O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Luís Antunes Pena

Aktuelle Aufführungen

Tödlicher Stepp-Tanz

SPLITTER
(Mara Tsironi)

Besuch am
10. September 2021
(Uraufführung)

 

Tanzfaktur, Köln

Im zeitgenössischen Tanz der so genannten Freien Szene gelten große Besucherströme eher als Seltenheit. Aber wenn dann selbst Studios halbleer bleiben, muss sich der Veranstalter schon mal überlegen, woran es liegt. An einem grundsätzlich fehlenden Interesse sicher nicht. Im Fall von Splitter von Mara Tsironi gibt es, wie meist, viele Möglichkeiten. Da wird – anders als sonst üblich – gleich zu Beginn der Vorankündigung darauf hingewiesen, dass es sich um den dritten Teil einer Trilogie handelt. Also bleiben schon mal all die weg, die die ersten beiden Teile nicht gesehen haben. Anschließend folgt ein Text, der selbst Hartgesottene in Sachen Vorankündigung beim zeitgenössischen Tanz schlucken lässt. Überraschend viele Menschen scheuen auch immer noch den Besuch kultureller Veranstaltungen der eigenen Gesundheit zuliebe. Da hat die Regierung ganze und nachhaltige Arbeit geleistet. Und wenn alle Gründe nicht mehr helfen, bleibt noch, auf das Wetter zu schauen. Bei einem solch verregneten Tag haben selbst die politisch Korrekten, die neuerdings nur noch das Fahrrad als Fortbewegungsmittel kennen, keine große Lust, sich auch noch um ihr kulturelles Wohlergehen zu kümmern.

Was für die Tanzfaktur in Köln-Deutz finanziell unerfreulich ist, erweist sich für das Publikum, das erschienen ist, als komfortable Situation. Gibt es doch reichlich Platz und angemessene Abstände. Ob allerdings die Politik des Hauses, noch ein wenig auf später kommende Gäste zu warten, richtig ist, darf bezweifelt werden. Schon jetzt kommen viele Besucher auf die letzte Minute, anstatt sich, wie es sich gehört, rechtzeitig zur Aufführung einzufinden. Fehlende Solidarität entwickelt sich ja gerade zur Modeerscheinung. Endlich aber werden die Besucher in die „UG-Bühne“ ein Stockwerk tiefer geführt. Eine Spielfläche, die es in sich hat, denn hier gibt es in der Mitte vier Säulen, die schon Bibiana Jiménez bei ihrem Erfolgsstück Exxperimente einiges an Hirnschmalz abverlangten. Tsironi macht es sich da ein bisschen einfacher. Sie lässt die Besucher auffordern, sich frei am Spielfeldrand zu bewegen, um verschiedene Perspektiven einzunehmen. Nur ein einzelner Gast wird von diesem Angebot Gebrauch machen und sich von seinem Stuhl erheben. Dabei lohnt es sich durchaus, den Blickwinkel zu verändern.

Foto © Luís Antunes Pena

Perspektivwechsel hat sich auch Tsironi bei ihrer Trilogie Äther – Flakon – Splitter vorgenommen. Äther wurde in einem privaten Studio als Tanz-Solo aufgeführt. Bei Flakon ging es deutlich üppiger zu. Skurrile Typen, Projektionen und ein sprechender Computer sorgten für eine opulente Aufführung. Splitter nun gibt sich wieder deutlich spartanischer und thematisch abgehoben. Offensichtlich geht es in den Wilden Westen. Dafür spricht schon die eingespielte Musik, mit der der Abend beginnt. Eine Frau gräbt sich aus einem Erdloch. Befreit sich von ihren Reithosen. Und scheint unendlich erschöpft. Vom rechten Bühnenrand, wo auch die Technik untergebracht ist, schiebt sich eine Teleskopstange vor zum Musiker hinter der Säule in der Mitte der Spielfläche, der mit ebenerdiger E-Piano-Tastatur, liegender E-Gitarre und ein paar weiteren Instrumenten sowie einem Standmikrofon ausstaffiert ist. Der Stange folgt die zweite Tänzerin des Abends – auf einem Hoverboard. Das kennt man bereits aus Äther. Sie fährt weiter zur linken Bühnenhälfte, wo eine „Tanzfläche“ ausgelegt ist, die sich später als Flügel mit Krücken für die zweite Tänzerin entpuppen wird.

Und während die eine, Julia Mota Carvalho, sich auf der Tanzfläche räkelt, beständig ihren Durst stillt und lebenslustig gurgelt, kämpft Jana Griess zunehmend trotzig um ihr Überleben. Behring Karimi in froschgrüner Bekleidung, T-Shirt und Unterhosen, bearbeitet derweil die auf dem Boden liegenden Instrumente. Der vierte im Bunde, Luis Antunes Pena, ist nicht nur der Herr über das Licht, sondern auch über die Löwenanteile der Musik. Er ist der Computerarbeiter, der nur ein einziges Mal aktiv in das Geschehen eingreifen wird. Neues Stilelement im dritten Teil der Trilogie ist der Stepptanz, der hier eine ungewohnte Ästhetik findet. Abseits der Folklore von beispielsweise Riverdance geht es erheblich archaischer zunehmend um das Überleben, um Trotz, Rebellion und Widerstand. Es hilft alles nichts. Am Ende liegen beide Körper tot vor dem Publikum, der Geier kreist und eine schwarze Decke, von Pena ausgebreitet, bedeckt sie. Währenddessen kämpft Karimi als Kaktus mit und gegen seine Stacheln, begleitet von intensiver elektronischer Musik.

Ob das Publikum mit der überraschenden Wendung zum Stepp-Tanz gerechnet hat, mag dahingestellt sein. Eindrucksvoll ist die Vorstellung allemal. Der Applaus hält lange an und braust noch einmal auf, als Tsironi mit Baby im Arm die Bühne betritt. Und keine Angst: Das hat die Vorstellung mit Ohrenschützern sanft verschlafen. Wer die Uraufführung verschlafen oder gar regenscheu verpasst hat, kann am Wochenende noch nachholen. Sowohl Samstag als auch Sonntag gibt es jeweils eine weitere Vorstellung.

Michael S. Zerban