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GIULIO CESARE IN EGITTO
(Georg Friedrich Händel)
Besuch am
20. April 2023
(Premiere am 1. April 2023)
Das Opernhaus Leipzig ist nur auf Umwegen zu erreichen. Aufgeschütteter Sand für mehrere Beachvolleyballfelder bis unmittelbar vor der Freitreppe des Hauses lässt nur einen schmalen Zugang offen. Giulio Cesare in Egitto ist auf der Front zu lesen.
Für einen Moment kommen ärgerliche Zweifel auf. Sind die Beachvolleyballfelder, begleitet von dumpf monotonen, elektronischen Beats, schon der Prolog, mit dem solcherart das Regietheater seit Jahren die Bühnen überschwemmt? Spielt Giulio Cesare Volleyball: Veni, vidi, vici?
Glücklicherweise kehrt sich diese Befürchtung ins komplette Gegenteil. Nach dem Hindernislauf um die Absperrgitter im Opernhaus angekommen, eröffnet mit den ersten Takten von Georg Friedrich Händels Oper Giulio Cesare in Egitto ein groß angelegtes wie großartig inszeniertes Opernabenteuer. Damiano Michielettos Regie schafft es in faszinierender Weise, ein barockes Zeitgemälde mit dem Hier und Jetzt zu verbinden. Die Inszenierung besticht mit meditativ poetischer Leichtigkeit, die das kriegerisch Kämpferische, das intrigant Bösartige nicht obsiegen lässt.
Zumindest für einige Momente ist das Stundenglas angehalten. Liebe könnte in Schönheit, die Welt in Harmonie befriedet sein. Eine Illusion, wie Giulio Cesare früh erkennt: Der Tod wartet an der nächsten Ecke auf seine Stunde.
Giulio Cesares frühe Todesahnung – Alma del gran Pompeo – ist in Michielettos Inszenierung der Resonanzraum, in dem der Raum selbst sowie die Zeit aufgehoben scheinen. Paolo Fantin hat dafür eine kongenial inspirierte Bühne gebaut. Ein weißer, schiefwinkliger Raum funktioniert als historisch wie zeitgeistig konnotierte Spielebene. Immer wieder wird die schiefe Ecke nach oben gezogen. Es öffnet sich eine dunkle, mythologisch aufgeladene Zwischenebene. Das Reich der Götter, die das Handeln der Menschen in der Welt bestimmen.
In ihr wandeln drei Parzen, die den roten Faden des Lebens halten, der jederzeit durchschnitten werden kann. „Sie werden für Cesare zu einer Art Obsession“, sagt Michieletto. Die beinahe nackten, nur in einen hautfarbenen, durchsichtigen Gazestoff eingehüllten Parzen choreografieren in langsam bedächtigem, gebücktem Schreiten den Takt von Mord und Tod sowie den des nur vorläufigen Happy Ends von Cesare und Cleopatra.
Eindrucksvolle, dramaturgisch konsequente Bildmomente, abgestimmt mit ästhetischem Feingefühl, signalisieren die Parzen mit Waage, Stundenglas und Schere einen sich dem Schicksal beugenden Fortgang. Mit dem Geist des getöteten Pompeo, der als schattenafter Mahner durch die Szenen schreitet, entwickelt die Inszenierung einen signifikanten Reflexionspunkt des begrenzten Lebens. Von vielen kreativ bestechenden Regieeinfällen Michielettos beeindruckt auf bildmächtige Art insbesondere jener, wenn Pompeo seine Urne entleert, sich gleichzeitig im Schnürboden eine Luke öffnet und aus ihr ein verdoppelter Ascheregen die Bühne überschüttet.
Die mehr als drei Stunden der Aufführung besitzen eine Leichtigkeit, die durch einen magisch mythologischen, mitunter geradezu opulenten Rausch von Gesang, Orchesterklang und Bildern getragen wird. Assoziative Zitate aus der Kunstgeschichte – die Parzen schreiten, als wären sie aus Arnold Böcklins Gemälde Die Toteninsel entstiegen, wie sie in der Maskierung der Cornelia mit Tiermasken an Masques von Max Ernst erinnern – sind mehr als nur Ergänzungen. Sie zeichnen wesentlich mit an Michielettos Kosmos Giulio Cesare in Egitto.
