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Aktuelle Aufführungen

Hass der Herren

MISS GYNÉ
(Bibiana Jiménez)

Besuch am
20. Juni 2021
(Uraufführung am 19. Juni 2021)

 

XXTanzTheater in der Tanzfaktur, Köln

Da fällt einem ein papierner Veranstaltungshinweis in Postkartengröße in die Hände. Der erste Blick offenbart, dass das Papier mit Gender-Sonderzeichen übersät ist. Also ist kein weiterer Blick notwendig, die Karte wandert dahin, wohin sie gehört: in den Müll. Wer die deutsche Sprache nicht versteht und sie deshalb nicht achtet, kann nichts veranstalten, was jemanden interessieren könnte. Zudem ist die Gefahr, in eine Aufführung zu geraten, in der womöglich auch noch auf der Bühne gegendert wird, viel zu groß, als dass man sich ihr aussetzen möchte. So schreckt man Besucher ab. Meint nachgewiesen immerhin die Mehrheit der deutschen Bevölkerung.

Für Choreografin Bibiana Jiménez ist das fatal. Denn sie will mit ihrer Rückkehr auf die Live-Bühne eines ihrer stärksten Stücke überhaupt präsentieren. Die Uraufführung am Vorabend ist nach Veranstalterangaben „ausverkauft“. Was bei 50 Sitzen kein Kunststück ist, wenn erst mal Familienangehörige, Freunde und Kollegen Platz genommen haben. Schon am zweiten Abend bleiben viele Sitze leer. Jiménez wäre beileibe nicht die erste große Künstlerin, die über die Maßnahmen ihrer Berater stürzt, aber gerade bei ihrer Entwicklung wäre es besonders bedauerlich.

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Das zeigt sie auch in Miss Gyné, ihrem neuesten Tanztheaterstück. Unter Misogynie versteht man im medizinischen und psychologischen Sinne den krankhaften Hass von Männern gegenüber Frauen, in bildungssprachlicher Hinsicht Frauenfeindlichkeit. Das Thema ist nicht ganz so neu, wie es klingt. Mit American Psycho gelang Bret Easton Ellis vor genau 30 Jahren der ebenso eindrucksvolle wie erschütternde Roman über den fiktiven 27-jährigen Wallstreet-Yuppie und Investmentbanker Patrick Bateman, der die Sinnleere seines Lebens mit ständig steigender Gewalt gegen Frauen zu füllen versucht und darüber den Unterschied zwischen Realität und Fantasie vergisst. In der Verfilmung, die 2000 erschien, zeigt Christian Bale als Patrick Bateman, dass alles noch viel schlimmer ist, als man es sich bei der Lektüre des Romans vorgestellt hat. Jiménez wählt formal einen anderen Ansatz, auch wenn ihre Bildästhetik schon in den ersten Minuten Erinnerungen an American Psycho wachruft. Grundlage ihrer Arbeit sind Äußerungen des Amokläufers Elliott Rodgers, der ein 141-seitiges Manifest mit dem Titel Meine verdrehte Welt. Die Geschichte des Elliott Rodger verfasste, ehe er als 22-Jähriger sechs Menschen tötete und dreizehn andere verletzte, bevor er sein eigenes Leben mit einem Kopfschuss beendete. Damit fügt sie ihrem Stück auch den Aspekt der Incels hinzu. Das sind junge Männer, die sich einer in den USA entstandenen Internet-Subkultur anschließen, in der sich heterosexuelle Männer versammeln, die einem unfreiwilligen Zölibat – auf Englisch involuntary celibate – frönen, der mit ungewollter sexueller oder auch gefühlsmäßiger Abstinenz und Misogynie einhergeht. Incels sind das Siegel auf dem Dokument, das der – amerikanischen? – Gesellschaft ihr Scheitern bescheinigt.

„Ich bin 22 Jahre alt und ich bin immer noch Jungfrau. Ich habe noch nicht einmal ein Mädchen geküsst. Ich habe zweieinhalb Jahre College hinter mir, mehr als das, und ich bin noch Jungfrau. Es ist sehr qualvoll gewesen. Das College ist die Zeit, in der jeder diese Dinge wie Sex und Vergnügen erlebt. Diese Jahre musste ich in Einsamkeit fristen. Das ist nicht fair. Ihr Mädchen habt euch nie emotional zu mir hingezogen gefühlt. Ich weiß nicht, warum ihr Mädchen euch nicht zu mir hingezogen fühlt, aber ich werde euch alle dafür bestrafen“, schreibt Rodgers exemplarisch.

