O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bildschirmfoto

Aktuelle Aufführungen

Digitaler Tanz aus aller Welt

SOLO DUO NRW AND FRIENDS
(Diverse Choreografen)

Gesehen am
22. Mai 2021
(Einmalige Aufführung/Stream)

 

Barnes Crossing, Wachsfabrik, Köln

Gerade im Bereich des zeitgenössischen Tanzes wird permanent jede Aufführung gefilmt. Und sehr selten werden diese Aufnahmen dann noch einmal verwendet. Bestenfalls gibt es ein paar Schnipsel in einem Trailer. Alles andere verschwindet in verschlossenen Schubladen. So recht eingeleuchtet hat diese Praxis noch nie. Denn sie hat einen entscheidenden Fehler, der dieser Tage offenbar wird. Eine Qualitätskontrolle der Aufzeichnungen findet in den seltensten Fällen statt und somit auch keine Verbesserung der Aufnahmen. Das bedeutet auch, dass häufig das technische Know-how bei den Compagnien fehlt. Es reichte ja bisher scheinbar, eine Kamera aufzustellen, zu schauen, dass die Tanzfläche im Blick ist und den Aufnahmeknopf zu drücken.

Eindrucksvoll legt nun ausgerechnet ein Wettbewerb den Finger in die Wunde und das nicht einmal freiwillig, sondern eher aus der Not geboren. Denn nach wie vor versuchen die Regierungen, kulturelle Veranstaltungen zu unterbinden. Um den internationalen Tanzwettbewerb SoloDuo NRW and friends dennoch zum dreizehnten Mal auszurichten, musste sich der Veranstalter Barnes Crossing, vertreten durch Ilona Pászthy, Carla Jordão und Stefanie Schwimmbeck als Künstlerische Leitung, etwas einfallen lassen. Denn mögliche Teilnehmer aus aller Welt einzufliegen, unterzubringen und in den beengten Verhältnissen der Kölner Wachsfabrik tanzen zu lassen, wäre eine Illusion gewesen und hätte niemals realisiert werden können. Dabei war die Lösung erdenklich einfach. Denn die Künstler, die sich zur Teilnahme am Festival bewerben, müssen ohnehin ein „Demo-Band“ einschicken, also ein Video ihrer Aufführung, die sie zeigen wollen. Und so wurde erstmalig ein digitaler Wettbewerb geplant, bei dem genau diese Videos gezeigt werden sollen. Keine schlechte Idee, wenn man neben dem analogen Tanz auch nur einen Funken Interesse an digitaler Technik hat.

Satte 160 Bewerbungen gingen nach Angaben des Veranstalters ein. Nach welchen Kriterien daraus 22 Teilnehmer in den Sparten Solo- und Duo-Tanz ausgewählt wurden, bleibt wohl ein Geheimnis, zumindest finden sich bei Barnes Crossing dazu keine Angaben. Aber die Zuschauer bekämen immerhin an zwei Tagen die 22 Videos und am dritten Tag eine Preisverleihung zu sehen. Um die Übertragung sicherzustellen, vertraute sich der Veranstalter der Plattform Dringeblieben an. Soweit die Theorie.

Bildschirmfoto

Glücklich darf sich schätzen, wer sich für einen Besuch des zweiten Tages entschieden hat. Am Rand bekommt man da mit, dass es wohl am ersten Tag „erhebliche technische Schwierigkeiten“ gegeben habe. Das soll nicht weiter stören, denn der zweite Tag verläuft übertragungstechnisch einwandfrei. Im Großen Saal sitzen auf drei Barhockern neben einem Monitor Azizè Flittner als Moderatorin, Pászthy als Künstlerische Leiterin und Britta Lieberknecht als Vertreterin der Jury, der außerdem Roos van Berkel und Johanna Bodor angehören. Jordão und Schwimmbeck besetzen den Chat, also die Kommentarleiste, die Dringeblieben neben dem Video anbietet, außer Sichtweite. Flittner und Pászthy bemühen sich in der Folge, die Videos zweisprachig mit verteilten Rollen und gegendert anzukündigen. Das funktioniert, nun, sagen wir, nicht immer so einwandfrei, wirkt aber unglaublich authentisch. Da wünschte man sich, auf der Website ein Programmheft zu finden, in dem die kurzen Erläuterungen zu den Aufführungen, die Flittner nach den Videos nachliefert, zu lesen wären. Das gibt es nicht, und so entwickelt sich ein lustiges Rätselraten, ob man den Sinn der jeweiligen Aufführung erkannt hat.

