Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
MICHAEL WOLLNY SOLO
(Diverse Komponisten)
Besuch am
27. Mai 2023
(Einmalige Aufführung)
Liegt es am Erfolg des vergangenen Jahres oder am Gast des heutigen Abends, dass vor dem Pavillon im Krefelder Kaiserpark ein Ansturm herrscht, als würde Benzin verschenkt? Was man mit Sicherheit sagen kann: Die 120 Plätze im Pavillon sind ausverkauft. Zur Erinnerung. 2019 wurde der Pavillon des Künstlers Thomas Schütte für die Ausstellung Bauhaus und Seidenindustrie eröffnet. Drei Jahre später stand das komplett aus Lärchenholz gefertigte Kunstwerk immer noch. Für Silke Zimmermann der perfekte Standort, das Festival Musik und Lesung ins Leben zu rufen. Unterstützt wurde und wird die künstlerische Leiterin vom Projekt MIK, das Christiane Lange vertritt. Das Konzept konnte im vergangenen Jahr so überzeugen, dass die Finanzierung für dieses und das kommende Jahr bereits gesichert ist.
Also findet von Pfingsten bis Anfang September die nächste Runde statt, in der Gäste wie der Countertenor Andreas Scholl und seine Klavierbegleiterin Tamar Halperin oder die Sängerin Alma Naidu in Begleitung des Pianisten Simon Oslender auftreten. Johannes Floehr wird zu einem Poetry Slam einladen, und Helene Hegemann wird aus ihrem Buch Schlachtensee lesen. Außerdem wird es erstmals eine Kinderveranstaltung geben. Als krönender Abschluss ist ein Klavierabend mit Severin von Eckardstein vorgesehen. Damit darf die Stadt Krefeld sich über ein zusätzliches kulturelles Angebot freuen, das das Zeug hat, über die Grenzen der Stadt auszustrahlen.
Michael Wollny – Foto © O-Ton
Dafür spricht auch die Auftaktveranstaltung. Der Jazz-Pianist Michael Wollny ist eingeladen. „Der vielseitigste und innovativste Jazz-Pianist seiner Generation“ sei er, war im Tagesspiegel Berlin zu lesen. Wolfgang Sandner treibt es in der Frankfurter Allgemeine Zeitung noch weiter. „Der vollkommene Klaviermeister: In einem Atemzug mit Keith Jarrett, Chick Corea, Herbie Hancock, Brad Mehldau, Stefano Bollani und Paul Bley kann man mit Fug und Recht auch Michael Wollny nennen. Er bringt alles mit, was man von einem perfekten Jazz-Pianisten verlangen kann“, schreibt der Kritiker. Und wer die Biografie von Oliver Hochkeppel auf Wollnys Netzseite liest, glaubt ohnehin eher an den Versuch, einen Musiker zu hypen.
Mit fünf Jahren bekommt Michael Unterricht an Klavier und Geige, seine große Schwester bringt ihm als Flötistin die klassische Romantik näher. Sein Aufstieg ist eher kometenhaft. Der gebürtige Schweinfurter studiert in Würzburg, wird ins BundesJugendJazzOrchester aufgenommen, gründet eigene Ensembles, arbeitet mit den Größen des deutschen Jazz. Alsbald öffnet sich auch die internationale Bühne. In Krefeld war er bereits 2019. Da präsentierte er seinen Kompositionsauftrag für den Eröffnungsabend des Festivals 100 Jahre Bauhaus als Suite Bau.Haus.Klang. Jetzt betritt er forsch mit tänzelnden Schritten das Zentrum des Pavillons, verbeugt sich kurz in alle Richtungen, denn das Publikum ist kreisförmig um den mittig aufgestellten Flügel gesetzt. Ein Lächeln, ein paar Papiere flattern in den Flügel, dann liegen die Hände auf den Tasten und Wollny geht in seine Welt.
50 Minuten spielt der heute 45-Jährige ununterbrochen. Und schnell wird klar, dass er in die Schublade Jazz-Pianist eigentlich überhaupt nicht passt. Denn Genre-Grenzen sind dem Mann fremd. Er improvisiert mit einer Fähigkeit, einzelne Stücke zu verbinden, dass es die Hörer in einen Rausch treibt. Die Perfektion, die er hier leichterdings betreibt, ist beängstigend. Bei den Tempi, die er an den Tag legt, wird mancher klassisch orientierte Pianist Schwindelanfälle erleiden. Seine Studenten, die er als Professor für Jazzpiano in Leipzig betreut, sind kaum zu beneiden. Wenn sich jemand so weit über dem Normalen bewegt, wie will man auch nur davon träumen, in dessen Reichweite zu kommen? Wenn er, wie es heute üblich zu sein scheint, die Saiten des Flügels bedient, klingt das nicht wie sonst gewollt, sondern als natürlicher Bestandteil seines Spiels. So geht es und nicht anders.
Christiane Lange und Silke Zimmermann – Foto © O-Ton
In seinen Improvisationen tauchen verschiedene Stücke wie White Moon oder Father Lucifer auf. Mit der Sonatine Nr. 7 von Rudolf Hindemith scheint die Klassik auf. Velvet Gloves and Spit – Mit Samthandschuhen und Spucke – geht seiner Eigenkomposition Tale voraus. Es gibt kaum etwas, was Wollny an Stilmitteln auslässt. Und es vergeht keine Minute, ohne das Publikum mit einer neuen Wendung zu überraschen. Das ist „neue Musik“! Nach 50 wahnsinnigen Minuten taucht man auf aus einem tosenden Meer von Musik, in dem Melodien vorbeischwammen, Zitate nach Luft japsten und eigene Erfindungen erfolgreich ans Ufer gelangten. Und die wilde Fußarbeit des Pianisten an die Verzweiflung eines Überlebenden erinnerte.
Wer dann noch nicht weiß, was die Faszination des Ausnahmekünstlers ausmacht, erlebt es in seiner Ansprache, in der er sich für die Einladung an diesen ungewöhnlichen Ort bedankt, ehe er das nächste Stück ankündigt. Ein Abendzettel hätte drin sein sollen, denn auch in den folgenden 25 Minuten sind verschiedene Werke untergebracht. Beginnend mit dem Quadratischen Lento aus der Suite, mit der er vor wenigen Jahren in Krefeld begeisterte und aus dem sich zwischenzeitlich Mondenkind entwickelt hat. Auch hier hat man als Hörer stets das Gefühl zu verstehen, was der Komponist ausdrücken will, ohne plakativ zu werden. Unmerklich schließt er die Stücke Der Wanderer und Hexentanz an.
Das Publikum im mittlerweile überhitzten Saal ist schier begeistert. Die Erwartungen waren groß, aber sie werden an diesem Abend weit übertroffen. Silke Zimmermann hätte es mit der Eröffnung nicht besser wählen können. Mit der Filmmusik Little Person aus der Tragikomödie Synecdoche, New York gibt Wollny noch eine Zugabe, ehe er sich vor dem Pavillon seinen Bewunderern stellt. Das Fest im Pavillon hat begonnen. Der Sommer kann kommen.
Michael S. Zerban