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VIRTUAL BRAIN
(Charlotte Luise Fechner, Götz Leineweber)

Gesehen am
20. März 2021
(Uraufführung)

 

Wehr 51 im Orangerie-Theater, Köln

Die Generation der heute um die 60-Jährigen in Deutschland hat es richtig gut gehabt. Ein ganzes Leben zu verbringen, ohne in einen Krieg zu geraten, kommt – historisch betrachtet – nicht so oft vor. Eine Generation, die von der harten Arbeit ihrer Eltern profitierte, aus Deutschland ein Land des Wohlstands zu generieren. Und es ist die Generation, die ihren Kindern noch mehr Freiheit schenken wollte, als sie sie mit einem gesunden Maß an Demut genossen hat. Oder war es doch gerade ihr Größenwahn – insbesondere wenn man auf die politischen Entwicklungen schaut – der einen Wertewandel in der Gesellschaft einleitete. Vom Kollektivismus zum Individualismus, der bis zur Selbstoptimierung gefeiert wird. Von der Solidarität zu einer Gesellschaft, in der sich wenige auf Kosten vieler bereichern. Dass Größenwahn zu Allmachtsfantasien führt, ist hinlänglich bekannt. Dass sich solche Fantasien zu einem Zeitgeist-Phänomen entwickeln, dürfte allerdings neu sein. Der Mensch ersetzt sich selbst – wenn auch die Prothetik da noch nicht so weit fortgeschritten ist – entscheidet über die Geschlechtlichkeit seines Körpers und schafft womöglich den Tod ab? Ist das nun Überheblichkeit, maßlose Selbstüberschätzung oder sind wir tatsächlich auf dem Weg dorthin? Einen argen Dämpfer verpasst uns derzeit ein Virus, dem sich die Politik ohnmächtig gegenübersieht. Aber reicht das, um uns wieder auf den Weg einer aufklärerischen Vernunft zurückzuführen?

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In seiner neuesten Produktion Virtual Brain hat sich das Theaterkollektiv Wehr 51 aus Köln mit diesen Entwicklungen auseinandergesetzt. Zugrunde gelegt haben Andrea Bleikamp und Rosi Ulrich ihrem neuen Stück die Texte Das Ossuarium der Zukunft von Charlotte Luise Fechner und Die Haut von Götz Leineweber. Ein Ossuarium ist ein – historisches – Beinhaus, also ein überdachter Raum, in dem Gebeine aufbewahrt werden. Das Ossuarium bei Fechner ist ein Labor in einem Keller, das ein Wissenschaftler heimlich eingerichtet hat. Regisseurin Bleikamp macht daraus eine „Glaskuppel“, die im hinteren Drittel des Bühnenraums im Orangerie-Theater aufgestellt ist. In jeweils einer Ecke der Bühne sind Podeste aufgebaut, an zwei Wänden und an der Decke sind riesige Projektionsflächen angebracht. Der Blick in die Glaskuppel lohnt. Dort ist ein Tisch aufgestellt, auf dem sich allerlei medizinische Untersuchungsgegenstände befinden. An den Seiten baumeln Körperteile. Eines ist gewiss: Der Regisseurin möchte man bei allen medizinischen Belangen lieber nicht in die Hände fallen. Hinter dem Tisch sitzt ein Wissenschaftler und eine Probandin, die er wohl gerade aus dem Eis erweckt hat. Auf den Podesten stehen die Darsteller, die im Wesentlichen einen Chor bilden. Allesamt sind von Paula Noller in Kostüme gekleidet, die mehr einen fantastischen Raum darstellen, statt einer konkreten Raum- und Zeitzuordnung zu dienen. Da könnte man also jetzt gemütlich die Geschichte der Probandin erzählen. Aber das reicht Bleikamp nicht. Stattdessen startet sie auf den Projektionsflächen einen information overkill, der zu den Chortexten korrespondiert. Dazu gibt es Musik von Sibin Vassilev.

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Die Probandin wird überzeugend von Asta Nechajute dargestellt, ihr sekundiert wunderbar Torsten-Peter Schnick als Wissenschaftler. Der Chor ist luxuriös mit Anna Möbus, Marc Fischer und Thomas Krutmann besetzt, edel gestaltet Miriam Meissner mit „königlichem“ Anstand ihre Rolle als vierte im Bunde. Wenn es hier so manches Mal mit dem Textverständnis hapert, liegt das nicht an den Darstellern, sondern an den permanenten Stimmüberlagerungen. Die sind künstlerisch gewollt. Wer sich in den Text vertiefen will, findet ihn auf der Website des Kollektivs.

„Selbstverständlich“ gibt es hier kein Publikum. Jens Standke hat sich bemüht, die Aufführung als Video umzusetzen, ohne das „Theater-Flair“ verlorengehen zu lassen. Das passt in das Gesamtkonzept von Wehr 51. Denn Bleikamp und Ulrich versuchen inzwischen, ihre Arbeit auf möglichst vielen Kanälen auszuspielen. War das Stück ursprünglich als Live-Aufführung geplant, sind diese Pläne vorläufig in der Schublade, aber eben vorhanden. Neben dem heute erstmalig übertragenen Video gibt es einen Podcast, der sich mit dem Thema des Werks gesprächshalber beschäftigt und zeitgleich gibt es ein Hörspiel. Wenn also schon das Publikum vor der Bühne des Orangerie-Theaters fehlt, sollen wenigstens so viele Zuschauer als möglich aus der Ferne erreicht werden.

Ach ja, die Geschichte der Probandin. Die ist so gut, dass sie hier nicht wiedergegeben werden soll. Hier kann man sich die Aufführung anschauen. Stattdessen gibt es ein Zitat vom Ende des Stücks, das vielleicht ein wenig Mut machen kann. „Bewahren Sie mich vor der Gleichgültigkeit. Dann erst wird die Welt wieder Gestalt bekommen.“

Michael S. Zerban