O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Kurze Leidenschaft

CARMEN
(Georges Bizet)

Gesehen am
21. Mai 2021
(Premiere/Stream)

 

Oper Leipzig

Die Oper Carmen von Georges Bizet zählt zu den meistgespielten Opern weltweit, und das nicht nur an den ganz großen Häusern. Es ist die eingängige, manchmal folkloristisch wirkende Musik mit ihren großen lyrischen und dramatischen Passagen, die uns die Oper so nahe bringt.  Die Ouvertüre ist fast schon eine eigene Marke, so hoch ist ihr Wiedererkennungswert. Carmen hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Es ist das ewige Spiel um Liebe und Eifersucht, um Schuldzuweisungen und Verletzbarkeit, erotische Fantasien, um Ehre und Stolz, alles Themen, die auch in der heutigen Zeit eine wichtige Rolle spielen. Und nicht zuletzt geht es auch um Emanzipation. Nicht unbedingt nur um die weibliche, sondern um das Erlangen von Eigenständigkeit an sich. Und deshalb stellt sich bei jeder Neuninszenierung die Frage, wie geht das Konzept des Regisseurs auf?

Die australische Regisseurin Lindy Hume, die an der Oper Leipzig bereits Don Pasquale und La Cenerentola inszenierte, hatte am 30. November 2018 mit einer aufsehenerregenden Neuinszenierung dieses Werkes für Gesprächsstoff gesorgt. Hume sah die Carmen nicht als männermordenden Vamp, als der sie oft dargestellt wird, sondern als selbstbestimmte Frau. Sie zog Parallelen zwischen Carmen und Don Giovanni. Beide Figuren sind in ihrer Unabhängigkeit ihrer Zeit voraus und heißen den Tod als letzte Bekundung ihres unbedingten Freiheitswillens willkommen. Das war Humes Annäherung an dieses Sujet in ihrem Regiekonzept. Carmen vereint und überhöht gleichzeitig die Eigenschaften, die eine Frau besitzen kann. Sie ist leidenschaftlich bis zur Selbstaufgabe, dreht sinnlich im roten Bereich und erreicht dadurch eine hohe emotionale und gefährliche Fallhöhe. Carmens größter Drang ist es dabei, ihre Freiheit zu erlangen oder zu bewahren, sich unabhängig von den anderen zu machen. Selbstbestimmung   und   Emanzipation   stehen im   Mittelpunkt   ihres Handelns.  Die Dreiecksbeziehung zu Don José und Escamillo ist daher nur die logische Konsequenz aus Carmens Persönlichkeitsstruktur. Für Carmen ist das höchste Gut ihre Freiheit.  Niemals will sie sich den Zwängen der Gesellschaft unterwerfen. Der angepasste Sergeant Don José ist fasziniert von dieser Frau, die sich einfach nimmt, was sie will. Er gibt alles für sie auf, seine Jugendliebe Micaëla, in die er mehr die Projektion seiner Mutter sieht, seine Stellung beim Militär und schließt sich sogar einer Schmugglerbande an. Er ist besessen von Carmen, die schon bald das Interesse an ihm verliert und dem todesmutigen Stierkämpfer Escamillo verfällt.  José ist verzweifelt und will Carmen zurück, um jeden Preis. Dabei ist er Opfer seiner eigenen Dämonen, die ihn beherrschen und ihn immer wieder zu gewalttätigen Ausbrüchen verleiten. Viel zu spät realisiert er, dass er von Carmen nur als Mittel zum Zweck gebraucht wurde.

In Leipzig darf derzeit noch nicht vor Publikum gespielt werden, und so entschloss man sich, eine verkürzte Fassung dieser Oper von etwa 90 Minuten ohne Pause als Stream zu spielen, natürlich mit allen musikalischen Highlights. Matthias Foremny, der Erste Gastdirigent an der Oper Leipzig, erläutert zu Beginn des Streams kurz die Rahmenbedingungen der Aufführung und spricht davon, aus den vier Akten der Oper einen großen Akt zu spielen. Und das ist die große Gefahr bei gerade so populären Werken wie Carmen: Dass man einfach nur die wichtigsten Nummern aneinanderreiht. Das Werk wird nun in einer halbszenischen Aufführung „nach einer Inszenierung von Lindy Hume“ gespielt, die dem historischen Kontext entsprechenden Kostüme und die wenigen Requisiten stammen von Dan Potra, ebenfalls aus der ursprünglichen Inszenierung. Doch wie schon zuvor bei den gekürzten Fassungen von Lohengrin und Il Trovatore an der Oper Leipzig fehlt es den Werken an dem stringenten roten Faden, an den emotionalen Interaktionen, die all diese Werke ausmachen.

