Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
OH TERRITORIUM
(Georg Kaiser, Vaclav Havel, Kristóf Szabó)
Besuch am
26. Oktober 2023
(Premiere am 19. Oktober 2023)
Beim ersten Lesen der Stückbeschreibung gibt es die große Überraschung. Das klingt alles nach einer stringenten Handlung, die man ohne Schwierigkeiten verstehen kann. Schon bei der Anreise zum Orangerie-Theater in Köln kriechen Zweifel ins Hirn. Irgendwie passt das nicht zu Kristóf Szabó und seinem F.A.C.E.-Ensemble. Aber es ist ja eine Uraufführung. Hat der Theatermacher vielleicht eine Entwicklung vollzogen, die ihn nach einem Neuanfang suchen lässt? So recht glauben mag man das nicht, aber kann ja sein.
Bevor man sich noch davon überzeugen kann, gilt es zunächst, die zehnminütige Verspätung zu überbrücken. Es ist völlig unbegreiflich, wie es einem Opernhaus mit 2.000 Besuchern gelingt, eine Aufführung auf die Sekunde pünktlich beginnen zu lassen, während die so genannte Freie Szene es nicht schafft, 27 Leute bis 19.59 Uhr im Saal zu versammeln. Heute ist das nicht so wichtig, obwohl es vor der Eingangstür zum Saal nieselt und unangenehm nasskalt ist. Es gibt was zu gucken. Denn die Sanierung des Theaters in der ehemaligen Orangerie am Volksgarten hat begonnen. Der Teil, in dem sich früher der Garten mit den alten Gewächshäusern befand, ist abgezäunt und den Blicken mit Plakaten entzogen. Wer hinter die Plakate lugt, entdeckt, dass über die Hälfte der alten Gewächshäuser bereits abgerissen ist. Viel interessanter aber ist die Schautafel, die das zukünftige Aussehen des Theaters zeigt. Ob es einem gefällt oder nicht: Der bisherige Charme eines lost place wird wohl verlorengehen – mit den üblichen Konsequenzen. Wer so viel Geld ausgibt, um ein Glasfoyer mit Hublift zu bauen, für die Künstler Innengarderoben einbaut – so steht es auf dem Schild geschrieben – den Theatersaal erweitert und großzügige Verwaltungsbüros einrichtet, verspricht sich davon eine erhöhte Attraktivität, die neue Zuschauergruppen zu „angepassten“ Eintrittspreisen anziehen soll. Ob die bisherige Programmstruktur dann noch hierher passt, wird sich zeigen. Die Aussichten scheinen eher düster. Zu mehr Gedanken bleibt keine Zeit, weil der Einlass beginnt.
Theresia Erfort – Foto © Oliver Stroemer
Szabó hat nach Auszügen aus Georg Kaisers Gas-Trilogie, Vaclav Havels Protest und eigenen Texten das Stück Oh Territorium geschrieben. Nachdem das Land einen Krieg gegen das Nachbarland begonnen hat, gerät Gas-Milliardär IJ in Gefahr, weil Tochter und Sohn sich gegen das autokratische System stellen. Nach einem Streik in den Gaswerken werden die unter Leitung des Militärs gestellt. Der Vater wird aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben. Für ihn Anlass, eine Seelenwanderung zu beginnen. So weit, so verständlich. Für die Umsetzung setzt Szabó auf sein bewährtes Team. Boshi Nawa hat ein Holzkonstrukt im hinteren Teil der Bühne aufgebaut, das vielleicht das Imperium der Gaswerke repräsentiert. Davor sind quadratische Holzwürfel zu Haufen aufgeschichtet, von denen aus sich prächtig spielen lässt. Ergänzt wird das Bild durch Gestelle, an denen kleine Pappkartons aufgehängt sind, die zum Beispiel Blumendekorationen darstellen. Im späteren Verlauf werden die Gegenstände auseinandergenommen. Was zunächst nach Verfall, nach völliger Zerstörung aussieht, erweist