben befindet sich ein offener Balkon, Brünnhildes geschützter Bereich, bevor Siegfried sie betrügt. Dieses Bühnenbild bleibt über alle drei Aufzüge unverändert bestehen, nur wenige Requisiten werden verändert, um die neuen Szenen darzustellen. Es sind alles offene Verwandlungen, und die Gibichungen-Bediensteten wie auch die anderen schon erwähnten mythischen Wesen fungieren nebenbei als dezente Bühnenarbeiter, die tänzerisch die wenigen Requisiten von der Bühne oder auf die Bühne bringen. Im Hintergrund erkennt man ein großes Bodenregal mit Überbleibseln aus den vergangenen drei Werken. Etwas Gold, Brünnhildes Brustpanzer, Helm und Speer, ein Paar Stiefel gefallener Helden und drei Totenschädel, wie ein Reliquienschrein mahnen diese Accessoires an die Macht und den Fluch des Ringes. Ein weißer Flügel auf der Bühne steht für den Reichtum der Gibichungen, wird aber zum Schluss der Aufbahrungsort des toten Siegfried und gleichzeitig Scheiterhaufen, in dem Brünnhilde, Siegfried und Grane verbrennen.

Die Kostüme von Nicola Reichert haben sich ebenfalls der Moderne angepasst, ohne einen ganz konkreten Zeitbezug zu haben. Tragen die Gibichungen eher stylische Glamourkleidung, wirken Brünnhilde und Siegfried in ihrer Arbeitskluft eher postkommunistischer Herkunft. Hagen und Alberich tragen die gleichen Outfits, während Hagens Mannen in ihren hellbraunen Uniformmänteln und Barretten eher britischen Soldaten der Nachkriegszeit ähneln, ohne dass damit eine politische Assoziation künstlich herbeigeführt wird. Hagen ist nicht nur ein Machtmensch, er führt seine Mannen militärisch, die in ihm und nicht in Gunther den Befehlshaber anerkennen. Die Nornen wirken in ihren schwarzen Gewändern elegant-düster, während die Rheintöchter ihre erotischen Kostüme aus dem Rheingold beibehalten haben. Bühnenbild, Kostüme und Lichtdesign ergeben aber einen klaren optischen Dreiklang, der visuell aufeinander abgestimmt ist. Fesselnd die Schlussszene, wenn die Bühne in rotes Licht getaucht, von oben große Stofftücher herabfallen, wie Feuerflammen, die alles verzehren, bis sich der Boden öffnet, die Säulen auseinanderbrechen und je zur Hälfte mit den Göttern sowie den toten Protagonisten im Boden versinken respektive in die Höhe gehoben werden. Die Rheintöchter haben den Ring vom toten Siegfried gezogen, verschwinden im tiefen Blau des Rheins, und auch Hagen, noch immer von der Gier nach Macht zerfressen, springt hinterher und verschwindet im Nichts. Es bleibt die Natur im Einklang mit der Musik, und die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Neuanfang, nach der Reinigung durch das Feuer und das Löschen des Weltenbrandes durch das Wasser.

Foto © Tom Schulze

Auch der vierte Ring-Abend besticht durch großartige Sängerdarsteller und durch eine ergreifende musikalische Darbietung des Gewandhausorchesters, auch wenn es bei den Sängern neben viel Licht auch etwas Schatten gibt. Lise Lindstroms Auftritt als Brünnhilde hat in der Rückschau etwas Zwiespältiges. Im ersten Aufzug wirken ihre dramatischen Höhen schrill, ihr letztes „Heil“ zu Siegfrieds Abschied auf dem Walkürenfelsen schmerzt in den Ohren, nur in der Mittellage klingt die Stimme akzeptabel. Sie hat die Höhen, die eine Brünnhilde braucht, sie müssten nur sauberer klingen. Diese unschöne Attitüde legt sie zwar im Verlaufe des Abends nicht komplett ab, doch von Aufzug zu Aufzug lässt das Schrille in den Höhen nach. Sie beherrscht die dramatischen Ausbrüche wie bei der Schwurszene, sie kann aber aufgrund ihrer angenehmen Mittellage auch in den Duetten mit Siegfried viel Weiblichkeit in die Stimme legen. Vielleicht war am Anfang noch etwas Nervosität im Spiel und in der Stimme, in der Schlussszene gibt sie dann eine grandios strahlende Brünnhilde ab, die mit leuchtendem Schlussgesang ihrem toten Siegfried ins Feuer folgt. Auch Stefan Vinke als Siegfried, der in Leipzig in den letzten zwanzig Jahren fast alle großen Heldentenorpartien gesungen hat, hat mit seiner Stimme im ersten Aufzug zu kämpfen. Ihm fehlt der leuchtende Stahl, der ihn sonst so auszeichnet. Doch auch er fängt sich im Laufe des Abends, konditionell ohne Mühen meistert er diese Partie, sein Tenor hat vor allem ein angenehmes Timbre in der Mittellage. Sein Schlussgesang und letztes Gedenken an Brünnhilde gestaltet er voll beseelter Innigkeit.