Jetzt rächt sich, dass die Aufzeichnungen immer nur Randerscheinungen einer Tanzaufführung sind. Noémie Defossez tanzt ein Solo in der Totalen. Welch ein Glück, dass sie ein schwarzes Bustier zur grauen Trainingshose auf dem weißen Tanzboden trägt, sonst könnte man die Tänzerin wohl überhaupt nicht mehr sehen, wenn sie ihre eigene Choreografie Down into the rise vorträgt. An diesem Abend hätten viele Choreografen ihre Position mit einer professionelleren Aufzeichnung verbessern können. Besonders bedauerlich ist das beispielsweise bei Co(lonely), einer vielversprechenden, berührungsintensiven Choreografie von Anna Kempin und Karoline Stächele, die im flackernden Grünton viel von ihrer immensen Wirkung verliert. Von den beiden möchte man sicher mehr sehen. Großartig an diesem Abend ist aber sicher die Vielfalt der Sprachen – die manchmal auch gar nicht funktioniert. Wenn etwa Noya Koren versucht, die Choreografie In my heart/out of my mouth von Shoval Bitton zur grandiosen Musik von Edith Piaf und Steve Reich mit sich immer weiter öffnenden Mund im roten Kleid umzusetzen, springt der Funke einfach nicht über. Und es liegt nicht am Video.

Bildschirmfoto

Und dann gibt es ganz plötzlich auch eine völlig neue Entwicklung, die schon mal zeigt, wohin die Digitalität gehen kann. In L-DNA reflected verlässt Veruschka Bohn, die zunächst im silbergrauen Ganzkörperanzug auftritt, der von Lichtperlen umschwärmt wird, den Tanzboden komplett, um sich als leichtbekleidete Person in schwirrenden Loops rendern zu lassen. Warum nicht? Als Versuch, der in die Zukunft zeigt, vollkommen legitim. Zum Abschluss gibt es dann auch tatsächlich noch das Video, das es wert ist, als solches bezeichnet zu werden. Catarina Casqueiro und Tiago Coelho zeigen in Matiik eine faszinierende Lichtshow, in der sie mit hohem Tempo eine eindrucksvolle Detailarbeit abliefern. Da gibt es zum Abschluss des Abends noch großartige Bilder.

Die Siegerehrung am darauffolgenden Abend wird wegen massiver Übertragungsstörungen komplett ins Wasser fallen. Und die Begründung wird grotesk ausfallen. Die LTE-Verbindung sei instabil, wird man erfahren. Die bitte was? Die langsamste Verbindung, die über ein Handy möglich ist, wird genutzt, um einen Wettbewerb zu übertragen? Weil doch eine andere Verbindung vom Übertragungsort aus nicht möglich sei, werden die Veranstalter zu erklären versuchen. So viel Dilettantismus muss ohne Worte bleiben.

Das diesjährige SoloDuo-Festival hat Vieles zutage gebracht. Von heute an werden hoffentlich viele Tanzkompagnien begreifen, dass digitale Aufzeichnung und Übertragungstechnik nicht gottgegeben sind, sondern eines gewissen Know-hows bedürfen. Und auch die Veranstalter haben nach dieser Blamage möglicherweise begriffen, dass Naivität und Gendern kein Schlüssel zum Erfolg sind. Denn eine rasch herausgeschickte Pressemitteilung, wer da Preise gewonnen hat, wird angesichts eines Sternchen-überfluteten Textes ungeachtet des Inhalts sofort gelöscht. Da hat der Veranstalter den Tänzerinnen und in der Folge auch den Tänzern viel Schaden zugefügt. Ob man sich das im kommenden Jahr noch mal antun möchte, steht damit – tja, in den Sternen. Aber vielleicht nehmen Sponsoren ja ohnehin die Entscheidung vorweg.

Michael S. Zerban