Man muss es so sagen: Auch diese verkürzte Carmen mit einer angedeuteten Regie kann nur Stückwerk bleiben. Hume bot in ihrer ursprünglichen Inszenierung Assoziationsflächen für das Publikum an, ohne dabei unverbindlich zu werden. Sie vermied die typisch spanischen Klischees, ihre Personenregie war von eher subtiler Charaktersprache geprägt.  Auf der einen Seite die leidenschaftliche, sehr weibliche Carmen aus einer sozialen Unterschicht, die nach Freiheit und Anerkennung giert.  Auf der anderen Seite Don José, der dieser Frau verfällt und für sie sämtliche Werte, die ihm einmal wichtig waren, über Bord wirft. Escamillo andererseits, der maskuline Star, der Carmen das Gefühl vermittelt, endlich ihr Ziel erreicht zu haben. Und dazwischen Micaëla, als weiblicher Antipode zur Carmen, die aufgrund ihrer Sozialisation ihre eigenen Grenzen nicht zu überwinden mag und deshalb keine wirkliche Rivalin für Carmen ist. Hume ging von der Rezitativfassung aus, so dass es so gut wie keine langwierigen Dialoge gab. Das vermied Spannungslöcher und verdichtete die Handlung, die sich ganz auf die Musik und das gesungene Wort konzentrierte. Diese insgesamt psychologisch spannend aufgearbeitete Personenregie kommt in der hier gezeigten Kurzfassung, wenn überhaupt, nur im Ansatz zum Tragen. Hinzu kommt, dass man aufgrund der Hygienevorschriften auf Massenszenen komplett verzichten musste, die ein so wichtiger Teil der Oper sind. Der Chor singt nur wenige Stellen von der Seitenbühne, auf den Kinderchor zu Beginn der Oper wird ganz verzichtet.

Wenn dann der Wachwechsel am Anfang der Oper lediglich durch zwei Soldaten durchgeführt wird, dann hat die Szenerie schon was Abstruses. Da sollte man besser ganz auf solche Szenen verzichten. Gelungen dafür der erste Auftritt von Carmen, die von einem Seitenpodest stolz und grazil auf die Bühne kommt. Und auch der Auftritt des Toreros Escamillo hat was Besonderes, wie es nur ein Stream zeigen kann, denn er singt aus der Intendantenloge, während Carmen unten auf der Bühne zu ihm hinaufschaut. Da eine Kamera direkt hinter dem Sänger postiert ist, sieht und hört man Teile des Torero-Liedes aus dem Blickwinkel Escamillos. Dass der Schluss mit einem Kopfschuss Carmens endet, spricht die lebensnahe, reale Darstellung des Eifersuchtsdramas, während die Szene im Original durch cineastische Effekte noch wesentlich effektvoller zur Geltung kommt. Das ist aber auch schon das einzig Aufregende an dieser „Teilinszenierung“, die im Großen und Ganzen fad und eintönig daherkommt. Wären da nicht einige Sänger, deren musikalische Darbietung wieder alles rausreißen, könnte man auch einfach mit geschlossenen Augen zuhören und verpasste nicht viel.

Allen voran Kathrin Göring in der Titelpartie. Was hat die Sängerin in den zurückliegenden zwanzig Jahren ihrer Zugehörigkeit zur Leipziger Oper für eine fulminante Entwicklung und Reife, sowohl im Gesang als auch in der Darstellung, durchgemacht. Von kleinen Nebenrollen bis hin zu den führenden Wagner- und Strauss-Partien im Mezzosopran-Fach. Und nun, im reifen Alter einer Marschallin, singt und spielt sie die Carmen, die ja gemäß dem Libretto ein junges Mädchen sein soll. Doch wer Göhring in dieser Fassung als Carmen sieht und hört, der darf zurecht begeistert sein. Hatte in der Premiere 2018 die junge Wallis Giunta noch für Furore gesorgt, ist die Carmen 2021 der Kathrin Göring eine sinnliche und reife Frau, die genau weiß, was sie will. Sie gibt die Carmen sängerisch und darstellerisch mit leidenschaftlichem Spiel. Die Habanera singt sie mit lasziver Stimme, und ihr warmer Mezzosopran hat genau die erotische Tiefe in der Stimme, die für eine Carmen so prägnant ist, und in den dramatischen Ausbrüchen verfügt sie immer noch über leuchtende Sopranhöhen. Ihre sinnlich-erotische Darstellung wäre an diesem Abend zu Recht umjubelt worden, wenn denn Publikum im Saale erlaubt gewesen wäre.

