O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Julian Scherer

Aktuelle Aufführungen

Istanbul-Krimi

7. SINFONIEKONZERT
(Ludwig van Beethoven, Fazil Say)

Besuch am
17. Juni 2022
(Premiere am 14. Juni 2022)

 

Niederrheinische Sinfoniker, Seidenweberhaus, Krefeld

Es gibt Menschen, die erzählen, die Diskussion über den Abriss des Seidenweberhauses gäbe es seit seiner Eröffnung. 1976 wurde das Veranstaltungsgebäude am Theaterplatz in Betrieb genommen. Damit wurde aus dem Traum der Krefelder von einer neuen Stadthalle der Alptraum eines Gebäudes im architektonischen Stil des Brutalismus. Wenn man es nicht besser wüsste, möchte man schwören, dass hier vom Tag der Eröffnung an kein Pinselstrich zu seinem Erhalt beigetragen hat. Das interessiert jetzt auch niemanden mehr. Genauso wenig wie der völlig heruntergekommene Zustand des großen Veranstaltungssaals. Denn Ende dieses Jahres soll Schluss mit dem Betrieb sein. Danach soll der Abriss und der anschließende Neubau eines Verwaltungsgebäudes an dieser Stelle beginnen. Bis dahin werden die Niederrheinischen Sinfoniker den Saal bespielen. Aus Saalsicht eine Zumutung für die Musiker. Überraschend gut funktioniert hier die Akustik. Und das ist vermutlich auch der einzige Grund, warum das Publikum diesen Spielort überhaupt noch besucht. Gut, ein paar Annehmlichkeiten gibt es hier schon, wenn man über den Zustand des Hauses hinwegschaut. Im Foyer ist eine großzügige Bar aufgebaut, ein paar Meter sind es bis zur Außenterrasse und die kostenlosen Parkplätze in der Tiefgarage sind bequem über Aufzüge erreichbar. Das hat noch längst nicht jede Spielstätte zu bieten. Und so strömt das Publikum auch in der vierten Aufführung des 7. Sinfoniekonzerts noch erstaunlich zahlreich in den Saal.

Muhittin Kemal Temel – Foto © Julian Scherer

Was die beiden Komponisten dieses Abends eint, ist der Umstand, dass zumindest ihre Anhänger sie zu den größten Notendichtern ihrer Zeit zählen. Was sie unterscheidet, ist das Arbeitsumfeld. Während das Publikum in Wien zum Ende des 18. Jahrhunderts ständig neue Musik auf den Bühnen und in den Salons der Stadt erwartete, muss man zu Beginn des 21. Jahrhunderts schon zu den echten Glückspilzen gehören, wenn man einen Kompositionsauftrag bekommt, der über mehr als zehn Minuten und drei Instrumente mit Elektronik hinausgeht. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen den beiden Komponisten mag man darin sehen, dass beide sich zunächst als Pianisten profilierten. Als Ludwig van Beethoven 1792 nach Wien kam, bestach er durch seine Fähigkeit, auf dem Klavier „Schwierigkeiten und Effekte“ hervorzubringen, „von denen wir uns nie etwas haben träumen lassen“, ist das Urteil von Joseph Gelinek überliefert. Sein Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur opus 58 „gilt als der Höhepunkt seines Klavierkonzertschaffens“. Weil es sich, erzählt Dramaturgin Eva Ziegelhöfer, um eine wichtige Station „für die klangliche Verschmelzung von Solist und Orchester zur sinfonischen Einheit“ handele.

Für diese Verschmelzung sorgen GMD Mihkel Kütson und Pianist Martin Stadtfeld mit den Niederrheinischen Sinfonikern. Es ist bereits die vierte Aufführung des Programms, und da fällt auf, dass die Musiker hier nicht mit mühsam überspielter Langeweile ihren Orchesterdienst antreten, sondern bei ihrem Auftritt gleich Vorfreude verbreiten. Das vierte Klavierkonzert bietet nicht nur dem Solisten viel Gelegenheit, sich mit virtuosem Spiel zu profilieren, sondern fordert auch eine hohe Präzision bei den Einsätzen des Orchesters im Dialog mit dem Flügel. Das klingt hier alles eher nach Vergnügen und Leichtigkeit, was Stadtfeld sichtlich Spaß macht. Trotz spürbarer Begeisterung hält sich das konzerterfahrene Publikum zwischen den drei Sätzen mit seinem Applaus zurück, um die Akteure auf der Bühne nach dieser wunderbaren Aufführung umso ausgiebiger zu feiern. Da lässt sich Stadtfeld nicht lange bitten, als Zugabe seine Klavierinterpretation des Opernklassikers Lascia ch’io pianga aus der Oper Rinaldo von Georg Friedrich Händel darzubieten.

Martin Stadtfeld – Foto © Julian Scherer

Wer glaubt, dass die Istanbul Senfonisi ein Werk türkischer Provenienz sei, irrt. Tatsächlich, wie dem hochinformativen Programmheft zu entnehmen ist, dem bis auf die „Jungs-Fotos“ von Say und Stadtfeld – gefühlt 20 Jahre alte Werbefotos – hohes Lob gezollt werden darf, entstand die Sinfonie Nr.1 opus 28 von Fazil Say während einer Residenz im Konzerthaus Dortmund. Am 13. März 2010 kam sie dort unter der musikalischen Leitung von Howard Griffiths zur Uraufführung. Ziegelhöfer zählt akribisch die Namen der sieben Sätze und die Inhalte auf, die Say ihnen zugrunde legte. Wie gleich zu sehen sein wird, kann das allenfalls als Interpretationsvorschlag des Komponisten gemeint sein. Der Flügel ist beiseite geräumt, das Dirigentenpult an die Bühnenrampe gerückt. Darum herum haben sich die Solisten geschart. Valentina Bellanova hat verschiedene Neys, also orientalische Blockflöten, mitgebracht, Dominik Lang wird sich auf den Perkussionsinstrumenten Kudüm, Bendir und Darbooka verwirklichen, und Muhittin Kemal Temel wird später Gelegenheit zu einem Solo auf der Kanun, das ist eine orientalische Zither, die mit Metall-Plektrons bearbeitet wird, bekommen.

Kurz flutet das Wellenrauschen des Marmarameers an, ehe sich ein spannender Krimi entwickelt. Egal, welches Verbrechen hier verhandelt wird, es findet in der 15-Millionen-Stadt Istanbul statt. Das Orchester treibt die Handlung voran, während die Solisten immer wieder Eindrücke von der Stadt vermitteln. Und dann gibt es natürlich auch die verzweifelte Liebe, die sich in romantischer Tonfülle aus den Geigern ergießt. Die retardierenden Momente mit dem Blick über die Stadt. Say ist bekannt für die Komposition von Filmmusik. Hier braucht es keinen Film, der läuft im Kopf ab. Dabei werden weder Dirigent, Musiker noch Material geschont. Der Komponist schöpft ungehemmt aus den Klangwelten zweier Kulturen. Nach einer Dreiviertelstunde geht ein aufregendes Abenteuer zu Ende.

Nach diesem Abend kann man den Niederrheinischen Sinfonikern nur zurufen: Weiter so.

Michael S. Zerban