O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Die einen haben die Fragen, die anderen die Moral

VON MITLÄUFERN UND WIDERSTAND
(Frederike Bohr)

Besuch am
2. Juli 2021
(Uraufführung)

 

Atelier Mobile – Travelin‘ Theatre, Köln

Man muss echten Willen aufbringen, um das Atelier Mobile von Jens Kuklik aufzusuchen. Auf den schon fast verwunschen wirkenden Platz auf den Poller Wiesen, das sind die Uferwiesen des Rheins fernab vom Zentrum Kölns auf der „schäl Sick“, findet man nicht zufällig. Auf dem von einem orangefarbenen Schafzaun umsäumten Rasenstück steht alles noch auf Anfang. Ein paar Container, Kukliks längst legendärer Umzugswagen, zwei, drei Skulpturen und eine Bühne, die von einem Zeltdach bedeckt ist, sind vorläufig alles, was auf ein ganz besonderes Theater hinweist. Auch wenn an der neuen Wirkungsstätte noch alles sehr rudimentär wirkt, steht schon fest, dass es ein durchgängiges Sommerprogramm bis September auf dieser Bühne geben wird. Und den Anfang macht ein Stück, das sicher überall auf dieser Welt gespielt werden könnte. Aber die Uraufführung gibt es eben auf dieser Bühne – und wer davorsitzt, möchte vermutlich beschwören, dass es gar nicht anders sein könnte.

Der Rhein zieht wenige Meter weiter seine ruhigen Bahnen, dahinter zerfließt die Kölner Skyline in zartem Grau, das mehr und mehr aufreißt. Die Sonne fällt als glühender Ball hinter der Südbrücke und damit weit hinter der Bühne ganz allmählich in den Fluss. Ein kühler Wind sorgt dafür, dass die Zuschauer Pullover und Jacken übergeworfen haben. Die Kenner unter ihnen ziehen kühle Getränke aus ihren Taschen, eine Bar gibt es noch nicht. Es ist eine unendlich friedliche und entspannte Stimmung. Das Säuseln der Stimmen schwirrt über den Rasen, auf dem einfache Stühle und ein paar Sitzbälle aufgebaut sind. In der zauberhaften Abendstimmung stört es niemanden, dass die Aufführung eine halbe Stunde später als geplant beginnt.

Bis heute fasziniert Rio Reiser die Menschen. Am 9. Januar 1950 betritt er als Ralph Christian Möbius die Bühne des Lebens in Berlin. Zahlreiche, durch den Beruf des Vaters bedingte Umzüge lassen ihn keine Heimat finden. Er bricht die Schule ab, versucht eine Ausbildung als Fotograf, die er ebenfalls abbricht, um als 18-Jähriger nach Berlin zurückzugehen. In seiner Biografie steht, dass er Sänger, Musiker, Komponist, Liedtexter und Schauspieler war. Seine Freunde haben ihn als Agitator, Lebenskünstler und Lebenszweifler kennengelernt, der stets exzessiv an die Grenzen oder darüber hinausging. Als er mit 20 seine sexuelle Neigung zur Homosexualität bekanntgab, war das im Gegensatz zu heute eine kleine Sensation. In sein politisches Engagement wuchs er in den 68-er Ereignissen hinein, verlor aber nie die Zweifel.

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Für Frederike Bohr ist das Leben Reisers der ideale Ausgangspunkt, um von 1968 auf die Gegenwart zu reflektieren. Von Mitläufern und Widerstand nennt sie ihr Stück, in dem sie den jugendlichen Protest von einst mit dem heute vergleicht. Dass die Jugend gegen die Alten aufbegehrt, ist schließlich kein neues Phänomen, sondern eher der ewige Kreislauf des Lebens. Die Frage ist wohl eher, wie sich dieser Protest äußert. Die positive Nachricht ist, dass es im Zuge von Fridays for Future bis heute keine Toten gegeben hat, was man von der Vergangenheit nicht behaupten kann. Ob damit alles besser wird, muss sich in der rund einstündigen Aufführung zeigen.

