O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Manuel Kraus

Aktuelle Aufführungen

Geste der Menschlichkeit

PIPPO POLLINA
(Pippo Pollina)

Besuch am
11. Juli 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Plassenburg Open-Air, Kulmbach

Ganz unprätentiös eilt der europaweit bekannte, italienische Cantautore Pippo Pollina im unscheinbaren Sakko auf die Bühne, setzt sich ans Piano und beginnt zu singen. Aspettando che sia mattino – In Erwartung des Morgens – ist das titelgebende Stück seines ersten, 1986 produzierten Albums: „Freund der gefundenen Tage, am Ufer unseres Elends, im Dunkel dieses Zimmers erkenne ich deine Sterne“. Und weiter „Freund ferner Tage, so viele warten noch auf uns, ich will sie zählen, um mich an alle zu erinnern.“

„Spricht jemand Italienisch?“, fragt Pollina. Wer die Texte versteht, kann schon diesen im Sinne des Corona-Zeitalters interpretieren: Veranstaltet man Konzerte oder nicht? Wie dürfen sie organisiert sein, für wie viele Zuschauer? Das Publikum, wird es da sein oder nicht? Dazu Regenwetter seit Wochen. „Sind wir hier in Versailles?“, fragt Pollina im wunderschönen Innenhof der Plassenburg in Kulmbach, die um 1135 entstand.

Dann diese Geste: Nach dem letzten Ton des ersten Liedes steht Pollina wortlos auf und kniet sich an den vorderen Bühnenrand. Sein Blick schweift ruhig über die Zuschauer – von vorne nach hinten, von rechts nach links – nein, ausverkauft ist es nicht. Es herrscht fast atemlose Stille, Verwunderung: „Wie wichtig können die Gäste sein?“, fragt er. Im März vergangenen Jahres hat er das letzte Konzert in Wien gespielt – mit seinen deutschen Freunden Werner Schmidtbauer und Martin Kälberer, mit denen er auf der Tour „Süden“ mühelos die 22.000 Zuschauer fassende Arena di Verona füllte. Die letzten Konzerte von „Süden II“ durften noch nicht einmal mehr stattfinden.

Der Mittelpunkt des Abends, ein Italiener, der in der Schweiz lebt und Deutschland besser kennt als die meisten Deutschen – weil er seit mehr als 30 Jahren auf allen Straßen, kleinen und großen Bühnen unterwegs ist – geht vor seinem Publikum auf die Knie. Er weiß, was er ihm zu verdanken hat. Er erinnert auch daran, wofür der Kniefall in den USA steht: „Ein Symbol gegen Rassismus. Es war bizarr zu beobachten, wie sich in der Fußball-Europa-Meisterschaft ganze Mannschaften weigerten, auf die Knie zu gehen. Dabei ist es eine rein menschliche Position, keine politische“, erklärt er bestimmt.

Applaus brandet auf. Kein anderes Lied könnte folgen als A mani basse – Die Hände tief – eine Hommage an den Boxer Muhammad Ali, den Pollina schon als Kind verehrte. Ali hatte sich unbeirrt in einer Welt der Rassentrennung für Gleichberechtigung und Frieden engagiert, auch, wenn es ihm Nachteile brachte, als er zum Beispiel den Kriegsdienst in Vietnam verweigerte. Der Song stammt von Pollinas jüngstem Album Il sole che verra – Die Sonne, die kommen wird. Pollina trug es bereits in den schönsten Spielstätten Europas vor, begleitet von einer mehrköpfigen Band, untermalt von Videoausschnitten. Diesmal gibt es kein Film-Spektakel, kein Hallenstadion mit 12.000 Plätzen. Es wird deutlich, wie wenig Pollina selbst braucht, wie unabhängig er stets blieb.

Foto © Manuel Kraus

„Alles spricht gegen dieses Konzert“, sagt er. Aber: „Wir sind da und wollen wieder anfangen!“ Eine kurze, knackige Tour hat er zusammengestellt: 25 Termine in 27 Tagen, davon fünf in der Schweiz, das Schlusskonzert in Italien und alle anderen in Deutschland. Ob er die Bühne vermisst habe? „Nein“, sagt er, und schüttelt amüsiert den Kopf. Etwas zu tun findet er immer: Er hat ein neues Album produziert und seinen ersten Roman geschrieben, die beide 2022 erscheinen sollen. In der Pandemiepause unterhielt er sein Publikum mit einem einzigen, kosten­pflichtigen Streaming-Konzert aus seinem Schweizer Studio, das international großen Zuspruch fand.

Da sitzt man mit einer Maske, aber bald hört und fühlt sich alles an wie immer: Die Musik strömt von der Bühne und trifft direkt ins Herz, umhüllt den Körper wie ein warmes, lange vermisstes Bad in der Wanne. Pollina singt stimmgewaltig wie eh und je. Er spricht weniger auf der Bühne als sonst, der Fokus liegt auf der Musik. Er wechselt vom Piano an die Gitarre und wieder zurück, begleitet von Roberto Petroli, seinem langjährigen musikalischen Weggefährten, der die Klarinetten und Saxofone meisterhaft spielt und die Intensität und Wirkung der Musik Pollinas noch vervielfacht. Der warme Klang der Instrumente ergänzt Pollinas volles, dunkles Timbre großartig.

Dieses „Best Of“-Programm bietet einige Perlen, die sehr rhythmusbetont sind, darunter Bossa in Viaggio – Bossa auf der Reise – oder Sotto la ruota – Unterm Rad – mit einem wunderbaren Solo von Petroli am Saxofon. Finnegans Wake hat Pollina 1999 mit dem bekannten italienischen Cantautore Franco Battiato aufgenommen und ihm zu Ehren nach seinem Tod Mitte Mai dieses Jahres nun im Programm integriert. Vor sechs Jahren sangen sie den Titel live gemeinsam im Züricher Hallenstadion. „Stellen Sie sich die vielen Gitarren, Schlagzeuge und Bässe einfach vor“, rät Pollina – und rockt das Duett bravourös auch einstimmig – genauso wie Terra, das er seit Konstantin Weckers Uferlos-Tour, die er 1993 begleitete, zweisprachig meist mit ihm interpretiert.

Pollinas Lieder wirken sowohl auf musikalischer als auch auf inhaltlicher Ebene zeitlos, egal, in welcher Stilrichtung er sich einst bewegte und welche noch so aktuelle Nachricht er bearbeitet. Das Schlaflied Sambadio strahlt unbeirrt, obwohl es den Bosnienkrieg 1992 behandelt. Im 1986 entstandenen Camminando geht es um einen Fabrikunfall, bei dem Gift in den Rhein gelangte. In diesem „Best-of“-Programm kann man das Spektrum seiner thematischen, vor allem aber auch seiner musikalischen Entwicklung erahnen: Sie vereint Elemente verschiedenster Stilrichtungen, von Folk oder Weltmusik über Jazz bis hin zum Rock. Ein Höhepunkt bleibt Tammurra e Vuci, in dem Pollina mit seinem exzellenten Spiel des Tamburellos und herausragendem Gesang begeistert.

Mit einer langsamen Version des bekannten Partisanenliedes Bella Ciao entlässt Pollina viel zu früh seine Zuhörer in den lauen, wieder regenfreien Abend – was natürlich auch daran liegen kann, dass das EM-Finale mit der italienischen Mannschaft bald startet.

Lucie Peetz