Taras Shtonda als Hagen ist auch stimmlich der grandiose Antiheld. Überzeugte er im Rheingold schon als stimmgewaltiger Fafner, so ist sein Hagen nochmals eine Steigerung. Sein schwarzer, dröhnender und furchteinflößender Bass ist idealtypisch für diese Rolle, und wenn er seine Mannen im zweiten Aufzug ruft oder am Schluss gegenüber Gutrune verächtlich ausruft, dass er, Hagen, Siegfried erschlagen habe, dann liegt in seinem stimmlichen Ausdruck eine Stärke und gleichzeitig eine Gefühlskälte, die ihresgleichen sucht. Nur sein Spiel wirkt etwas eindimensional, da hätte er noch mehr aus der Rolle machen können.

Thomas Pursio, der im Siegfried den Alberich gab, setzt mit der Rolle des Gunther stimmlich und spielerisch einen Akzent. Sein Bariton ist angenehm timbriert, aber er lässt alle Facetten von Schwäche, Angst und vorgespielter Stärke zu und ist damit der ideale Kontrapunkt zu Vinkes heldenhaftem Tenor und Shtondas schwarzem Bass. Emily Magees Auftritt wirft auch Fragezeichen auf. Ihre großen Zeiten als Elsa im Lohengrin und Eva in den Meistersingern liegen nun auch schon lange Zeit zurück. Sie ist kein jugendlich-dramatischer Sopran mehr, und sie ist definitiv keine Gutrune. Ihr Ausdruck mit großer Textunverständlichkeit geht in das Hochdramatische, aber ohne Schönklang. Eine enttäuschende Leistung. Dass sie in der kommenden Spielzeit an der Oper Leipzig als Elsa besetzt wird, ist etwas unverständlich. Ganz anders dagegen Kathrin Göring. Als Fricka im Rheingold und in der Walküre hat sie an der Oper Leipzig bewiesen, dass sie in den letzten Jahren zu einer der führenden Mezzosopranistinnen im Wagner-Fach herangereift ist. In der Götterdämmerung begeistert sie vor allem durch ihre intelligente Stimmführung und emotionale Interpretation der Rolle der Waltraute. Wie sie innig, voller Verzweiflung versucht, Brünnhilde zu überreden, ihr den Ring zu geben, um den Untergang Walhalls zu vermeiden, das geht unter die Haut. Ihre teils lyrische, teils dramatische Waltrauten-Erzählung ist sicher ein Höhepunkt des Abends. Werner Van Mechelen hat nur einen Kurzauftritt als Alberich, doch den gestaltet er mit derselben Intensität und Boshaftigkeit, wie es ihm mit dieser Figur schon im Rheingold gelungen ist. Christiane Döcker und Karin Lovelius eröffnen gemeinsam mit Magdalena Hinterdobler als Nornen den Gesangsreigen, der durch Olga Jelinková als Woglinde, Sandra Maxheimer als Wellgunde und Sandra Janke als Flosshilde mit ausdrucksstarkem Gesang und engagiertem Spiel abgerundet wird. Beiden Trios ist eine klare Diktion und eine ausgeprägte Stimmenharmonie gemein.