Der rote Parzen-Faden tritt aus dem mythischen Dunkel des sich öffnenden Zwischenraums ins Offene der gesamten Bühne. Ein aus roten Fäden gewirktes Netz spannt sich über die von Fantin zu einer in Guckkastenperspektive verkleinerten Breitwandbühne des Opernhauses. In der verspiegelten Bühnenrückwand verdoppeln sich nicht nur die Protagonisten des Spiels wie vorher schon auf den weißen Wänden in Schattengestalten. Ebenso spiegelt sich in ihr Dirigent Rúben Dubrovsky und baut damit eine optische Brücke in den Zuschauerraum. Das Operngeschehen, dramatisiert im Libretto von Nicola Francesco Haym nach Francesco Bussani, ist im Heute angekommen.
Aus dem erhöhten Orchestergraben ragt der Hals der Theorbe wie ein Fixpunkt zwischen dem barock instrumentierten Gewandhausorchester und Dubrovsky heraus. Dubrovsky spürt dem barocken Händel–Klang mit viel Sinnlichkeit nach. Nicht das Virtuose ist ihm wichtig, sondern es geht ihm immer um die Musik, die das Drama umkreist. Solistische Instrumentierungen des Horns von Bernhard Krug in Cesares Arie Va tacito oder die Violine von Andreas Buschatz im Duett von Cesare und Cleopatra klangmalen zum stimmungsvoll anschwellenden Orchester-Tutti.
Die Kostüme, sowohl Abendanzug als auch moderne Alltagskleidung wie barock verspielte Kleider stammen von Agostino Cavalca. Eine Hör- und Augenweide sind die bis in die Nebenrollen besetzen Solisten. Sie sind eine unglaublich verlässliche, stimmlich hoch belastbare, künstlerische Grundlage dieser in allen Belangen stimmigen, überzeugenden Inszenierung, die in Leipzig in Kooperation mit der Opéra national de Montpellier und Théâtre du Capitole Toulouse zu bewundern ist.
Michielettos Verpflichtung der Countertenöre Juriy Mynenko, ein Cesare, der in seiner Zerrissenheit zwischen Kriegsrecht und Liebe das Diktatorische zurückdrängt, ihn in seiner Güte und Liebenswürdigkeit zeigt, und Rémy Brés, der als schwadronierender Tolomeo machtbewusst mit dümmlich gefährlicher Geilheit einen gegensätzlichen Charakter zeichnet, entpuppt sich als eine Glanztat. Selten, dass mit Stimme und Spiel in einer charaktervollen Balance zwei so unterschiedliche Typisierungen gemeinsam eine Inszenierung tragen.
Ulrike Schneider gibt der durch Tolomeos Mord an ihrem Ehemann Pompeo zur Witwe gemachten Cornelia und den dadurch ausgesetzten sexuell erotisch Begierden des Mörders wie seines brutalen Vasallen Achilla, Franz Xaver Schlechts Bariton verkörpert sowohl das hinterhältig Schmeichelnde wie das unverborgen sich entfesselnde Brutale, ein widerständiges Selbstbewusstsein. Schneiders Mezzosopran durchmisst die Breite von aufgehelltem Alt bis zu dramatisch markanten Sopranangrenzungen.
Sesto, der Sohn Cornelias, hält mit Kathrin Görings Mezzosopran die kommunikative Höhe mit seiner Mutter Cornelia. Mehr noch ist die Sängerin eine Souveränin mit Stimme und Spiel in den rollenimmanenten Wandlungen des Sesto.
Um Olga Jelinková als Cleopatra zu beschreiben, kommt man nicht umhin, sie in ihrem nonchalant lässigen, erotisch lasziven wie kindlich naiv gestimmten Spiel mit den filmischen Heldinnen Elizabeth Taylor und Vivien Leigh in den Blick zu nehmen. Hält ihr Spiel jedem Vergleich mühelos stand, schillert und schimmert ihr silbriger Sopran klangfrisch in einer eigenen Liga. Ihre Arie Pangero, in der sie ihren Abschied von der Welt tränenreich beklagt, wenn ihr die Götter nicht helfen werden, ist eine Lektion von Gesangskunst nach Ausdruck und Stil. So jemandes Bitte können sich die Götter nicht verweigern. Wenn auch nur für eine kurze Frist.
Im Duett mit Mynenko geben die beiden dieser Hoffnung mit wunderbarem Timbre Ausdruck. Gleichzeitig wissen sie um ihre Endlichkeit. Sie löschen das Kerzenlicht. Ein großartiger, in seiner gesamten Stimmigkeit nicht genug zu lobender Abend wird vom Publikum mit stürmischem Beifall gefeiert.
Vor dem Opernhaus liegen die Beachvolleyballfelder verlassen im Dunkel der Nacht. Giulio Cesare: „Veni, vidi, vici!“
Peter E. Rytz