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MIDAS | HEIMAT
(Kristóf Szabó)
Besuch am
28. Oktober 2022
(Uraufführung)
Die so genannte Freie Szene wird ihr Holzkisten-Image nicht los. Was sicher zum Teil daran liegt, dass „freie Theatergruppen“ immer noch allzu oft mit Spielstätten vorliebnehmen, die für Besucher kaum mehr zumutbar scheinen. Bis heute wird ja jede Fabrik vor ihrem Abriss daraufhin untersucht, ob man sie nicht vielleicht noch bis zum Mauereinbruch von Theatern bespielen lassen kann. Ausnahmen wie das Forum Freies Theater in Düsseldorf gibt es noch viel zu wenige. Hier gibt es neuerdings echte Theaterbedingungen und ein Umfeld, das auch Bürger für angemessen halten, die das Stadttheater aufsuchen. Auch im Orangerie-Theater in Köln muss man sich erst mal an die Rahmenbedingungen gewöhnen, um Gefallen daran zu finden. Das lohnt sich, weil man hier auf ein Flair trifft, das man in einem Stadttheater eben nicht kennenlernt.
Warum aber sollte man sich auf die Andersartigkeit der Spielstätten einlassen? Die Antwort ist einfach. Weil das Publikum hier Produktionen findet, die in ihrer Qualität die Stadttheater längst weit hinter sich lassen. Das dürfte zumindest für die Besucher interessant sein, die wegen der Inhalte ins Theater gehen. Ein Beispiel für eine solche Produktion liefert zum wiederholten Mal das F.A.C.E. Ensemble ab. Hier fallen einem spontan mindestens drei Stadttheater ein, die auf dem Qualitätsniveau eher vor Neid erblassen sollten. Gerade deshalb sollte es längst zur Pflicht entsprechender Intendanten gehören, in der so genannten Freien Szene solche Produktionen zu finden, um sie auch ihrem Publikum zugänglich zu machen.
Foto © Mike Kleinen
Trüge ein Intendant Kristóf Szabó ein solches Ansinnen vor, ließe der sich wohl allenfalls auf ein Gastspiel ein. Schließlich hat der künstlerische Leiter des F.A.C.E. Ensembles sein Team mit höchster Sorgfalt zusammengestellt, um seinen Midas auf die Bühne zu bringen. Der sagenhafte König Midas entstammt der griechischen Mythologie und war ein Sinnbild der Habgier. Dass Habgier der große Bruder der Dummheit ist, ist kein Geheimnis. So erpresst der König von Dionysos einer Sage nach die Fähigkeit, dass sich alles, was er anfasse, in Gold verwandele. Das Problem eröffnet sich bereits beim nächsten Frühstücksbrötchen. Schon Dagobert Duck wusste, dass vom herzhaften Biss in Gold abzuraten ist. Und ehe man sich versieht, landet man bei Szabós Version des Midas in der Gegenwart. Der hat ein großes Imperium aufgebaut, verfügt über unermesslichen Reichtum, verpasst darüber aber leider die Menschlichkeit und das natürliche Umfeld. Seine Frau leidet unter Liebesentzug, die beiden Kinder können nicht verstehen, dass der Papa das Massensterben von Mensch, Tier und Natur ignoriert und setzen sich zur Wehr. Midas hingegen träumt längst davon, dass der Mensch sich entmaterialisiert und damit dem ewigen Leben die Tür öffnet. Der König also als Retter der Menschheit, die nur noch als Bewusstsein existiert? Weil es anders nicht geht, weil Gold zu Verdauungsstörungen führt? Man darf vermuten, dass es in der heutigen Gesellschaft nicht wenige gibt, die davon ausgehen, durch ihren Reichtum in eine höhere Bewusstseinssphäre zu gelangen. Szabó zeichnet hier eine düstere Dystopie und spart nicht an kräftiger Brecht-Sprache. Und ja, man muss es mal so deutlich sagen, dass auch jeder es kapiert. Szabó langweilt sein Publikum nicht mit der Küchenideologie dieser Tage, sondern findet schöne Bilder wie: Merkst Du nicht, dass die Vögel sterben, weil ihr Gefieder vom Goldstaub so schwer geworden ist, dass sie nicht mehr fliegen können? Eingeflossen in seinen Text, den er ursprünglich auf Deutsch und Ungarisch geschrieben hat, ist neben einigen Songtexten – und das erklärt auch die immer wieder vorkommenden Anglizismen – die Strichfassung eines Textes von Roger Caillois, eines Soziologen, Literaturkritikers und Philosophen des 20. Jahrhunderts.