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Auch der Herrenchor der Oper Leipzig, unterstützt von einigen wenigen Damen, darf an diesem Abend mit dem Auftritt als Hagens Mannen im zweiten und dritten Aufzug sein umfangreiches stimmliches Repertoire zum Einsatz bringen. Kraftvoll, ohne zu dröhnen, und lyrisch, ohne zu säuseln, bildet der Chor, wieder hervorragend eingestimmt von Thomas Eitler-de Lint, eine musikalische Säule an diesem Abend. Ulf Schirmer am Pult des Gewandhausorchesters, der an diesem Abend seine letzte Ring-Vorstellung in Leipzig leitet, zeigt wieder einmal alle Facetten seines enormen Könnens und macht aus dem Abend ein Klangereignis, wie man es auch in Bayreuth nur noch ganz selten erlebt. Was er an Farben, an Intensität, an Wohlklang, an Ausdruck aus diesem Orchester herausholt, ist mehr als beeindruckend. Schon im Nornen- Vorspiel erklingen die ersten Töne scharf und unheilvoll, als Vorboten des bevorstehenden Endes der Götter. Großartig der musikalische Übergang von der ersten zur zweiten Szene, wenn es plötzlich emotional und leidenschaftlich wird. Litt das Dirigat in früheren Aufführungen von Schirmer öfter darunter, dass er zu laut dirigierte oder die Sänger überdeckte, so hat er das komplett abgelegt. Gerade die Sänger begleitet er hochsensibel, immer darauf bedacht, deren Gesang in den Vordergrund zu stellen, dienlich zu begleiten und zu tragen. Aber Schirmer ist auch ein leidenschaftlicher und emotionaler Dirigent, der an den reinen Orchesterstellen wie ein Reiter die Zügel zurücknimmt und seinem Orchester die Sporen gibt. Sei es in der Szene, wenn Hagen seine Mannen ruft, unterstützt durch drei extra angefertigte Stierhörner auf der Bühne, oder Siegfrieds Rheinfahrt im ersten Aufzug. Doch der grandiose musikalische Höhepunkt ist sicher das große Finale. Zunächst begleitet er den sterbenden Siegfried im Piano, um sich dann beim Trauermarsch immer mehr ins Forte hochzuschwingen. Dieser Trauermarsch ist voller Emotion, Spannung und Trauer, ohne jedoch in ein übersteigertes Pathos zu verfallen. Zusammen mit dem Bild von Grane, das den toten Siegfried auf seinem Rücken trägt, ist dieser Moment der Höhepunkt des Abends, voller Gänsehaut und Gefühl. Aber Schirmer kostet die Emotion nur kurz aus, springt wieder in die Realität der vorletzten Szene, dem Kampf um den Ring als Beutegut, bevor mit Brünnhildens Schlussgesang und dem orchestralen Finale der Götterdämmerung der letzte musikalische Höhepunkt erfolgt. Als der Weltenbrand durch den über die Ufer tretenden Rhein gelöscht wird, bevor die Musik sich beruhigt und die Hoffnung auf eine neue Weltenordnung entstehen kann, befindet sich in der Partitur eine Fermate, eine kleine Pause, die aber einen Rieseneffekt hat. Viele Dirigenten gehen darüber hinweg, aber Schirmer macht aus dieser Fermate eine über fünf Sekunden dauernde Pause. Diese Stille, eine gefühlte Ewigkeit, gibt Zeit und Kraft, um Atem zu schöpfen, um den Effekt des Wandels von der Zerstörung zur Erneuerung aufzuzeigen. Diese Pause und der Übergang zur beruhigten Orchestermusik, bei der am Schluss wieder das Rheingoldmotiv erklingt, steht symbolisch für die Erlösung, aber auch für die Vollendung des Gesamtkunstwerkes. Schirmer hat diesen Schluss auf beeindruckende künstlerische Art gelöst. Das Orchester folgt seinem präzisen Schlag, seinen Tempiwechseln und seinen Betonungen.

Als sich nach dem Applaus für die Solisten der Vorhang wieder öffnet, steht das komplette Gewandhausorchester mit Ulf Schirmer auf der Bühne. Unisono erhebt sich das komplette Publikum von seinen Sitzen und feiert den scheidenden GMD und seine Musiker mit großem Jubel und stehenden Ovationen. Aber auch die Sänger werden umjubelt, allen voran Lise Lindstrom, Stefan Vinke, Taras Shtonda und Kathrin Göring. Bleibt noch eine letzte Herausforderung, der endgültige Abschied von Schirmer am kommenden Donnerstag mit dem Parsifal, dem letzten Werk Richard Wagners und damit auch das Finale von Wagner22. Die Vorfreude ist jetzt schon groß.

Andreas H. Hölscher