Enttäuschend dagegen Amadi Lagha in der Partie des Don José. Ihm fehlt die Leidenschaft im Spiel, dazu kommen gesangliche Defizite. Der Stimme fehlen der tenorale Schmelz und die Farben, die Stimmführung ist eng und insgesamt langweilig. Der Blumenarie fehlt die lyrische Schönheit, die Stimme klingt rau und kehlig und unsicherer in den Höhen. Die Veränderung Don Josés vom einfachen, verliebten Soldaten zum aggressiven, psychotischen Stalker kann Lagha nur ansatzweise umsetzen. Dario Solari überzeugt als maskuliner Escamillo mit Testosteron getränktem Bariton und physischer Präsenz. Sein Auftrittslied braucht den Vergleich zu großen Namen nicht scheuen.

Magdalena Hinterdobler gefällt als Micaëla mit lyrischem, fast schon jugendlich-dramatischem Sopran in den strahlenden Höhen und mit dezentem Spiel. Ihre große Arie Je dis que rien ne m‘ épouvante singt sie innig und empathisch. Die Nebenrollen mit Christiane Döcker als Mercédès und Jennifer Zein als Frasquita sind gut besetzt. Der Chor der Oper Leipzig, einstudiert von Thomas Eitler-de Lint, ist stimmlich trotz aller Einschränkungen und Kürzungen gut präsent. Das Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung von Matthias Foremny spielt einen intensiven und zugkräftigen Bizet. Schon das bekannte Vorspiel ist flott und eingängig im ersten Teil, im zweiten Teil düster und melancholisch. Die Tempi wechseln, es flirrt und brodelt atmosphärisch auf der Bühne. Werden die Orchestersoli durchaus prägnant und gerade hinaus gespielt, so ist die Begleitung sehr sängerfreundlich.

Auf der Homepage der Oper Leipzig findet sich parallel eine Stückeinführung als Audiobeitrag durch die Dramaturgin Nele Winter. Und wie schon vor kurzem bei der Premiere der Gräfin Mariza an der Musikalischen Komödie der Oper Leipzig wird auch hier der Hinweis auf die rassistische und negative Konnotation des Begriffs „Zigeuner“ hingewiesen. Während man bei der Mariza deshalb einfach den Text abänderte, ist das mit dem französischen Wort „Zingara“ etwas schwieriger, weshalb man sich entschieden hat, in den deutschen Untertiteln den Begriff zwar mit „Zigeuner“ oder „Zigeunerin“ zu übersetzen, diesen aber dafür mit Anführungszeichen zu versetzen. Das ist politisch korrekt, aber in der Häufung doch etwas ungewöhnlich. Wenn der Oper Leipzig an diesem Thema so viel gelegen ist, warum macht sie dann nicht zum Beispiel ein Symposium zum Thema „Rassismus in Oper und Operette“, da müsste man nämlich eine ganze Menge an Werken unter die Lupe nehmen und nicht nur die, in denen der Begriff „Zigeuner“ vorkommt.

Als Fazit bleibt, dass die neunzig Minuten musikalisch und sängerisch mit Ausnahme des Don José absolut hörenswert sind, doch durch die rudimentäre Fassung der Inszenierung von Lindy Hume nicht viel übrig geblieben ist und die szenische Einrichtung von Luise Rabsch unter den starken Einschränkungen mit dem Gewandhausorchester auf der Bühne kaum zur Geltung kommt. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Carmen irgendwann wieder in der Komplettfassung und der aktuellen Inszenierung von Lindy Hume vor Publikum gespielt werden kann, aber bitte nur mit Kathrin Göring in der Titelrolle und einem ebenbürtigen Don José.

Andreas H. Hölscher