Der Inhalt ist relativ schnell erzählt, und so doppelt sich vieles. Das macht aber nichts, weil der theatrale Rahmen spannender als jeder Fernsehkrimi ist. Nach Szabós Entwurf hat Boshi Nawa eine opulente Bühne gebaut. Auf schwarzer Bühne finden sich ausgedorrte Bäume und eine Unmenge an kleinen, weißen Pappkartons. Beides soll sich eignen, das Licht von Simon Kwame einzufangen und die Videos von Ivó Kovács optimal zu präsentieren. Da werden die Pappkartons, die in den Bäumen hängenbleiben, eingefärbt, goldene Projektionen auf den Kartonflächen abgebildet, während sich auf Boden und Wänden im späteren Verlauf neuronale Netze in ständiger Bewegung wiederfinden. Keine zusätzliche Ebene wird hier geschaffen, sondern eher der passende Rahmen, um die inhaltliche Aussage zu unterstützen. Für die Kostüme hat Szabó Emese Kasza verpflichtet. Mindestens anderthalb Stunden lang darf das Publikum die Fantasie der Designerin bewundern. Man kann sich gar nicht sattsehen an den Schnitten und Einfällen, die Kasza hier zeigt.
Foto © Mike Kleinen
Großartig auch das Team, das Szabó für die Bühne zusammengestellt hat. Sicher ist, dass Maximilian von Mühlen das enorme Textvolumen, das ihm Midas abverlangt und das innerhalb einer Probenwoche eingepaukt werden musste, in den nächsten Aufführungen noch weiter verinnerlicht werden wird und ihn dann noch glänzender dastehen lässt. Seinen Schatten zeigt Jascha Caspar Bauer durchaus mit ein wenig Schalk im Nacken, immer aber hübsch devot. Juliana Wagner beweist mit Grandezza, dass Frau Lust zeigen und einfordern darf, egal, ob mit Kettchen-Büstenhalter und Sakko oder gleich ganz nackt. Dazu hilft es, die Würde einer Königin zu besitzen. Als Tänzerin, Sängerin und damit Tochter Néle zeigt sich Natalia Voskoboynikova jeder Situation souverän gewachsen. Jan Hoffmann darf sich als Prinz Creo gern um die Hälfte zurücknehmen. Dann wird er weniger hysterisch, aber dafür erheblich glaubwürdiger wirken. Dafür, dass er gerade erst seine Schauspielausbildung begonnen hat, zeigt er aber eine großartige Leistung. Theresia Erfort darf als Hermes ihre ätherische Ausstrahlung in Tanz und kleiner Schlüsselrolle zum vollkommenen Ausdruck bringen. In einer kleinen Rolle dient Iwan Zilli dem Geschehen. Fesselungskünstler Boshi Nawa greift auch in diesem Stück wieder zu seinen Stricken, arbeitet aber diesmal gegen die Zeit und verleiht seinem Auftritt damit mehr Dynamik.
Spätestens, wenn Wagner sich von der Leibwache der Königin einwickeln lässt, entwickelt sich auch die Musik rasanter in Richtung Untergang. Herausragend dabei die Musik von Salvatore Sciarrino und Sofia Gubaidulina. Als Bühnenmusiker greift József Iszlai zunächst zur akustischen, später zur elektrischen Gitarre. Tatsächlich lenkt das aber von seiner eigentlichen Leistung eher ab. Ist er es doch, der die Klangwelten des Stücks miteinander verbunden und komponiert hat. Wenn er nicht gerade für das F.A.C.E. Ensemble arbeitet, verdient er sein Geld als Komponist für Film und Theater, der sich intensiv mit der Beeinflussung von Menschen durch Klang auseinandersetzt.
Kristóf Szabó bleibt seiner Grundidee der Mischung von Theater, Tanz, Musik, Videokunst und einem exzellenten Ensemble treu, aber er entwickelt sich weiter. In Midas | Heimat erreicht die Intensität der Aufführung noch einmal eine neue Stufe. Statt des erhobenen Zeigefingers eines ideologisch geprägten Theaters bekommt der Zuschauer bei ihm Futter. Eine energetisch aufgeladene Nahrung, die das Hirn und die Sinne in Aufruhr versetzt und so dafür sorgt, dass die Bilder und Klänge lange haften bleiben. Und er macht ein wenig süchtig. Nicht nur einmal ist am Ende dieses Abends der Wunsch zu hören, das Stück noch einmal zu sehen. Die Möglichkeit dazu besteht. Sieben weitere Aufführungen stehen auf dem Spielplan.
Michael S. Zerban