sich als Umbau zu einem neuen System. Das ist wirklich gut gelöst. Emese Kasza hat bei den Kostümen ebenfalls ihre Fantasie sprühen lassen. Hier passt kein Teil zum andern, Farbenfreude hat zumindest im ersten Teil Vorrang. Die Figuren bei Alice im Wunderland sehen dagegen einigermaßen blass aus. Ivó Kovács ist wieder für die Videoprojektion über drei Wände, später auch auf die Holzkisten zuständig. Neu sind bei ihm die konkreten Darstellungen von Fabrik- und Fahrzeugbildern, die dramaturgisch angepasst zerrinnen. Das ist mehr als gelungen, weil es so funktioniert, die Wucht des Imperiums darzustellen. Die visuelle Reizüberflutung ist gewollt, um vor allem im zweiten Teil die Idee des Panoptikums herauszustreichen. Insgesamt wirkt der Abend im positiven Sinn anachronistisch. Auf die Frage, warum er in einer Zeit, in der das Publikum nach allerspätestens 90 Minuten nervös wird, ein Stück von zweieinhalb Stunden Dauer inklusive Pause aufführt, hat Szabó eine einleuchtende Antwort. „Weil ich es so will“, sagt er. Auch die Zahl der Darsteller überrascht. Wann hat man das letzte Mal zehn Menschen auf der Bühne gesehen? Eindrucksvoll, aber auch anstrengend zu verfolgen, wer sich gerade wie bewegt oder wie eine Schaufensterpuppe verharrt.
Nathalie Dudzik – Foto © Oliver Stroemer
Bei der Dauer braucht es in zweierlei Hinsicht Geduld. In der ersten Hälfte gibt es durchaus Längen, wenn etwa ein Dialog eigentlich eine Aneinanderreihung von Monologen ist und über eine halbe Stunde dauert. Und tatsächlich reduziert sich die Zahl der Besucher nach der Pause deutlich. Wobei die Belohnung denen winkt, die durchhalten. Fängt das Stück eben durch die Monologe scheinbar verständlich an, verliert es im Verlauf zunehmend an Stringenz. Das ist gewünscht, und wenn man erst mal aufgehört hat, verstandesmäßig folgen zu wollen, entfaltet die Aufführung mehr und mehr ihre Magie. Dazu trägt auch die Aufhebung der Geschlechterrollen bei, ohne dass das aus den Kostümen ersichtlich wird. Politisches mischt sich mit fantastischem Theater. Das ist eine explosive Mischung, die den Zuschauer mehr und mehr in einen Sog zieht und fasziniert.
Dazu tragen maßgeblich die Leistungen der Darsteller bei. Großartig etwa Nathalie Dudzik, deren Rollen nie so ganz klar werden, die aber mit ihrem Auftritt in Wort, Tat und intensivem Blick überzeugt. Theresia Erfort begeistert insbesondere mit ihrer sehr poetischen Schlusserzählung. Anna Röser hat ihre Sternstunde, wenn sie den Milliardär IJ gibt. Juliana Wagner gibt unter anderem Nachdenkliches als Museumsdirektor mit auf den Weg. Annika Hofgesang darf mit Tanzeinlagen und Gitarrenspiel gefallen. Leevke Gletta, Boshi Nawa, Pierre Parabell, Christian Polenzky und Ivan Zilli rahmen die Wortvorträge darstellerisch sehr ernsthaft und gekonnt ein, wenn sie nicht als Chor oder als Tanzgruppe begeistern.
Den letzten Glanz verleiht Szabó dem Abend, wenn er Musik von Gubaidulina, Bauckholt, Schostakowitsch, Reich und Rihm so integriert, als sei sie für das Stück geschrieben worden.
Inhaltlich halten sich die Erkenntnisse in Grenzen, aber Szabó und seinen Mitstreitern gelingt Theater vom Bezauberndsten, wie man es lange nicht erlebt hat. Das weiß auch das verbliebene Publikum zu würdigen, das am Ende eines erschöpfenden Abends alles daran setzt, das Ensemble ausgiebig zu feiern.
Michael S. Zerban