O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Claus Stump

Aktuelle Aufführungen

Marius für fünf Euro

VIRTUAL BRAIN
(Charlotte Louise Fechner, Götz Leineweber)

Besuch am
30. September 2021
(Premiere)

 

Wehr51 im Orangerie-Theater, Köln

Ach, das Live-Erlebnis ist doch das Schönste“, war in den vergangenen Wochen immer wieder zu hören, weil die Theater und Konzertsäle wieder öffnen durften. Inzwischen setzt beim Publikum wohl doch eher so etwas wie Ernüchterung ein. Im Lockdown haben viele Kulturarbeiter sich mit Händen und Füßen gesträubt, sich mit dem Medium Internet auseinanderzusetzen. Weil live ja viel schöner ist. Eine der wenigen Ausnahmen war das Theaterkollektiv Wehr51, das am 20. März die Uraufführung seiner neuesten Produktion Virtual Brain als Film im Internet präsentierte. Es war der gelungene Versuch, Theater im Internet zu zeigen. Für die Zuschauer war es ein Gewinn. Sie konnten es sich in den eigenen vier Wänden bequem machen, die viele inzwischen zu Heimkinos aufgerüstet haben. Für das Gespräch danach, das ja immerhin einen wichtigen Teil des Theaterbesuchs ausmacht, gab es den Freund oder den Nachbarn, den man dazu eingeladen hatte, wenn vielleicht auch nicht immer ganz offiziell. Sehr angenehm.

Endlich wieder live! Jetzt hat Wehr51 in das Orangerie-Theater in Köln eingeladen, um die Präsenz-Aufführung nachzuholen. Es ist recht kühl geworden in Köln, gerade mal 13 Grad zeigt das Thermometer an diesem Abend. Im Theater tut man noch so, als sei es Sommer und empfängt das Publikum im Garten, lässt es dort bis zum Einlass ausharren. Freundlich wird eine Decke angeboten. Aber die Vorstellung, mit einer umgehängten Decke vor dem Theatersaal herumzustehen, ist dann doch ein bisschen grotesk. Das Stück beginnt mit nur zehnminütiger Verspätung. In einer riesigen Halle, in der nur Geimpfte, Genesene oder Getestete sitzen, auf einer Maskenpflicht zu beharren, liegt natürlich nicht in den Händen der Veranstalter, übersteigt aber allmählich jede Toleranz.

Foto © Claus Stump

Der Bühnenaufbau ist gleichgeblieben, das Publikum wird jetzt in der Mitte des Raumes platziert. Regisseurin Andrea Bleikamp hat eine Lösung gefunden, um möglichst viel Personen unterzubringen. Die Lösung heißt Marius, stammt vom schwedischen Möbelkonzern, wird in China hergestellt, in Containerschiffen nach Deutschland verfrachtet und kostet ohne Rabatt fünf Euro. Marius ist allerdings ein Hocker, der bestenfalls dazu geeignet ist, in Feuchträumen einen Bademantel darauf abzulegen. Für ältere Besucher mit Rückenproblemen ist der Schemel eher ein Grund, gar nicht erst da zu bleiben. Offenbar haben Andrea Bleikamp und Rosi Ulrich ohnehin eher an ein jüngeres Publikum gedacht. Sonst hätten sie sich die Persiflage auf die ideologische Idiotensprache mit Doppelpunkt im Schriftbild, örtlicher Angabe mit „innen“ und missglücktem Glottisschlag bei den Darstellern sicher gespart. Denn die Reaktanz des Publikums steigt, und da geht der Humor allmählich verloren. Glücklicherweise bleibt es bei einer Szene und der Besucher sitzen, obwohl die Aufnahmefähigkeit erst mal völlig verloren ist. Ja, auch so kann man einen Theaterabend ruinieren. Daheim hätte man zu diesem Zeitpunkt weggeklickt.

Während es im Film schöne Detailaufnahmen gab, ist im Theater dank der szenischen Konzeption je nach Sitzplatz der Blick beispielsweise auf das Zelt halb verdeckt. Mit den Details ist dann Essig. Dabei gibt es auch durchaus schöne Momente. Während der Chor jetzt durch das Publikum schreitet, kann man die fantasievolle Arbeit von Kostümbildnerin Paula Noller aus der Nähe bewundern. Und auch die Klanggestaltung von Rosi Ulrich bringt die Musik von Sibin Vassilev jetzt sehr viel intensiver zum Ausdruck, als das im Film der Fall war.

Der Applaus ist gediegen an diesem Abend, der mit anderthalb Stunden angekündigt war und nach einer Stunde sein Ende findet. Live ist schön, ob es immer besser ist, muss wohl jeder für sich selbst beantworten.

Michael S. Zerban