Wie es sich für politisches Theater gehört, sind die spielerischen Auftritte kurz, der Wortanteil ist hoch und Originalzitate wie Musik unterstreichen die Gültigkeit. Manon Lacoste übernimmt die Rolle des Friday-for-Future-Mädels und wirkt darin so überzeugend, dass ihr am Schluss des Abends jegliche Sympathie abhandenkommt. Moritz Angenendt zeigt sich als zweiflerischer Rio Reiser, der nicht nur ein Thema behandelt, sondern sich um alle Fragen des Lebens kümmert. Regina Melech bestreitet nicht nur gemeinsam mit Angenendt die live gespielten Gitarrenriffs, sondern hat auch die musikalische Leitung des Abends. Und Frederike Bohr zieht sich hinter das Tonpult zurück, um Zitate und Geräusche einzuspielen, die dem Abend historische Authentizität verleihen.

Während Lacoste Plakate malt, hängt Angenendt mit Tagebuch, Zigaretten und Flaschenbier an einem Palettenstapel ab, wenn er nicht gerade wortreich seine Gedanken und Erzählungen vorträgt oder singt. Bei der Auswahl der Lieder bleiben die ganz großen Knaller wie der König von Deutschland oder Junimond aus. Stattdessen gibt es die politisch-agitatorischen Songs wie Macht kaputt, was euch kaputt macht, der Rauch-Haus-Song oder auch das Einheitsfrontlied von Hanns Eisler und Bertolt Brecht. Nach einer kurzweiligen Stunde ist alles gesagt und gesungen.

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Als 1968 der Protest der Studenten begann, herrschte vor allem Redebedarf, um alte, verkrustete Strukturen aufzubrechen. Es ging darum, den Muff unter den Talaren hinwegzufegen, um in eine menschenwürdigere Gesellschaft aufzubrechen. Das war alles zunächst sehr konkret, sehr lösungsorientiert. Das Establishment war irritiert, denn eigentlich war doch alles in Ordnung. Schließlich hatte man gerade Deutschland wiederaufgebaut, alles war auf einem guten Weg. Und die Polizei machte vor, dass die Gesellschaft auf Störfeuer nicht vorbereitet war, indem sie völlig inadäquat reagierte. Zu sehr war das „deutsche Wesen“ noch in den Köpfen verhaftet. Disziplinlosigkeit begegnete man mit Disziplin. Der Wunsch, die alte Ordnung aufrechtzuerhalten, war übermächtig. Erfüllt hat er sich nicht. Die „68-er“ begannen ihren Marsch durch die Instanzen. Denn schließlich galt es, konkrete gesellschaftliche Fragen zu lösen.

Im 21. Jahrhundert ändert sich das. Mit Fridays for Future schlossen sich Schüler zu einer Allianz zusammen, um die Moralkeule zu schwingen. Auch hier gibt es gesellschaftlichen Ungehorsam, der aber ins Leere läuft, wenn die Eltern ihre Kinder zu Kundgebungen fahren, anstatt sie am Freitag in die Schule zu bringen. Jetzt geht es nicht mehr um Problemlösung, sondern um diffuse Ängste. Da feiert die Moral fröhliche Urständ. Es wird nicht mehr gefragt, sondern behauptet. Damit wird jeder Diskurs von vornherein unmöglich gemacht. Dieser Protest wird nicht von Erfolg gekrönt sein. Weil nicht Moral das Mittel der Wahl ist, sondern Vernunft. Aber die steht nicht auf Plakaten. Wenn es wirklich fünf vor zwölf ist, warum soll der „kleine Mann“ Verzicht üben?  Wäre es dann nicht viel wichtiger, sich auf einen Klimawandel einzustellen und vorzubereiten? Und auch dieses Mal wehrt sich das System, jetzt allerdings mit den Mitteln des Kapitalismus. Der ist zynisch und verlogen. Auch er bietet keine Lösungen an, sondern erhebt Steuern. Wir sind wieder deutlich auf dem falschen Weg.

Das behauptet nicht Frederike Bohr. Sie stellt die Fragen, das ist ihre Aufgabe. Und die hat sie außerordentlich gut gelöst. Es gibt an diesem Abend wohl niemanden, der assoziationslos nach Hause geht. Was kann politisches Theater mehr leisten? Im September wird das Stück wieder gezeigt. Wenn es nicht schon vorher seinen Weg auf andere Bühnen findet. Verdient hätte es das allemal.

Michael S. Zerban