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Wer von Jiménez erwartet, dass sie „zurückschlägt“, kennt ihre Arbeit nicht. Sehr ernsthaft setzt sie sich mit diesen jungen Männern auseinander, zeigt ihre inneren Kämpfe, vergebliche Annäherungsversuche, die Kraftmeierei, die zunehmende Verzweiflung, die die Männer auf ihre frühkindlichen Erfahrungen in Form von Spielzeugen zurückwirft, auf die sie letztlich ejakulieren. Rodgers ordnet sie einen Freund zu, den es tatsächlich gegeben hat. Er versuchte, den psychisch gestörten Studenten in ein gesundes Beziehungsumfeld einzubinden. Den beiden stellt sie eine Heroine gegenüber. Blond, strahlend, sportlich, erfolgreich und durchaus beziehungswillig. Aber Annäherungsversuche scheitern unerklärlich, ihre Benutzung als Objekt funktioniert nicht. Auch wenn sie Dominanz als letztes Mittel einsetzt, wird das von den jungen Männern bedient, ohne einen Erfolg zu erzielen. Wenn der Protagonist letztlich einen stacheligen Schutzschild um sich bindet, werden alle weiteren Versuche von ihm aus abgebrochen. Es gibt, so lernen wir, niemanden, der von außen eingreift, Hilfe bietet. Tatsächlich gab es im Internet eine Selbsthilfegruppe, die sich zu einer Hassplattform entwickelte und als Keimzelle der Incels gilt.

Die Choreografin, die auch für die Ausstattung verantwortlich zeichnet, bringt ein höchst komplexes Werk auf die Bühne im oberen Saal der Tanzfaktur. Und mit allem Wohlwollen gegenüber der Tanzfaktur und dem Koproduzenten Theater im Keller gehört dieses Stück eigentlich auf die große Bühne im Tanzhaus NRW. Aber von dort ist ja schon seit langer Zeit außer Gender-Ideologien nichts mehr zu hören. Also flutet Jiménez die Bühne in Köln mit raumfüllenden Projektionen von Jens Standke, der die verschiedenen Ebenen, die aus realen Spielszenen, Szenen aus Internetspielen und allerlei anderen Einfällen bestehen, entwickelt. Dieser Bilderflut, in der sich die Tänzer bewegen, kann sich niemand entziehen.

Und mit Hauke Martens und Angelo d’Aiello hat Jiménez zwei Tänzer gefunden, die sich grandios aus den Tiefen Freudscher Psychologie bis hin zur kraftmeiernden Position emporarbeiten, ehe sie in Selbstmitleid, -hass und -abschirmung versinken. Trotzdem ginge es nicht ohne Daniela Riebesam, die schon in Exxperiment begeisterte, hier aber noch mal ihre Leistung beachtlich steigert. Über das versteinerte Objekt in den Händen der Männer, der sportlichen Heroine des Zeitgeistes bis zur anmutigen Liebestänzerin zeigt sie das ganze Spektrum in Vollendung. Gratulation einer Tänzerin, die in den Händen ihrer Choreografin zu einem Höhenflug ansetzt und formvollendet landet.

Akustisch klug untermalt wird das Geschehen von Auszügen aus Rodgers Manifest, die ebenso von der Festplatte kommen wie eine wilde, aber gekonnte Mischung von Songs wie beispielsweise Assasin’s Breathe von Daniel Pemberton, Fackeln von den Einstürzenden Neubauten, dem Donaulied von Mickie Krause bis hin zum Heldenleben von Richard Strauß. Besser kann man die Besucher kaum in den Bann des Stücks saugen.

Nach einer Stunde wissen die Besucher ganz genau, welche körperliche Leistung die Tänzer vollbracht haben, weil sie selbst vollkommen verschwitzt sind. Aber wen interessiert das nach einem solchen Abend? Wenn es nur nach Qualität ginge, tourte die Choreografie von nun an durch ganz Deutschland, räumte sämtliche Preise ab und fände viele Diskussionsrunden. Denjenigen, die das Stück in Köln gesehen haben, wird es lange in Erinnerung bleiben. Zu Recht.

Michael S. Zerban